Der Nazi-Schwanz

Anpassungsbereite Erzählstrategie: Eine Neuausgabe zeigt erstmals Hans Falladas „Der eiserne Gustav“ in der vom Autor intendierten Originalfassung

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der 29. Juli 1914 ist kein guter Tag. Nicht für die Welt, und auch nicht für Gustav Hackendahl. Denn just an dem Tag, an dem jeder über das Attentat von Sarajevo und seine möglichen Folgen spricht, geraten für Hans Falladas Titelfigur, den „eisernen Gustav“, die Dinge außer Kontrolle. Zunächst zuhause, wo der Familienpatriarch feststellen muss, dass sein Lieblingssohn Erich die Haushaltskasse geplündert hat, um sein Lotterleben zu finanzieren. Mit dem Rest der sechsköpfigen Familie steht es kaum besser: Die eine Tochter, Sophie, packt, genervt vom ewigen Kasernenton des Vaters, ihre Sachen. Und die andere, Eva, geht mit ebenfalls daheim geklautem Geld shoppen – nur um einem Menschenschinder in die Arme zu laufen.

Aber auch beruflich gestaltet sich der Tag für den „eisernen Gustav“ zu einem Debakel. Hackendahl, diese Verkörperung wilhelminischer Werte, kommandiert auf den Berliner Straßen eine ganze Armada an Pferdedroschken. Und weigert sich, die neue benzingetriebene Konkurrenz ernst zu nehmen. Doch das Wettrennen, das ihm an diesem Tag ein feixender Auto-Chauffeur rund um die Berliner Siegessäule aufzwingt, geht nicht gut aus. Denn das Gehupe des Gegners führt dazu, dass Hackendahls Pferd einfach durchgeht. Der Kutscher verliert einen Stammkunden und bekommt eine Verwarnung. Und sein geliebter Schimmel ist nicht mehr zu gebrauchen; er wird zu einem im Stall vor sich hin zitternden Kollateralschaden der Moderne. Der damit aber zugleich symbolisch all die traumatisierten Frontsoldaten ankündigt, die der Krieg bald produzieren wird.

Was für ein großartiger Beginn dieses Familienromans aus dem Jahr 1938! Dank einer Neuausgabe im Aufbau Verlag kann Der eiserne Gustav nun neu entdeckt werden. Denn erstmals erscheint dieser 800-Seiten-Wälzer nicht verstümmelt oder verfälscht, sondern in der von Rudolf Ditzen, wie Hans Fallada mit bürgerlichem Namen hieß, intendierten Originalfassung. Am Schicksal einer gewöhnlichen Berliner Familie entfaltet das Werk das kulturelle und sozialpsychologische Panorama jener Zeit.

In Alltagsszenen erzählt es deutsche Geschichte „von unten“: die Illusionen des Bürgertums bei Kriegsausbruch, die Not der Kriegsjahre, das Chaos der Revolutionszeit und das Luxusleben der Spekulanten im Berlin der Zwanziger. Dabei besticht der Roman nicht nur durch seine scharf gezeichneten Figuren, präzisen Dialoge oder das breite Spektrum an Schauplätzen, vom Mietshaus über den Nachtklub bis zum Reichstag. Sondern auch durch seine polyperspektivische Anlage, die Lebensschicksale miteinander konfrontiert: Da steht etwa der Egoist Erich, der immer obenauf schwimmt, neben seinem idealistischen Bruder Heinz, der sich ins Heer der Arbeitslosen einreihen muss. Oder ihre Schwägerin, die bucklige Schneiderin Tutti, eine der für Fallada typischen starken Frauenfiguren, neben Eva, die in der Prostitution endet.

