Familiengeschichten nach dem Holocaust
Erinnerungen an Teofila und Marcel Reich-Ranicki
Von Andrew Ranicki
Im April 1958 gab es in Warschau eine große Feier zum 15. Jahrestag des Ghetto-Aufstandes. Ich saß mit den Nachbarskindern vor dem Fernseher und sah den Bericht. Da war ich neun und wusste längst, dass meine Eltern im Ghetto gewesen waren. Was ein Ghetto war, wusste ich auch. Das war da, wo die Juden zusammengepfercht worden waren. Ganz einfach. Meine Mutter ist einmal mit mir in dieser Gegend gewesen, als wir zum Jüdischen Friedhof gingen. Ihr Vater hatte Selbstmord begangen, 1940. Er hatte noch ein Grab bekommen, aber sie konnte es nicht finden. Es war alles zerstört und verwahrlost. Als wir dorthin unterwegs waren, zeigte sie mir eine Straße und sagte: „Ich ging sie entlang und sah, wie das Ghetto brannte.“ Im Jahr 1943 gab es etwa einen Monat, in dem meine Mutter im Untergrund war und versuchte, als polnisches Dienstmädchen durchzukommen. Sie konnte sich in Warschau mehr oder weniger frei bewegen. Mein Vater sah einfach zu dunkel und zu jüdisch aus, er musste sich während des Tages irgendwo verstecken.
Ich wusste also schon früh, dass mit dem Brennen des Ghettos der Aufstand gemeint war. Aber meine Eltern waren sehr behutsam. Sie haben mir nicht alles auf einmal gesagt. Je älter ich wurde, desto mehr. Als ich zehn, elf Jahre alt war, hat mir meine Mutter ihre eindrucksvollen Zeichnungen aus dem Ghetto gezeigt, die später sehr berühmt geworden sind. Das, was man von der Geschichte weiß, haben mir meine Eltern schon erklärt. Das Persönliche haben sie mir vielleicht verschwiegen. Erst aus der Biografie meines Vaters hab ich sehr viel erfahren, das neu war für mich.
Ich bin noch geboren in London, aber 1949 gingen meine Eltern mit mir zurück nach Warschau, und wir blieben da bis ’58. Ich bin sicher, dass die Eltern meiner Mitschüler wussten, dass meine Familie jüdisch war. Aber sie schwiegen. Ich habe deshalb keine schlechten Erfahrungen gemacht in Polen. Anfang der 50er-Jahre war Antisemitismus noch kein Thema, das kam erst später. Ich bin meinen Eltern sehr dankbar, dass wir vorher gegangen sind.
Meine Mutter wollte diese Emigration nicht. Sie hatte nie in Deutschland gelebt und sie wollte dort partout nicht hin. Ganz normal. Aber sie hat sich doch überwunden. Erstens meines Vaters und seiner Chancen wegen – er hatte dieses enorme Interesse an deutscher Literatur, das außer ihm niemand in Polen hatte – und zweitens meinetwegen. Wenn wir in Polen geblieben wären, hätten wir zehn Jahren später sowieso weg gemusst. Da wäre ich 18, 19 gewesen, das ist schon ein großer Unterschied. Dann aber, als wir in Deutschland waren, wollte sie nicht, dass ich in eine deutsche Schule ging, und so war ich in Hamburg auf der Internationalen Schule.
Der Holocaust wurde dort nicht besprochen. Weil jedes Kind eine andere Nationalität hatte, musste man sehr vorsichtig sein. Ich glaube, die moderne Geschichte wurde überhaupt nicht gelehrt, diese Thematik wurde ausgespart. Auch an deutschen Schulen. Hamburg hatte noch bis Anfang der 60er-Jahre enorme Brandschäden durch die Bomben, auch darüber wurde nicht gesprochen. Alle Themen, die mit dem Krieg zusammenhingen, wurden ausgespart. Das hatte nicht nur mit Juden oder Holocaust zu tun. Es war ein Schweigen.
Allerdings nicht bei uns zuhause! Mein Vater hat immer viel und gern erzählt, er war ein großer Erzähler. Aber es waren eher Anekdoten, wenig über die Familie. Es gab noch eine Schwester in London, Gerda, die lief wie Woyzeck[1] durch die Welt. Eine sehr gefährliche Frau! Die hatte das Temperament meines Vaters, aber nicht seine Gaben.
Über seine Eltern hat er selten gesprochen. Ich hab auch als Kind nicht gefragt, warum ich keine Großeltern habe. In meiner Schule waren alle Kinder von Emigranten, Kinder von Ausländern, die auch keine Großeltern zuhause hatten. Und zu Deutschen hatte ich sehr wenig Kontakt, hatte keine Hobbys, war in keinem Sportverein. Allerdings hatten wir auch mit der Jüdischen Gemeinde herzlich wenig zu tun.
Wir wohnten in Hamburg, weil mein Vater bei der „ZEIT“ war. Aber es hat ihm überhaupt nichts geholfen, dass er dort wohnte. Er wurde ausgeschlossen aus der Gesellschaft und aus der Redaktion. Die wussten dort schon, dass er begabt war. Das wusste jeder. Aber sie meinten, dass er in den Redaktionssitzungen ein Störenfried sei. Was nicht ganz falsch war, muss ich zugeben: Er hat nie geschwiegen. Aber diese Ausgrenzung, die ging ihm sehr nahe. In Warschau war er Mitglied des Schriftsteller-Vereins gewesen, da hatten meine Eltern einen großen Freundeskreis. Plötzlich war das nicht mehr so. Sie fühlten sich beide ziemlich unglücklich, besonders mein Vater. Er arbeitete zuhause und war auf das Telefon angewiesen. Er war ein Meister des Telefongesprächs und hatte viele Telefonfreundschaften, in dieser Zeit besonders intensiv mit Walter Jens. Er war zwar in Hamburg ausgegrenzt, aber einen Menschen gab es doch, der sich sehr gut mit meinen Eltern verstand: Siegfried Lenz. Mein Vater hat sich dafür bedankt, indem er nicht, beziehungsweise viel später sehr schön über eines seiner letzten Bücher schrieb. Er wollte nicht die Freundschaft gefährden.
Für meine Mutter war es schlimm, in Deutschland zu sein. Obwohl sie wunderbar Deutsch sprach. Sie ist zwar in Polen aufgewachsen, aber bis sie elf Jahre alt war, ging sie in eine deutsche Schule. Bis diese Schule zu nazistisch wurde. Da hat sie ihre Mutter gebeten, sie möchte doch lieber in eine polnische Schule. Sie war sehr sprachbegabt, ging gerne ins Kino. In dieser Zeit war alles im Originalton, und sie hat so Fremdsprachen gelernt. Sogar in der letzten Woche ihres Lebens, sie war schon sehr schwach, lag im Sterben, konnte sie sich mit meinem Vater und mir auf Polnisch, mit den Betreuerinnen auf Deutsch und mit meiner Frau und meiner Tochter auf Englisch unterhalten.
Aber am Anfang war es schwer für sie in Deutschland. Sie war schon in Polen krank geworden, um einzuschlafen brauchte sie sehr starke Schlafmittel. Sie hatte Albträume. Die mein Vater nicht hatte. Der hat das bewältigt durch Arbeit und Pflicht, preußische Tugenden. Und er hatte viel mehr die Möglichkeit, auf Menschen zuzugehen. Es ist nicht so, dass ihm alles wurscht war. Aber er hatte diese Stärke, die wir kennen. Für die er geschätzt wurde und gefürchtet. Letzteres jedoch hat ihn überhaupt nicht gestört. Das war für ihn ein Triumph, das hat er genossen. Er hat sozusagen Hitler besiegt, wie Sebastian Haffner vermerkt hat. Seine Biografie hieß „Mein Leben“ wie „Mein Kampf“ – und das war kein Zufall.
Meine Eltern haben die Verfolgung zusammen durchlebt. Mein Vater hat mir mehrmals gesagt, dass meine Mutter fast daran zugrunde ging – seelisch, physisch. Er hatte sowieso von Natur aus einen starken Willen, aber diese enorme Durchsetzungskraft, die er hatte, die ist bestimmt auch im Kriegsleben geprägt worden. Wenn die beiden über diese Zeit erzählten, war es immer sehr ernst. Selbst die heiteren Episoden waren ernst. Es war schon klar, dass es nicht lustig war. Überhaupt nicht lustig.
Wenn wir in einem Lokal waren, hat mein Vater drauf geachtet, dass er mit dem Rücken zur Wand saß. Das war selbstverständlich. Auch, dass er sich zwei Mal am Tag rasierte, weil er meinte, dass man, wenn man besser aussieht, vielleicht auch bessere Überlebenschancen hat. Es hat ihn immer sehr geärgert, dass ich nicht „richtig“ angezogen war. Warum, das hab ich erst begriffen, als ich in der Biografie las, dass man mit guter Kleidung etwas tun wollte, um größere Überlebenschancen zu haben. Vielleicht stimmte das sogar. Aber am Ende ging es um Glück. Es waren Zufälle, das hat er immer gesagt. Dass meine Eltern überlebt haben, das war eine Aneinanderreihung von Zufällen. Und sie waren jung, ihre Eltern hatten nicht die Chance. Die beiden waren unternehmungslustiger. Das ist normal, aber in diesem Fall war Unternehmung Leben.
Als meine Eltern älter wurden, gab es im Fernsehen viel über die Nazizeit. Interessant war, dass sich meine Mutter die Sendungen immer ansehen wollte, mein Vater nicht. Meine Mutter ist nie darüber hinweggekommen, hat es bis zu ihrem Ende nicht verarbeitet. In ihren letzten Wochen habe ich sie mehrmals gefragt: „Tut dir etwas weh?“ „Nur die Seele“, hat sie gesagt. Sie war eine sehr kluge, aber sehr verletzte Frau. Als sie 1953/54 beim polnischen Rundfunk in der Auslands-Abteilung arbeitete, kam ein Besucher, der wollte nach Auschwitz. Meine Mutter ist mit ihm gefahren. Das war ein Fehler, sie kam völlig verstört zurück.
Mein Vater hat sich kein KZ angesehen, auch nicht das Warschauer Ghetto. Er hat sich beschwert über mich, dass ich ihn nicht ausgefragt habe über das Ghetto. Aber er hat nicht begriffen, dass immer, wenn er erzählte, ich sehr genau hinhörte. Vielleicht hätte ich mehr fragen müssen. Aber nein, ich glaube nicht. Es war zu gefährlich, wenn man die falsche Frage stellte. „Wie war es im Ghetto?“, das geht nicht. Ich hatte schon Hemmungen, es war für mich ein zu schwieriges Thema. Für ihn vielleicht nicht.
Nach Polen sind wir nie zurückgekehrt. Da war eine gewisse Scheu, besonders auf Seiten meiner Eltern. Es war nicht antipolnisch, überhaupt nicht. Wenn alte Bekannte aus Polen kamen, waren sie sehr gastfreundlich. Aber meine Mutter wollte schon ’49 nicht von London nach Polen zurückgehen, weil es, wie sie sagte, nur ein ganz großer Friedhof sei. Mein Vater hingegen dachte, es wäre seine Pflicht. Er hatte sich dem polnischen Auslandsnachrichtendienst verpflichtet, und wenn der ihn zurückruft, hat er gesagt, muss er tun, was man von ihm erwartet. Diese deutsche Seite, diese deutsche Tugend! Wenn er stattdessen nach Deutschland gegangen wäre, hätte er, der in Berlin Abitur gemacht hatte und ein passionierter Deutschkenner war, gleich ein Stipendium an einer Universität bekommen. Aber dann wäre er bestimmt Professor geworden und hätte keine Karriere als Kritiker gemacht. Für meine Mutter war dieser Weg nicht immer leicht. Aber es hat sich gelohnt, sie haben große Erfolge gefeiert. Seine Erfolge. Und sie wollte immer mit ihm zusammen sein, sie waren aufeinander angewiesen. Die gemeinsame Holocaust-Erfahrung hat sie zusammengeschweißt.
Am Ende seines Lebens hat mein Vater auch über seine Eltern gesprochen. Er hat sich Vorwürfe gemacht, dass er vielleicht mehr hätte tun sollen, um sie zu retten. Sie sind in Treblinka umgekommen. Vor zwei Jahren hat mir jemand, der die Familiengeschichte studiert hat, die genauen Angaben zugeschickt, in welchem Zug sie waren. Das war ziemlich schrecklich, als ich das vor mir sah. Was ich in dem Moment gedacht habe, weiß ich nicht mehr. Ich weiß nur, es war damals für meinen Vater und meine Mutter traumatisch, seine Eltern und ihre Mutter zu den Zügen zu begleiten. Mein Vater hat es in seiner Biografie beschrieben, wie er noch seine Mutter in ihrem hellen Mantel aus dem KaDeWe sah.
Zwölf Jahre nachdem das Buch erschienen war, wurde er 2012 eingeladen, im Bundestag die Rede anlässlich des Holocaust-Gedenktages am 27. Januar zu halten. Eigentlich wäre es besser gewesen, man hätte ihn fünf Jahre früher eingeladen. Da hätte meine Mutter noch gelebt. Damals war er zu alt, um eine neue Rede zu schreiben. Ich habe ihm dann empfohlen, dass er einfach dieses Kapitel aus der Biografie vorliest. Diese Zeugenaussage war sowieso genügend: Es hatte eine große Wirkung.
Meine Eltern haben ein enormes Wirkungsfeld gehabt. Aber es gibt Tausende Nachkommen, deren Eltern nicht die Möglichkeit hatten, ihre Kriegserlebnisse zu vermitteln. Für die ist es bestimmt schwer: Die Eltern waren zerstört, sie haben gelitten, und die Kinder haben es nicht rausbekommen oder erst später. Zumindest bei meinem Vater hatte ich das Glück, dass er rausgegangen ist und geredet hat. Er wollte diese Sache selbst zu Ende führen und nicht, dass ich das in seinem Namen weiterführe. Ich sollte nicht eine Lanze brechen für ihn. Er konnte seine eigene Lanze brechen.
Ich habe keine Jüdin geheiratet, was meinen Eltern nicht egal war, aber sie waren ausnahmsweise zu vornehm, mir das zu sagen. Sie konnte kein Deutsch, kein Polnisch, und das hat bestimmt eine Rolle gespielt. Mein Vater hatte auch immer Schwierigkeiten mit meiner Tochter, er wollte, dass sie eine sehr gute Schülerin war. Sie war es auch, übrigens, aber für ihn nie ganz genug! Er wollte immer diesen großen Erfolg für uns. Vor einiger Zeit war ich zum ersten Mal in Berlin in dem Gebäude der Wannsee-Konferenz. Da gibt es eine große Dauer-Ausstellung, auch Zitate wie: „Dafür haben wir nicht Auschwitz überlebt, dass du nur Zweitbester wirst.“ Das galt auch für meinen Vater. Er hoffte immer, dass ich so berühmt sein werde wie er.
Ich erzähle gern folgende Geschichte. Ich habe einen Freund, einen deutschen Mathematiker, der meinen Vater kennenlernen wollte. Er kam, und als ich kurz aus dem Zimmer ging, hat mein Vater gleich zugegriffen. Ihn gefragt, wie gut ich als Mathematiker wäre. „Selbstverständlich hab ich nur Gutes über dich erzählt, aber dein Vater schien unbefriedigt. Was wollte er von mir?“, hat er mich anschließend gefragt. Ich hab ihm gesagt: „Eigentlich nur einen Vergleich mit Einstein.“
Da war schon etwas dran, an diesem Leistungsdruck meines Vaters – für sich selbst und auch für mich. Er wollte immer, dass ich mehr, besser wurde. „Wann bekommst du den nächsten Preis?“ Er dachte, wenn man mehr Einsatzwillen zeigt, genügt das, um ein besserer Mathematiker zu werden. Aber man muss auch die Begabung haben. Ich bin nicht unbegabt, aber ich mache das aus Liebe zur Mathematik, nicht aus Liebe zu Preisen. Das, was er hatte, die große Liebe zu etwas ganz Bestimmtem und Außergewöhnlichem, das hab ich sicher von ihm geerbt. Bei ihm war es die Literatur, bei mir ist es die Mathematik. Ich habe noch einen Cousin in England, Frank Auerbach, der ein sehr berühmter Maler ist. Der hat das Gleiche. Er steht jeden Tag im Studio. Wir drei haben ganz andere Gebiete, aber die gleiche Einstellung: Es gibt etwas Größeres als sich selbst. Vielleicht habe ich auch deshalb die Geschichte meiner Familie nie als Last empfunden. Sie war so, wie sie war, ich habe kein Problem mit ihr. Sie ist eher eine Verpflichtung als eine Belastung. Die Verpflichtung, andere Menschen zu verstehen und ihnen zu helfen.
Meiner Tochter habe ich alles erzählt, altersgemäß. Meine Eltern hat sie nicht direkt gefragt. Sie sprach Deutsch, wir wohnten ein Jahr lang in Göttingen, und sie ging dort zur Schule, aber sie hatte eine gewisse Scheu, mit meinem Vater – dieser Persönlichkeit! – Deutsch zu sprechen. Allerdings konnte er auch nicht besonders gut mit Kindern umgehen. Mit meiner Mutter gab es überhaupt kein Problem, aber auch sie hat meine Tochter nicht gefragt. Sie war jedoch dabei, als wir 1999 nach Frankfurt gefahren sind zu der Ausstellung der Bilder meiner Mutter. Heute sind diese Bilder – Aquarelle, die den Alltag im Ghetto darstellen – als Dauer-Leihgabe im Jüdischen Museum in Frankfurt zu sehen.
Dass ihre Bilder gezeigt wurden, das war ein Triumph für meine Mutter. Erstens waren alle selbstverständlich sehr nett zu ihr. Zweitens muss sie immer ein bisschen gelitten haben, dass ständig mein Vater im Vordergrund stand, und jetzt konnte sie einmal vorne sein. Und ihre Bilder sind wirklich gut. Die Farben dafür waren damals aus einem deutschen Büro gestohlen oder vom Schwarzmarkt, man konnte ja nicht einfach in ein Geschäft in Warschau gehen und sie kaufen. Und wenn ein Deutscher diese Bilder gesehen hätte, wäre das einer Todesstrafe gleich gewesen. Es war also wirklich gefährlich für sie. Sie hatte eine Tante, die außerhalb des Ghettos wohnte, weil sie nicht jüdisch aussah. Die hat die Bilder rausgeschmuggelt und ihr angeboten, auch sie mit falschen Papieren rauszuholen. Sie hätte gehen können, aber nicht mit meinem Vater. Sie ist bei ihm geblieben. Meine Mutter war eine starke Persönlichkeit. Nach dem Krieg hat sie noch versucht, eine Kunstschule zu besuchen. Aber sie hat nicht mehr malen können, sie war seelisch zerbrochen.
Was Stolpersteine sind, wusste mein Vater sehr wohl, aber es kam ihm nie in den Sinn, für seine Eltern welche zu beantragen. Zu dem Holocaust-Denkmal in Berlin hatte er die gleiche Einstellung: Das wäre etwas, was die Deutschen machen sollten, nicht Juden. Ich habe gesagt, das stimmte für ihn, selbstverständlich. Aber nicht für mich. Ich habe Stolpersteine für seine Eltern in der Berliner Güntzelstraße 53 legen lassen, hab das nicht anstatt meines Vaters gemacht, sondern für mich, für meine Tochter und ihren (damals noch ungeborenen) Sohn. Und die Stadt hat eine Plakette an dem Haus angebracht, ein Jahr nach seinem Tod.
Bis nach dem Krieg hieß mein Vater Marcel Reich. Als er dann im polnischen Dienst verpflichtet war, hieß es: „Jetzt dürfen Sie den deutsch klingenden Namen Reich nicht mehr haben, das ist nicht so gut.“ Er hat Ranicki vorgeschlagen, weil er die Initialen behalten wollte. Als er 1958 nach Deutschland ging, hat er sich wieder Reich genannt, wollte aber Ranicki nicht weglassen, weil er während der 50er-Jahre viele Artikel und auch ein paar Bücher in Polen veröffentlicht hatte. Das war sozusagen seine Visitenkarte.
Mir hat er es freigestellt, ob ich mich für Ranicki oder Reich-Ranicki entscheide. Zwei ausländische Namen waren einfach zu viel, denn ich wusste damals schon, dass ich in England bleiben würde. Vielleicht war das der Einfluss meiner Eltern. Diese Kriegserlebnisse haben sie so gezeichnet, dass sie mich schützen wollten. Ich bin sicher, dass es kein Zufall war, dass ich in England geboren bin. Meine Mutter wollte und konnte nicht schwanger werden in Polen. Für sie war England die größere Sicherheit. Nicht, dass meine Eltern in Deutschland Angst hatten. Aber sie dachten, es wäre für mich besser, dort nicht zu leben. Heute besuche ich Deutschland sehr gern, besitze sowohl die britische als auch die deutsche Staatsangehörigkeit. Aber habe kein Bedürfnis, hier zu leben.
[1] „Er läuft ja wie ein offnes Rasiermesser durch die Welt, man schneidet sich an ihm“, heißt es in Georg Büchners Drama über ihn.
Anmerkungen der Redaktion: Der Beitrag ist mit freundlicher Genehmigung Andrew Ranickis und des © Gütersloher Verlagshauses übernommen worden aus Andrea von Treuenfeld: Erben des Holocaust. Leben zwischen Schweigen und Erinnerung. Nina Ruge, Ilja Richter, Marcel Reif, Josef Schuster, Rahel Salamander, Andrew Ranicki, Andreas Nachama uvm. Gütersloh 2017.