Tragödien für die Kunst

Mareike Fallwickl schreibt in „Das Licht ist hier viel heller“ subversiv und perspektivisch über sexuellen Missbrauch und den individuellen sowie öffentlichen Umgang damit

Von Caroline LissRSS-Newsfeed neuer Artikel von Caroline Liss

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Maximilian Wenger muss sich sein Scheitern eingestehen: Eine geschiedene Ehe, ein schlechtes, lediglich oberflächliches Verhältnis zu seinen beiden mittlerweile fast erwachsenen Kindern, Zoey und Spin, eine sich im Inbegriff des Scheiterns befindende Schriftstellerkarriere und eine darauf fußende, im Selbstmitleid zerfließende Existenz. Statt dem früheren Baden in Erfolg, Lob und der eigenen Siegessicherheit stapeln sich nun also unbezahlte Rechnungen, ertränkt sich Wenger in Kokain, Alkohol und Selbstmitleid. Diese Exposition des Romans lässt einen nunmehr fälschlicherweise vermuten, dass hier die Geschichte eines „alten weißen Mannes“ erzählt wird; einer der Privilegierten und Undankbaren, der seine zunächst sehr oberflächlich gezeichnete Frau Patrizia an einen jüngeren, fitteren und potenteren Rivalen verloren hat, und den es nun als Leser entweder zu bemitleiden oder zu verspotten gilt.

Doch die Erzählung ist – im positiven Sinne – ein Wolf im Schafspelz: Fallwickl erzählt perspektivisch und divergent; Wengers Gedanken laufen rückwärts, beginnend bei Kapitel zehn, endend bei null, während jene aus Sicht seiner Tochter Zoey erzählten Kapitel mit thematischen Hashtags – angelehnt an aktuelle Kommunikationsmedien wie Twitter – versehen sind und so inhaltlich ihre Gedanken strukturieren. Diesem ersten Irritationsmoment gesellt sich zügig noch ein weiterer hinzu: Es erscheinen gestreut kursiv gedruckte Briefe einer anonymen Person, ein Opfer sexuellen Missbrauchs, an Wengers neue Adresse adressiert, der sie liest und – euphemistisch formuliert – ihre Beschreibungen, ihre Anklagen und zerbrochenen Träume für seinen neuen Roman verwenden, genauer: abschreiben und sich zu Nutze machen wird.

Erinnerst du dich, dass Worte scharf sein können wie Messer? Weißt du noch um ihre Macht, um diese Schlingen, die sich auf dich legen, mit Eisenspitzen, die dir die Haut aufbrechen und die Knochen? Ich will dich aufbrechen, ich will ein Messer sein, in Eisen gegossene Unbarmherzigkeit. Ich will dich aufbrechen, ich habe zu lange geschwiegen. Öffne deine Augen. Schau her. Schau nicht mehr weg. Jetzt ist die Stunde für meine Worte. Jetzt ist die Stunde für meine Rache.

Es ’sprechen‘ also grundlegend drei Figuren: Chauvinist Wenger, der im Laufe des Romans ohne weitere Nennung seines Vornamens existieren soll, seine Tochter Zoey, eigentlich Chloé, die im Aufbegehren gegen ihre ihren Ruhm in den sozialen Medien suchende und in Fitness- und Lifestyle-Inhalten findende, oberflächlich-attraktive Mutter, einen anderen Weg in die Kunst der Fotografie einzuschlagen (ver-)sucht, und schließlich eine weibliche, namenlos bleibende Figur, deren Briefe ein Martyrium voll sexualisierter Gewalt und Missbrauch schildern, in das sie in ihrem einst erfolgreich-unabhängigen Leben durch machtvolle Männer und deren erpresserischen Handlungen hineingeriet.

Fallwickl arbeitet die Themen sexualisierte Gewalt und sexueller Missbrauch im Kontext der Weinstein-Affäre und MeToo-Bewegung des Jahres 2017 anhand (der Erlebnisse) mehrerer Figuren eindrücklich wie einfühlsam auf, wobei sie es nicht nur schafft, diesen unterschiedliche Stimmfarben und Sprechweisen zu verleihen; sondern insbesondere die Geschichten und Schicksale der weiblichen Figuren in einer spezifischen Nüchternheit zu erzählen – man könnte fast von Abgeklärtheit sprechen –, die bittersüß bewegt.

Am 5. Oktober 2017 decken zwei Journalistinnen in einem Artikel in der New York Times auf, dass Harvey Weinstein seit dreißig Jahren Schauspielerinnen und Assistentinnen sexuell nötigt. Die Wogen gehen ruckartig hoch und schlagen über Weinstein zusammen. […] Am 9. Oktober 2017 erscheint Ruf, ein Roman über eine Vergewaltigung, verübt von einer Machtperson. Und über Maximilian Wenger bricht die Hölle los. […] Und weil Hollywood weit weg ist und Harvey Weinstein nicht greifbar, wollen die Journalisten und TV-Reporter mit Wenger reden. […] Plötzlich ist er der Mann der Stunde. Und er reitet die Welle.

Bezeichnend bleibt, dass allen weiblichen Figuren des Romans sexualisierte Gewalt oder Übergriffigkeit zugestoßen ist, der Umgang damit selbstverständlich individuell ist, allen Fällen und Formen jedoch gemein bleiben soll, dass nichts davon je zur Anzeige gebracht wird. Wenger, der sich als Figur und Schriftsteller zunächst sensibel zeigt, „verleiht“ den Frauen scheinbar eine Stimme, wenn er ihre Erlebnisse in seine Romane einbaut. So glaubt die Literaturszene an sein empathisches Talent, Geschichten aufzugreifen und Opfern eine eigene, machtvolle und hörbare Stimme zu geben. Dabei ist das Gegenteil der Fall, Wenger missbraucht deren reale Erlebnisse, ihre Ängste und gibt die Worte und Schilderungen der weiblichen Oper als sein eigenes Können und Talent aus. Sein vermeintlicher „Verdienst“ als Schriftsteller besteht also grundlegend darin, dokumentarisch ab- bzw. aufzuschreiben, was ihm jene Frauen erzählten, die nicht die Mittel und den Mut fanden, ihre eigene Stimme zu erheben und mit ihren Erlebnissen an die Öffentlichkeit zu gehen.

Wenger ist ein Patriarch, dessen Erfolg auf den Missständen und Verlusten von Opfern sexueller Gewalt basiert, er bleibt eine Figur, die Frauen manipuliert, herabwürdigt, respektlos behandelt, sie nicht ernst nimmt und sich vor diesem Hintergrund ein verlogenes Image aufbaut, für das er sich in der Literaturszene feiern lässt. Sein Unvermögen, das eigene Verhalten zu reflektieren oder gar sich zu ändern, mündet schließlich in einem sich zuspitzenden Konflikt mit seiner feministisch-emanzipiert gezeichneten Tochter Zoey, die par hasard jene anonymen Briefe findet, die er für seinen neuen Roman Ruf abgeschrieben hat. Im Zuge dessen wirft sie ihm vor, Frauenfiguren nicht entwickeln zu können und so schließlich an Protagonistinnen und ihrer Lebenswirklichkeit zu scheitern, weil er Frauen in seinem eigenen Leben – privat wie beruflich – eben nur benutzt (hat):

Aber keine Frauen! Du bist wieder und wieder an ihnen gescheitert, und schließlich hast du sie weggelassen. Deine letzten Romane waren scheiße, weil du die Frauen oberflächlich behandelt hast, wie Puppen. Ohne Einsichten, ohne Innenleben, leblose Stereotype. Und das haben dir die Leserinnen nicht verziehen. Ein Mann, der nur über Männer schreibt, Papa, muss sich nicht wundern, dass die Frauen das Interesse verlieren. […] Und ich weiß jetzt auch, warum. Weil du verfickte vierundfünzig Jahre alt bist und keinen blassen Schimmer hast, wie eine Frau sich fühlt, nicht wahr? Weil du nie hingesehen hast, nie zugehört hast.

Fallwickl schafft nach Dunkelgrün. Fast schwarz einen weiteren Roman, der es vermag Facetten von Missbrauch, erpresserischen Handlungen und hegemonialen Strukturen zu beleuchten. Ihr gelingt somit ein subversiv angelegter Roman, der die Täterschaft in den eigenen Reihen, Alltagssexismus und hierarchische Strukturen im vermeintlich ‚Normalen‘ verdeutlicht. Subversiv deshalb, weil sie aufzeigt, wie sich Heteronormativität und dominante Männlichkeit im sozialen wie literarischen Gefüge wiederholen: Zwar gibt die Figur Wenger den Frauen eine Stimme, doch bleibt diese eine patriarchal-männliche; überschrieben und damit erneut ausgebeutet werden die Opfer. Nichtsdestoweniger finden sich unterschiedliche Männlichkeitsentwürfe, etwa anhand der Figuren Spin oder Reto, Patrizias neuem Freund, die in Abgrenzung zum Protagonisten einen Gegenentwurf des gemeinsamen Zusammenlebens darstellen.

Die Schattierungen nicht nur der Figuren an sich, sondern auch der unterschiedlichen Formen von sexualisierter Gewalt, psychischem und physischem Missbrauch sowie der individuelle Umgang, das persönliche Weiterleben mit den Erlebnissen zu beschreiben, gelingen Fallwickl herausragend gut. Und so bleiben Zoeys Umgang und ihre räumliche und emotionale Abkoppelung von ihrer Familie mit das Eindrucksvollste, wenn sie Kurt Cobains Worten folgend den Schmerz in Kunst umwandelt: „Thank you for the tragedy. I need it for my art.“

Titelbild

Mareike Fallwickl: Das Licht ist hier viel heller. Roman.
Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt a. M. 2019.
380 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783627002640

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch