Schicksale eines Romans

Neunzig Jahre nach seinem Erscheinen wurde Erich Kästners „Fabian“ erneut verfilmt und in einem Essay neu gedeutet

Von Günter RinkeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Günter Rinke

Habent sua fata libelli. Dass Bücher ihre Schicksale haben, ist ein viel gebrauchtes Sprichwort, das mehr Deutungsmöglichkeiten bietet, als es auf den ersten Blick scheinen mag. Der heute nur wenigen Spezialisten bekannte Schöpfer des Satzes, der römische Grammatiker Terentianus Maurus, setzte eine Bestimmung davor: Pro captu lectoris, also nach der Auffassung oder Auffassungsgabe des Lesers richten sich die Schicksale der Bücher. Terentianus meinte offenbar die Werke, nicht die konkreten Objekte aus Papier, Pappe, Leinen usw., die wir in die Hand nehmen und in Regale stellen können, obwohl auch zu diesen der Satz gut passt. Oft weisen antiquarische Bücher Spuren von dem auf, was ein Buch ‚erlebt‘ hat: Ex libris, Widmungen, vergessene Zettel, die auf längst vergangene Ereignisse verweisen, zuweilen Unterstreichungen, über die wir nicht erfreut sind, weil mit ihnen ein fremder Lektüremodus vorgegeben wird und wir doch unseren eigenen finden wollen.

Uns Moderne erinnert Terentianusʼ Satz an Jean-Paul Sartres Diktum, Lesen sei gelenktes Schaffen. Die Bücher, genauer: die Werke als Bedeutungseinheiten, entstehen erst beim Lesen und durch das Lesen, im „Akt des Lesens“, wie Wolfgang Iser gesagt hat. Die Lesenden sind zwar nicht frei in ihren Bedeutungszuschreibungen an einen Text, sie werden durch diesen auf vielfältige Weise „gelenkt“, aber sie machen eben doch etwas Individuelles, Eigenes und damit Neues daraus, etwas, was vorher nicht da war. Romane haben in unserer Zeit oft besondere Schicksale. Sie werden nicht nur gelesen, sondern mit Vorliebe adaptiert, entweder für den Film, für die Bühne, für das Hörspiel oder sie werden durch das Vorlesen in Hörbücher transformiert. Lektüremodi materialisieren sich in Medienprodukten, wobei intermediale Wechselwirkungen und Zusammenhänge, auch solche der Verwertung, entstehen können.

Offenbar leben wir in einer Zeit der Mehrfachverwertungen. Neue filmische Adaptionen wurden kurz nacheinander zu Erich Kästners Roman Fabian (Dominik Graf), zu Thomas Manns Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull (Detlev Buck) sowie zu Stefan Zweigs Schachnovelle (Philipp Stölzl) geboten. Zu allen gibt es Vorgängerproduktionen, von denen zwei bereits zu Filmklassikern geworden sind, nicht zuletzt wegen der erstklassigen Besetzungen: In der Schachnovelle von 1960 spielten Mario Adorf und Curd Jürgens die Hauptrollen, im Felix Krull von 1957 waren Horst Buchholz und Liselotte Pulver zu sehen.

Anders verhält es sich beim Fabian. An die Verfilmung von 1980 von Wolf Gremm mit Hans Peter Hallwachs in der Hauptrolle und mehreren weiteren namhaften Schauspielern (Hermann Lause, Charles Regnier, Ivan Desny, Brigitte Mira), erinnert sich offenbar niemand mehr, jedenfalls ist davon in den Feuilletons, in denen überwiegend begeistert über Grafs Neuverfilmung mit Tom Schilling als Protagonist berichtet und geurteilt wird, nicht die Rede. Ein Vergleich beider Filme ist aber durchaus aufschlussreich, spiegeln sie doch unterschiedliche Formen von Zeitgeist wider. Das Schicksal von Kästners bekanntestem Roman für Erwachsene nahm im Jahr 2021 unerwartete Wendungen.

Die ersten Schicksalsschläge erfuhr der Roman bereits in seiner Entstehungszeit. Kästner schrieb ihn 1930/31. Sein Lektor war zunächst begeistert, verlangte aber dann einige Umarbeitungen und Streichungen, die den Autor viel Mühe kosteten. Anstößige und etwas zu drastisch formulierte sexuelle Passagen musste er streichen oder sprachlich abmildern, neue Kapitel wurden hinzugefügt, Dialoge geglättet. Die Titelsuche erwies sich als schwierig – man einigte sich schließlich auf: Fabian. Die Geschichte eines Moralisten, und unter diesem Titel fand die überarbeitete Fassung des Romans sogar Eingang in den Schulunterricht der Nachkriegszeit. Nach der Machtübernahme durch Hitler war der ‚entschärfte‘ Fabian der Bücherverbrennung zum Opfer gefallen. Wolf Gremm drehte nach dieser Fassung seinen Film.

Die nicht bereinigte Urfassung wurde dann unter dem wohl von Kästner erdachten, aber vom Verlag abgelehnten Titel Der Gang vor die Hunde erst 2013 von Sven Hanuschek herausgegeben und kommentiert. Sie weicht allerdings nicht so sensationell vom Erstdruck ab, wie die Werbung es beim Erscheinen glauben machen wollte. Die größte Abweichung, das Kapitel, in dem der Verlagschef seinen Angestellten seine frische Blinddarmnarbe zeigt, war schon im Anhang der tradierten dtv-Ausgabe zu lesen. Auf die Urfassung, die Gremm nicht vorlag, stützt Dominik Graf, der zusammen mit Constantin Lieb auch das Drehbuch schrieb, seine seit dem 5. August 2021 in deutschen Kinos gezeigte Verfilmung. Die unappetitliche Blinddarm-Episode kommt bei ihm vor, dafür fehlen andere, für das Verständnis der Figur Fabian wichtigere Episoden, wie die vom verrückten Erfinder (bei Gremm: der großartige Charles Regnier), den Fabian beherbergt, bis er wieder in die Heilanstalt abgeholt wird.

Im Vorspann signalisiert Graf, dass er sich im Umgang mit dem Text erhebliche Freiheiten nehmen wird, indem er ankündigt, der Film sei „nach Motiven des Romans“ gedreht. Er nimmt also explizit auf den literarischen Text Bezug, intendiert aber keine Verfilmung, sondern eine angeleitete Umgestaltung. Damit dürfen wir keine Übersetzung des Romans in ein anderes Medium, keine Übertragung einer puren Sprachwelt in eine Welt aus Bild und Ton erwarten, sondern Bearbeitung, Veränderung und sogar Neuschöpfung. Bei Wolf Gremm heißt es dagegen „nach dem Roman von Erich Kästner“, er bleibt nicht nur näher an der literarischen Vorlage als Graf, er aktualisiert sie auch weniger.

Zunächst ist festzuhalten, was sich eigentlich von selbst verstehen sollte: Auch eine Romanverfilmung ist primär ein Film, der an sich selbst, d.h. an der angemessenen Verwendung der filmischen Mittel gemessen sein will. Man kann ihn sehen, ohne die literarische Vorlage zu kennen, und es ist zweierlei, ob man den Film allein als filmische Narration beurteilt oder danach, wie die literarische Vorlage ins Bild gesetzt wird. Manche Leute sind enttäuscht, weil sie sich die Figuren, Schauplätze usw. beim Lesen ganz anders vorgestellt haben, weil Handlungsstränge weggelassen oder hinzugefügt wurden, kurz: weil Regie und Drehbuch sich Freiheiten genommen haben, die ihnen gemäß ihrer eigenen Intention angebracht schienen. Aber über den Film sagt das nichts aus.

Dominik Graf ist ein Regisseur, der eine eigene Filmsprache mit hohem Wiederkennungswert entwickelt hat. Besonders charakteristisch für seine Filme sind kurze Einstellungen, schnelle Kameraschwenks und ebenso schnelle Zooms, eben eine temporeiche Inszenierung. Im ersten Teil der Fabian-Inszenierung bedient sich Graf ausgiebig dieser (und weiterer) filmischen Mittel, um das hektische Berlin der 1920er Jahre darzustellen. Hinzu kommen Authentizität suggerierende Einspielungen von Originalaufnahmen der Zeit (es gibt ja Filme wie Berlin – die Sinfonie der Großstadt von Walter Ruttmann). An einer Stelle greift Graf sogar zum Split Screen und forciert damit die Überwältigung des Zuschauers. Zu dieser trägt bei, dass manches, was Kästner und Gremm nur andeuten, auf die Spitze getrieben wird: die Erniedrigung der Darsteller im Nachtlokal, die Gewaltausübung an einer Prostituierten, die danach blutend zusammenbricht und „von einem Arzt im Drag-Queen-Outfit“ behandelt wird (so Carolin Ströbele, die das am 1. März in ihrer ZEIT-Rezension nach einer noch internen Film-Vorführung im Zusammenhang mit der Berlinale 2021 kritisch beurteilte).

Wie im Roman lässt sich Fabian durch die Nachtlokale treiben, wo es vor allem um das schnelle Geld und die Befriedigung der Lüste geht. Der Film kommt dann zur Ruhe, als die Liebesgeschichte von Fabian und Cornelia Battenberg erzählt wird. Nach der ersten Begegnung der beiden entwickelt sich inmitten der Großstadt eine Idylle, die (übrigens in beiden Filmen) adäquat in Szene gesetzt wird. Zufällig wohnen Fabian und Cornelia in derselben Wohnung zur Untermiete, die scheinbar und nur für kurze Zeit ein locus amoenus für sie ist. Bald kommt die Idylle aber an ein Ende, und der Film nimmt wieder Tempo auf, vor allem nach dem Suizid von Fabians Freund Labude.

Im Vergleich zu dieser Neuverfilmung wirkt Wolf Gremms Film unaufgeregt, fast möchte man ihn behäbig nennen. Mit Fabian, der stets einen Hut und einen offenen Trenchcoat trägt, spaziert die Kamera durch ein kulissenhaft wirkendes Berlin, lässt sich Zeit, ruht auf sorgfältig ausgewählten Interieurs, die mehr als die Außenaufnahmen für die Vermittlung eines Zeitbildes sorgen. Vor allem die einprägsame Filmmusik von Charles Kálmán vermittelt eine Stimmung der Lockerheit und Leichtfüßigkeit. Die roaring twenties mit Charleston und Dixieland, Tanzveranstaltungen, Kabarett und ein bisschen Untergangsstimmung waren offenbar die Leitvorstellungen bei der Produktion dieses Films. Dazu gibt es viel nackte Haut, die höchst unverklemmt zur Schau getragen wird – der Film, 1979 gedreht, ist auch damit ein Zeitdokument der 1970er Jahre.

Das nahende NS-Unheil wird nicht ausgespart – Fabians Kollege hat schon einen Hitler-Scheitel, die Schießerei zwischen einem Nazi und einem Kommunisten, die auch im Roman vorkommt, wird gezeigt, die Heimatzeitung, bei der Fabian anheuern könnte, ist bereits auf stramm rechtem Kurs. Aber der Umgang mit diesen Vorzeichen des Unheils ist eher spielerisch, nicht anders als im Roman. Fabian bringt die Frisur des Kollegen mit den spöttischen Worten „Na, auch schon völkisch?“ durcheinander; der Nazi wird bei der Schießerei in den Hintern getroffen und damit lächerlich gemacht, und der Chefredakteur der Heimatzeitung, der aussieht wie eine Hitler-Karikatur, offenbart seine Unbildung.

Solch ironisch-distanzierter Umgang mit der dunklen Vergangenheit ist uns heute offenbar fremd. Vor allem versucht Graf in seinem Film zu zeigen, dass uns diese Vergangenheit näher ist, als wir glauben möchten. In der ersten Sequenz, die die Filmkritik begeistert hat, fährt die Kamera durch eine heutige Berliner U-Bahn-Station, steigt die Treppe hinauf und kommt im Jahr 1931 an. Dort ist der Weltkrieg noch gegenwärtig. Ein Kriegskrüppel mit entstelltem Gesicht redet auf Fabian ein. Dass er nicht nur einmal gezeigt wird, verweist auf einen Verdrängungstatbestand der Jahre nach dem Ersten Weltkrieg: Man wollte von den Verstümmelten nichts wissen, man sperrte sie weg, machte sie unsichtbar. Verdrängen wir auf ähnliche Weise die historisch ferner rückende NS-Zeit? Es gibt gute Gründe, das zu bezweifeln, könnte aber eine der Thesen des Films sein. In einer Einstellung, die besonderes Aufsehen erregt hat, fällt der Kamerablick, der sonst das Jahr 1931 zeigen will, auf einige Stolpersteine aus dem modernen Berlin. Immerhin gibt es sie. Aber sehen wir auch hin?, lautet die implizite Frage.

Fast schon aufdringlich ist die Didaktisierung des Stoffs. Dass SA-Leute in den Straßen herumlaufen, gehört zur Milieuschilderung, daran ist nichts auszusetzen. Aber dass Labudes Professor seinem mickrigen Assistenten, der durch einen angeblichen Scherz Labudes Selbstmord verursacht hat, eine halbe Entschuldigung hinterherschickt und einige Korpsstudenten ihm sogar Beifall klatschen, ist stark aufgetragen. Labude war ein linksliberaler Weltverbesserer. Sein Leben, so unterstellt der Film, wurde nicht nur durch die Eifersucht eines mittelmäßigen Konkurrenten zerstört, sondern auch deswegen, weil seine Haltung dem rechten Zeitgeist widersprach. Der Professor, der hilflos ausruft, es müsse doch die Ordnung wiederhergestellt werden, wird ein typischer Mitläufer werden, wenn es soweit ist. Nichts davon bei Kästner, dessen Buch wir am Ende des Films in Flammen aufgehen sehen.

Die bedeutendste Eigenwilligkeit des Films ist die Veränderung der Liebesgeschichte zwischen Fabian und Cornelia Battenberg (eindrucksvoll gespielt von Saskia Rosendahl). Im Roman endet diese Liebe unwiderruflich, als Cornelia einen Regisseur kennenlernt, der ihr eine Karriere beim Film ermöglicht. „Was soll bloß aus mir werden?“, fragt Cornelia dort, und Fabian antwortet lapidar: „Eine unglückliche Frau, der es gut geht.“ Und er fährt fort: „Hier wird getauscht. Wer haben will, muss hingeben, was ist.“ Der Abschied wird nicht ohne Gefühle vollzogen, aber Fabian bleibt am Ende sachlich: „Vor allem nimm dich zusammen. Das Rezept ist alt, aber brauchbar.“ Die Nacht davor hat er mit einer verheirateten Frau verbracht, die er auf einem Rummelplatz kennengelernt hat. Zurückgekehrt in seine Heimatstadt, geht er mit einem ehemaligen Schulfreund erst ausgiebig zechen, dann in ein Bordell, was Wolf Gremm zeigt, Graf aber weglässt.

Stattdessen begibt sich Fabian bei Graf nach Babelsberg und hört insgeheim zu, wie Cornelia beim Vorsprechen eine selbstgeschriebene Liebeserklärung an ihn vorträgt. Danach stolpert er verloren und desorientiert durch leere Filmkulissen, was der Filmkritiker Andreas Kilb Anfang August in der F.A.Z. so kommentiert: „So inszeniert der Film seine eigene Angst vor der Kulissenhaftigkeit, dem Ersticken im Dekor, das jede Literaturverfilmung bedroht.“ Ist es nur das, oder inszeniert er auch die Verzweiflung des Protagonisten, der in diesem Moment entweder seinen inneren Kompass oder seine Radarantenne verloren hat?

Jedenfalls ist es folgerichtig, dass dieser nach seinem Orientierungsverlust Berlin den Rücken kehrt und in die kleinere Stadt seiner Herkunft und damit in sein Elternhaus zurückkehrt. Dort aber hängt, anders als im Roman, bald der Haussegen schief, weil Fabian auf einen Anruf Cornelias wartet und ständig das Telefon blockiert. Nach dem ersehnten Telefonat macht er sich auf den Weg zurück nach Berlin, um Cornelia zu treffen, ertrinkt aber unterwegs (wie im Roman und in der ersten Verfilmung), weil er einen Jungen aus dem Wasser retten will, obwohl er nicht schwimmen kann.

Man fragt sich, was mit dieser Fortsetzung der Liebesgeschichte, die bei Kästner unwiderruflich endet, bewirkt werden soll. Mit ihr wird keine neue Lesart des Romans angeboten, wie es viele filmische Adaptionen tun, sondern die Geschichte wird einschneidend verändert. Der Kritiker Kilb kommentiert: „Die Liebe gibt Graf auch die Gelegenheit, den Panzer von Fabians Coolness zu zerbrechen. Doch bei Kästner bleibt der Panzer intakt, der Held lässt die Geliebte ziehen […]“.

Eine Antwort auf die Intention, die hinter der Veränderung stehen könnte, gibt Florian Illies in einem Essay in der ZEIT (28.10.21). Wie in seinem neuen Buch Liebe in Zeiten des Hasses bezieht er sich darin auf Helmut Lethens bereits klassische Studie Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen (1994), deren Kernaussage Illies im Sinne gängiger Topoi unserer Gegenwart (um)deutet.

Seine erste Hauptthese lautet, bezogen auf Grafs Fabian-Film: „Die Parallele zum Jetzt dringt aus jeder Minute dieses Films, in der Sprache und in den Bildern.“ Obwohl historisch fragwürdig, ist es Mode geworden, Ähnlichkeiten zwischen der Weimarer Republik und heute zu behaupten, insbesondere mit dem Hinweis auf (unstrittig stattfindende) „Hass und Hetze“ von politisch rechts stehenden Kräften. Signifikante Unterschiede, u.a. in den Bereichen Justiz, Verfassung, Wirtschaft, Parteiensystem, Medien, Mentalitäten („antidemokratisches Denken“, siehe Kurt Sontheimer), werden dabei eingeebnet. Es ist in diesem Zusammenhang bemerkenswert, dass Kästner 1964 eine aktualisierende Verfilmung seines Romans ablehnte; es gehe darin um eine „ganz bestimmte Krise, deren Ablauf uns bekannt ist“, um eine „spezifisch kritische Zeit […]: die große Arbeitslosigkeit mit ihren privaten und sozialpolitischen Begleiterscheinungen und Folgen“.

Illies‘ zweite Hauptthese verbirgt sich in der Überschrift seines Essays: „Wo bleibt die Liebe, wenn der Hass kommt?“ Im neusachlichen Habitus der Kälte, den Lethen ausführlich beschrieben hat, ist für Illies offenbar der Hass angelegt, der sich heute (nicht nur) nach seiner Wahrnehmung wieder ausbreitet und dem die Liebe entgegensetzt werden müsse. Das sei die Aussage des Films, die Illies vor allem dem jungen Drehbuchschreiber Constantin Lieb zuschreibt. Es mag sein, dass er damit die Intention der Filmemacher richtig erfasst hat. Der Film wäre dann nicht eine Deutung, sondern eine Umdeutung des Romans, abgesichert durch das alle Freiheiten gewährende „nach Motiven von“. Jeder kann sich nun sein eigenes Urteil darüber bilden, ob diese Aktualisierung ihn überzeugt.

Allerdings wäre eine Zustimmung mit der Begründung, der Kältekult der „sogenannten Zwanziger Jahre“ (wie der Titel eines 1970 erschienenen und bis heute lesenswerten Sammelbandes von Reinhold Grimm und Jost Hermand formulierte) habe schließlich in die Katastrophe geführt, zu schlicht und zu oberflächlich. Lethen begründet nämlich die Neigung mancher Großstadtmenschen zur Panzerung des Ichs nicht nur mit deren Verunsicherung durch den Werteverlust infolge des Weltkriegs und der Auflösung der alten Ordnung inklusive Inflation und Arbeitslosigkeit. Vielmehr diagnostiziert er eine Zeitenwende von einer „Schuldkultur“ zu einer „Schamkultur“. Während in jener der „innengeleitete Mensch“ sich an einem „inneren Kreiselkompass“, d.h. an festen Moralvorstellungen, habe orientieren können, überlebe in letzterer der außengeleitete „Radartyp“ am besten. Auf der Suche nach seinem Weg in der Gesellschaft kommt es ihm vor allem darauf an, „Beschämung“ zu vermeiden, indem er seine Antenne ausfährt, die Mitmenschen beobachtet und sich an Verhaltenslehren orientiert.

Was diese angeht, blickt Lethen u.a. zurück auf das höfische Brevier Handorakel und Kunst der Weltklugheit (1647/53) des spanischen Schriftstellers Baltasar Gracián und damit auf die jahrtausendealte europäische Tradition der Moralistik (nicht zu verwechseln mit Morallehre). Lethen zeigt, dass Verhaltenslehren schon am absolutistischen Hof überlebenswichtig waren. Das Menschenbild der Moralistiker war skeptisch bis pessimistisch. Ein neuerer prominenter Vertreter dieser Denkrichtung war Arthur Schopenhauer, dem Kästner, wohl nicht zufällig, eine Episode in seinem Roman widmet: In einem Kaufhaus blättert Fabian in Schopenhauers Aphorismen zur Lebensweisheit und ist fasziniert vom dort beschriebenen Typenpaar ‚eukolos‘ und ‚diskolos‘. Für den einen ist das Glas halbvoll, wenn es für den anderen halbleer ist. Fabian identifiziert sich am ehesten mit dem ‚diskolos‘, der alles grau oder schwarz sieht, hilft aber danach einem Mädchen aus der Klemme, das zum Geburtstag seines Vaters einen Aschenbecher gestohlen hat.

Die Frage, was für ein Mensch Fabian ist, lässt sich nicht leicht beantworten. Ist er ein Radartyp wie die anderen, mit denen er durch die Nachtlokale zieht, oder ist er wirklich ein Moralist, wie es der Titel verheißt? Seine guten Taten – Hilfe für das Mädchen im Kaufhaus, Unterbringung eines genialischen, aber obdachlosen Erfinders, Rettungsversuch des Jungen im Fluss – sind keine Anzeichen für eine moralische Grundeinstellung. Vielmehr folgt er dabei jeweils einem spontanen Impuls. Lethen sieht in Fabian tatsächlich einen Moralisten auf verlorenem Posten, der „probehalber einige Attitüden des Radartyps“ simuliert, jedoch damit scheitert, weil ihm dazu sowohl das Talent als auch das Geld fehlen. Haben Graf und Lieb also doch recht, wenn sie Fabian „den Panzer“ abnehmen?

In diesem Zusammenhang muss noch Lethens Bezugnahme auf Helmut Plessners Schrift Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Radikalismus (1924) erwähnt werden. Plessners Skepsis gilt weniger einer abgekühlten Sozialität, die er positiv als distanzierten, zivilen Umgang miteinander auffasst, als vielmehr einer Suche nach Wärme in Gemeinschaft, die mit einem Authentizitäts- und Gefühlskult verbunden ist. Der Mensch sei von Natur aus künstlich, lautet Plessners anthropologische Grundaussage, dem entsprechend verhalte er sich am ehesten seiner Natur gemäß, wenn er seine Sozialbeziehungen (abgesehen vom Binnenraum der Familie) taktvoll, zivil und in kühler Distanz reguliert. Mit „Hass und Hetze“ hat das, wie Illies und vielleicht auch Graf und Lieb meinen, nichts zu tun. Es waren ja die „Radartypen“ und diejenigen, die sie künstlerisch darstellten, die von den Nationalsozialisten (z.B. als „Asphaltliteraten“) geächtet wurden.

Viel eher als auf Lethen könnte sich Illies auf Klaus Theweleits Männerphantasien (1977) berufen. Darin werden aus psychoanalytischer Sicht die Abwehrmechanismen, mit denen der „soldatische Mann“ jener Zeit auf seine Ängste vor Frauen, Fremden, Juden usw. reagierte, beschrieben. Die beiden materialreichen Bände fördern erstaunliche Ansichten – im wörtlichen und übertragenen Sinn – zu Tage, die an dieser Stelle nicht beschrieben werden können. Die Binnenwärme der Volksgemeinschaft kann nur bewahrt werden, wenn sie nach außen durch gepanzerte Formationen abgeschirmt und geschützt wird. U.a. aus den Freikorps- und sonstigen Verbänden der Weimarer Jahre konnten später SA, SS, sogenannte Einsatzgruppen und andere Hilfstruppen des Regimes rekrutiert werden. Aber diese teils homoerotisch grundierten Männerbünde meint Illies offenbar nicht, wenn er über den „Kältekult“ klagt.

Dass der als Typus ambivalente Fabian dieser Klasse von Männern nicht angehört, versteht sich von selbst. Es ist eine Frage der persönlichen Lesart des Romans („pro captu lectoris“), ob man ihn als (innengeleiteten) Moralisten oder als (außengeleiteten) Radartyp auffasst. Die von Graf und Lieb erzählte Liebesgeschichte ist jedenfalls mit Kästners Roman kaum kompatibel. Zu ihr passt aber Tom Schilling als doch eher verletzlich, wenig robust wirkender Darsteller, der zwar seine Jungenhaftigkeit im Vergleich zu seiner Hauptrolle im Kinoerfolg Oh Boy (2012) schon ein Stück weit abgelegt hat, der aber immer noch nicht wie ein Mann wirkt, der nach überstandener Fronterfahrung in der Großstadt vor allem eines gelernt hat: dass das Leben, also auch die Liebe, ein Tauschgeschäft ist, bei dem man ständig auf der Hut sein muss, nicht übers Ohr gehauen zu werden.

Eher verkörpert Hans Peter Hallwachs einen solchen Mann. Er tritt meist als Beobachter auf, der sich selten anmerken lässt, was in ihm vorgeht, der aber das Treiben seiner Mitmenschen gern sarkastisch kommentiert. Manchmal, vor allem wenn er sich Frauen nähert, verwandelt er sich in einen bereits etwas in die Jahre gekommenen Filou, der sein Gesicht zu einem Grinsen verzieht und dabei in schiefe Falten legt. Vor allem in solchen Momenten möchte man ihn, so wie Arthur Schnitzler seinen Anatol, einen „leichtsinnigen Melancholiker“ nennen, aber das fin de siècle ist weit, und aus dem Spiel mit Ich-Entwürfen, verwehten Erinnerungen und Illusionen ist Anfang der 1930er Jahre eine Haltung zwischen Abgeklärtheit und Verzweiflung angesichts unbewältigter Kriegstraumata, Wirtschaftskrise und zunehmender Gewalt auf der Straße geworden.

