Ein Buch der Scham

In „Erinnerung eines Mädchens“ vollendet Annie Ernaux ihr autobiografisches Projekt

Von Beat MazenauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Beat Mazenauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit ihrer autobiografischen Prosa Die Jahre, die 2008 auf Französisch und 2017 in deutscher Übersetzung erschienen ist, hat Annie Ernaux einen Nerv getroffen. Eine Frau unternimmt den Versuch, nicht nur „die Erzählung ihres Lebens“ festzuhalten, sondern sie aus ihrer Epoche heraus zu verstehen. Sie will „in einem individuellen Gedächtnis das Gedächtnis des kollektiven Gedächtnisses finden und so die Geschichte mit Leben füllen“. Dementsprechend verzichtet die Autorin bei ihrem Unternehmen darauf, „ich“ zu schreiben. Im Bewusstsein der unsicheren Erinnerung ebenso wie der grundlegenden Abhängigkeit von eigenem und kollektivem Erleben nimmt sie Distanz und zieht sich auf die Position einer teilnehmenden Betrachterin zurück. Sie spricht von „man“ und „wir“ und von „sie“, dem Mädchen von damals. „Die Frau, die auf den Fotos immer eine andere ist, spiegelt sich im sie der Erzählung.“ Auf diese Weise gelingt es Ernaux auf wunderbare, sachlich präzise Weise, der eigenen Geschichte nahe zu kommen. Das individuelle Erleben wird mit dem Binokular der „Merkmale der Epoche“ sowie der „eigenen Gedächtnisbilder“ im Heute aufgehoben.

Auf den wenigen Seiten, die dem Sommer 1958 gewidmet sind, verrät Die Jahre allerdings ein verschleiertes Oszillieren zwischen Nähe und Distanz. Ernaux berichtet, wie das Mädchen nach seinem Abitur ins Leben entlassen wird. Vielsagende Worte wie „Scham“ und „Anstand“ bündeln sich hier, ein Hinweis auf eine Essstörung bleibt eher vage, dafür leuchtet kraftvoll der Satz heraus: „Sie fühlt sich sehr allein.“ Zwei literarische Vorbilder schließen die Erzählung dieses Jahres ab: Simone de Beauvoir und Rosamond Lehmann.

Ernaux selbst bestätigt diese Ahnung, dass hier ein Kapitel unvollendet blieb. Im Buch Erinnerung eines Mädchens, das sie acht Jahre später geschrieben hat, blickt die Autorin nochmals auf jenes Jahr 1958 zurück. Sie selbst konnte das Mädchen Annie D., das den Sommer als Helferin in einer Ferienkolonie verbrachte, nicht vergessen, auch wenn sie es gewollt hätte. Das zweite Buch: „Das ist der fehlende Text. Immer aufgeschoben. Die unbeschreibliche Leerstelle.“

Der Titel Erinnerung eines Mädchens (im Original Mémoire de fille) lässt aufhorchen. Nicht die ältere Frau erinnert sich, es ist vielmehr das Mädchen in ihr, das sich in Erinnerung ruft. Ein Motto gleich eingangs, aus einem Text der erwähnten Rosamond Lehmann, signalisiert, weshalb sie diese Leerstelle noch einmal in Blick nehmen muss: „Die Scham über ihre Hingabe, ihren Brief, ihre unerwiderte Liebe würde sie immer quälen, würde immer brennen, bis an ihr Lebensende.“

Vergleichbar ihrem Verfahren in Die Jahre nähert sich Ernaux dem Sommer 1958, allerdings nicht um die zwei, drei Monate in die Breite zu entfalten, sondern um sie in die Tiefe auszuloten. Auch wenn es von den fraglichen Ereignissen keine Fotografie gebe, fördert die Autorin nach und nach doch genügend Erinnerungen und epochale Merkmale zutage, um eindrücklich von einer intimen Demütigung und vom Widerstand dagegen zu erzählen. „Das Mädchen auf dem Foto bin nicht ich, aber sie ist keine Fiktion“, notiert Ernaux über die Ausweisfotografie, die auch das Cover ziert.

Es ist ein behutsames, inständiges Herantasten an ein Erlebnis, das Annie D. damals einsam gemacht hat. Eine Peinlichkeit vielleicht, die jedoch bloß im Kontext jener 1950er Jahre und jener jugendlichen Sehnsucht zu verstehen ist. Erinnerung eines Mädchens arbeitet die Einsamkeit und die Demütigung heraus, die all die Jahre insgeheim überdauert hat, um erst  mit diesem Buch gebannt und aufgehoben zu werden. Sie erzählt von einem Mädchen, das sich für seine Herkunft aus dem Krämermilieu schämt, sich aber durchaus zu Höherem berufen fühlt; das sich verliebt und dafür ausgelacht wird. Im Kurzabriss liest sich das leicht, gravierend sind indes die emotionalen Verwerfungen, die sich Ernaux Schritt für Schritt wieder ins Gedächtnis zurückruft. Nebst ihrer Erinnerung nimmt sie Tagebuchauszüge, Fotografien, Lieder, Filme, Lektüren und Witze zu Hilfe – allesamt aussagekräftige Zeugnisse für eine Epoche und zugleich für das Heranwachsen von Annie D.

Die vergebliche, demütigende Zuneigung führt zu Beleidigungen: „die kleine Nutte“ wird das Mädchen genannt. Doch Scham? Ernaux schreibt: „Ich sehe in dieser Phase ihres Lebens nichts, was man Scham nennen könnte.“ Das Mädchen fügt sich nur ein in den Reigen all der Frauen, die umringt werden, damit man Steine auf sie werfe. Eine solche Einsicht aber beruft sich bereits auf die Lektüre von Simone de Beauvoirs Das andere Geschlecht

Im Wechsel von historischer Erinnerung und gegenwärtigem Erinnern fördert Ernaux 50 Jahre später diesen Sommer und die nachfolgenden zwei bedeutsamen Jahre aus dem Schacht des Vergessens herauf, um in ihrem Text unvermittelt ihr Ich wiederzufinden: „Ich kann sagen: sie ist ich, ich bin sie.“ Auch wenn, wie sie wenig später eingesteht, nie mehr die sein wolle, die sie damals, 1958, gewesen sei. Das Erinnern ist eine Form der Erkenntnis, ebenso das Schreiben. Ernaux zitiert dafür einen Satz Friedrich Nietzsches: „Wir haben die Kunst, damit wir nicht an der Wahrheit zugrunde gehn“.

Die Jahre und Erinnerung eines Mädchens geben, je einzeln oder zusammen gelesen, Zeugnis von einem biografischen Schreiben, das intim bis in die feinsten Fasern ist und zugleich die persönliche Erinnerung in eine übergreifende Ordnung einbettet. Es gibt darin keinerlei Raum, weder für narzisstische Überheblichkeit noch für eine vorgegaukelte Vollständigkeit des nacherzählten Lebens. Annie Ernaux’ Erinnerungsbücher sind stilbildend, ihre Lektüre animiert die Lesenden unweigerlich, selbst einzutauchen in die eigene Erinnerung und deren versteckte Fallen.

Titelbild

Annie Ernaux: Erinnerung eines Mädchens.
Übersetzt aus dem Französischen von Sonja Finck.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2018.
165 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783518427927

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