Bekannter als Hans Falladas Roman selbst dürften heute seine Verfilmungen sein, vor allem die erste mit Heinz Rühmann als eiserner Gustav aus den fünfziger Jahren. Bezeichnenderweise konzentrierte sich der Film fast ganz auf das, wovon der Roman erst nach über 700 Seiten vergleichsweise knapp erzählt, den historischen Aufhänger von Falladas Roman: die berühmte Fahrt des letzten Berliner Droschkenkutschers nach Paris von 1928. Für Gustav Hartmann, so hieß der echte „eiserne Gustav“, wurde der Zeitungsrummel um seine Reise ebenso zur späten Genugtuung wie für sein Abbild im Roman.

Die verdienstvolle Neuausgabe hat nun die Fallada-Biografin Jenny Williams besorgt. Der editorische Clou ist die überzeugende Rekonstruktion des ursprünglich vorgesehenen Romanschlusses. Nicht zuletzt er sorge dafür, dass sich die im Roman erzählte Zeit erstmals in all ihrer „Komplexität und Widersprüchlichkeit farbig entfalten“ könne, betont die irische Germanistin in ihrem Nachwort. Denn schließlich fehle in der Neuausgabe erstmals „keine Äußerung des Autors aus politischer Rücksichtnahme“. Das stimmt – ist aber zugleich eine problematische, da allzu beschönigende Einschätzung dieses Werks.

Man muss wissen: Der eiserne Gustav war ein Auftragswerk für die Filmgesellschaft Tobis; Goebbels höchstpersönlich war an diesem Roman interessiert und verlangte, dass die Geschichte der Hackendahls erst mit der Machtergreifung Hitlers endete. Also schrieb Fallada, in einer Mischung aus Wut und Frustration, einen neuen Schluss, den „Nazi-Schwanz“, wie er ihn nannte. Darin gewann Heinz Hackendahl als SA-Mitglied neues Selbstbewusstsein, ausgerechnet, schließlich ist Gustavs jüngster Sohn mit seinem Anstand und Idealismus doch der große Sympathieträger dieses Romans.

Dem heutigen Leser ruft dieser nazi-genehme Romanschluss Thomas Manns berühmtes Wort in Erinnerung, wonach allen im Dritten Reich gedruckten Büchern ein „Geruch von Blut und Schande“ anhafte. Die rekonstruierte Fassung mit dem ursprünglichen Schluss zeigt jedoch, dass Der eiserne Gustav schon von Beginn an auch Stellen enthielt, die doch etwas mehr als nur „komplex“ sind, wie die Herausgeberin sie bezeichnet. Wie jene Passagen, in denen die deutsche Niederlage und die Folgen des Versailler Vertrags thematisiert werden. Denn die Kritik, die Falladas Erzähler am Umgang der Siegermächte mit dem geschlagenen Deutschland äußert oder an deutschen Politikern, die sich dem Willen der Sieger vorschnell unterworfen hätten, war im Jahr 1938 vor allem eines, nämlich wunderbar kompatibel mit der herrschenden NS-Ideologie.

Gewiss, vom Rassenwahn der Nazis ist im „eisernen Gustav“ nichts zu finden, und Gustavs Fahrt nach Paris steht ganz im Zeichen von Versöhnung mit dem einstigen „Erzfeind“. Doch schon im Vorgängerroman Wolf unter Wölfen von 1937, Falladas erstem Erfolgstitel in der NS-Zeit, war es gerade die Kritik an den Verhältnissen in der Weimarer Republik gewesen, die dem Autor die Anerkennung der NS-Literaturkritik sicherte. Es ist offensichtlich, dass der Volksschriftsteller eine ähnlich anpassungsbereite Erzählstrategie auch im „eisernen Gustav“ verfolgte. Und zwar nicht erst nach Goebbels später Intervention, sondern, wie die rekonstruierte Originalfassung belegt, von Anfang an.

Titelbild

Hans Fallada: Der eiserne Gustav.
Herausgegeben und mit einem Nachwort von Jenny Williams.
Aufbau Verlag, Berlin 2019.
831 Seiten, 26,00 EUR.
ISBN-13: 9783351037604

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch