Erinnerung ohne „Ich“?

„Die Jahre“ von Annie Ernaux zeigen auf wunderbare Weise, wie wandelbar die zeitgenössische Autobiographie sein kann

Von Carina BergRSS-Newsfeed neuer Artikel von Carina Berg

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Alle Bilder werden verschwinden.“ Mit dieser Einsicht beginnt Annie Ernaux‘ unpersönliche Autobiographie Die Jahre, die bereits 2008 in Frankreich erschienen ist. Dem Verschwinden der Bilder, das die Erzählstimme aus dem Off prophezeit, wird eine Kaskade von zusammenhangslosen Erinnerungsschnipseln und Momentaufnahmen entgegengesetzt. Persönliche Erinnerungen, Werbeslogans, Bruchstücke aus Büchern und Filmen, Redewendungen, Wissensbrocken aus Schul- und Studienzeiten – die Aneinanderreihung dieser scheinbar heterogenen Elemente bildet eine Art Prolog für Ernaux‘ unkonventionellen Erinnerungstext und zeichnet ihre Methode im Kleinen vor. Denn diese Autobiographie, die völlig auf die für sie charakteristische Instanz einer Ich-Erzählerin verzichtet, gelingt etwas Beeindruckendes: Sie verbindet eine individuelle Perspektive mit einem soziologisch-historischen Weitblick ohne dabei einer narzisstischen Selbstbespiegelung zu erliegen oder zum drögen Geschichtsbuch zu werden.

Annie Ernaux‘ Die Jahre kann man als literaturgewordene Soziologie verstehen. Die unpersönliche Erzählstimme, die man hier wohl entgegen aller literaturwissenschaftlicher Vorsicht mit der Autorin gleichsetzen darf, verfolgt ihren eigenen Werdegang im Kontext der Familie, den verschiedenen sozialen Milieus, durch die sie sich hindurchbewegt und situiert einzelne Ereignisse stets in einem historisch-politischen Kontext. Der Einfluss von Bourdieu ist offensichtlich, agiert die Erzählstimme doch als eine Soziographin ihrer selbst und dokumentiert Alltagsgeschichte, Familienrituale und gesellschaftliche Prozesse wie Bildungsaufstieg und sexuelle Emanzipation. In diesem Sinne ist Ernaux‘ Text gewissermaßen Theorie ohne Theorie und führt vor, was Didier Eribon zuletzt in seinem soziologischen Erinnerungsbuch Rückkehr nach Reims auf halb wissenschaftliche, halb essayistische Weise unternommen hat: Die Ergründung und Kontextualisierung des Ichs in seinen sozialen und geschichtlichen Strukturen. So ist es eigentlich auch unangemessen, von Die Jahre als einer Autobiographie zu sprechen, weil eben nicht allein das erzählte Ich im Mittelpunkt steht, sondern es immer als Teil einer Gesellschaft und Epoche begriffen wird.

Dabei sind Die Jahre bei Weitem kein Text, der sich ausschließlich an ein französisches Publikum und Frankreich-Kenner richtet, ist doch die eingenommene Perspektive durch ihre erzählerische Distanzierung und das große Interesse an politischen und kulturellen Ereignissen und Umbrüchen der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts eine solche, die man als europäische Nachbarn über weite Strecken miteinander teilt. Die Lebensgeschichte Ernaux‘, also die Geschichte, die in der dritten Person Singular erzählt wird, ist eine Geschichte des sozialen Aufstiegs, von Emanzipation und Selbstbestimmung, deren Bedingungen im Text stets reflektiert werden; Anklänge an Virginia Woolf lassen sich nicht nur im Titel finden. Ein weiteres Interesse von Ernaux‘ Erinnerungsbuch ist das Phänomen der Medialität, ihrer Entwicklung und Folgen. En passant schreiben Die Jahre auch eine selbstreflexive Mediengeschichte des 20. und frühen 21. Jahrhunderts. So strukturieren die nicht gezeigten, bloß sprachlich evozierten Fotografien und Filmsequenzen aus dem Privatarchiv Ernaux‘ das Erzählte und werden gerade durch ihre Abwesenheit in ihrer Erinnerungsfunktion besonders greifbar. Der mediale Wandel – sei es der Wechsel vom Schwarzweiß- zum Farbbild, von der Fotografie zum Bewegtbild, vom Radio zum Fernsehen, oder zum Internet – wird als essentieller Teil sowohl des privaten als auch des öffentlichen Lebens begriffen.

Konsequenterweise reflektiert Die Jahre auch seine eigene Medialität und stellt das Erzählen, die Macht der Sprache und der Literatur in den Vordergrund. Die Sprache ist hier das Werkzeug der Autorin, nicht nur um Erinnerungen zu kommunizieren, sondern auch um ihren prekären Status einfangen und beschrieben zu können. Um offenzulegen, wie ein Individuum, wie eine Gesellschaft erinnert, und auch um – und hier klingt wohl der Einfluss der späten 60er Jahre an – ein wenig Revolte zu betreiben. Revolte beispielsweise gegen patriarchale Strukturen, von denen man sich mühsam befreit hat (und wohl immer noch befreit) und auch eine Revolte gegen das Schreiben selbst, gegen traditionelle Praktiken und festgefahrene literarische Erinnerungsmuster. Auch wenn die Autorin ihren Schreibstil selbst als eine „écriture plate“, also eine flache, platte und einfache Art zu schreiben, charakterisiert, ist das keineswegs gleichbedeutend mit ‚unliterarisch‘, zumal Ernaux mit ihrer Aussage auch sehr tiefstapelt. Annie Ernaux‘ unpersönliche Autobiographie beweist vor allem eines: die literarische Autobiographie ist eine äußerst dehnbare und lebendige Gattung, allen Unkenrufen zum Trotz. Sie muss nicht zwingendermaßen apologetisch, narzisstisch oder skandalös sein. Sie kann, wie Die Jahre deutlich machen, auch konstruktiv im besten Sinne des Wortes sein, indem sie den Dialog mit sich selbst, ihren vergangenen oder abgelegten Versionen sucht und ganz nebenbei große Geschichte schreiben.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Annie Ernaux: Die Jahre.
Übersetzt aus dem Französischen von Sonja Finck.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2017.
256 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783518225028

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