Warum lässt Graf seinen Protagonisten fast den ganzen Film über filterlose Zigaretten rauchen, ein Attribut, das Hallwachs nicht gebraucht hat? Soll Fabian damit seine Lässigkeit demonstrieren, oder polstert er sich gegenüber dem Schrecklichen in der Welt ab, wie es in Dürrenmatts Parabel Der Tunnel der junge Mann mit seiner Ormond Brasil-Zigarre tut? Oder soll er gar Erinnerungen wecken an den ebenfalls unablässig rauchenden Michel Piccoli in vom Existentialismus beeinflussten französischen Filmen der 1960er Jahre? Allerdings spielte Piccoli, was Virilität angeht, in einer anderen Liga als Schilling.

Bezeichnend ist, dass Graf und Lieb eine echte Dreiecksgeschichte erzählen, indem sie Fabians Rivalen, den Regisseur, gespielt von Aljoscha Stadelmann, auftreten und damit plastisch werden lassen. Zwar kann der behäbige Mann, was Attraktivität und Sympathiewerte angeht, mit Fabian nicht mithalten, aber durch sein weltmännisches Gehabe, sein charmantes Werben um Cornelia, seinen ihm dienstbaren Mitarbeiterstab erhält er doch einen gewissen Glanz. Dennoch: Wenn es um die Liebe geht, muss er gegen Fabian verlieren. Kästner brauchte diese Figur nicht, denn wichtig war für ihn allein ihre Funktion: Der Regisseur konnte, bei entsprechender Gegenleistung, Aussichten auf eine Karriere und Geld eröffnen. Nach allem, was bisher gesagt wurde, überrascht es nicht, dass auch Wolf Gremm ihn nicht auftreten lässt.

Fazit: Das Herauspräparieren und Fortschreiben einer individuellen, die Anfechtung überdauernden Liebesgeschichte aus Kästners Erzählkomplex ist ein großer Schritt weg vom Roman, aus dem sonst sowohl durch eine Erzählerstimme als auch in Dialogen ausgiebig zitiert wird. Offenbar ist es nicht mehr zeitgemäß, eine Visualisierung von Literatur als eine Art „Übersetzungsarbeit“ zu verstehen, wie es einst der Drehbuchautor und Regisseur Leopold Ahlsen ausdrückte. Es bleibt aber problematisch, ein literarisches Werk nur als Steinbruch für etwas ganz anderes, ‚Modernes‘, was oft auch heißt: Schrilles zu nutzen, statt im Film mit Respekt vor dem Werk eine neue Lesart zu gestalten.

Problematisch ist es des Weiteren, aus dem älteren Stoff fragwürdige Rückschlüsse auf den Zustand der damaligen Gesellschaft zu ziehen und diese umstandslos auf heute zu übertragen. Helmut Lethens Analysen zum „Habitus der Sachlichkeit“ sind weitaus komplexer, als Illies mit seinem Titel Liebe in Zeiten des Hasses suggeriert. Mit einem gewissen Recht beruft sich Illies auf den Film Der Gang vor die Hunde. Allerdings könnten sich Regisseur und Drehbuchschreiber gegen die Vereinnahmung ihrer Produktion durch Illies wehren. Auf die Argumente wäre man gespannt. Ebenso wie Bücher haben auch Filme ihre Schicksale. Manchmal werden sie auch vergessen – wie anscheinend der von Wolf Gremm.

Fabian oder Der Gang vor die Hunde
Frei nach dem gleichnamigen Roman von Erich Kästner
Regie: Dominik Graf
Drehbuch: Dominik Graf, Constantin Lieb
Kamera: Hanno Lentz
Mit Tom Schilling, Saskia Rosendahl, Albert Schuch, Meret Becker, Aljoscha Stadelmann, Anne Bennent u.a.
Produktion: Lupa Film, Arte, ZDF u.a..
Verleih: DCM
Länge: 174 Minuten
Seit 5. August 2021 in deutschen Kinos

Trailer bei YouTube: https://youtu.be/3FPr5aQTXtc