Warum reisen wir?

Die Reisebuchautorin Erika Fatland erkundet in ihrem neusten Buch „Hoch oben“ die Gipfel des Himalaya

Von Marieluise LabryRSS-Newsfeed neuer Artikel von Marieluise Labry

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Erst kürzlich war in der ZDF-Mediathek eine Neuverfilmung des Klassikers In 80 Tagen um die Welt von Jules Verne zu sehen. Die Geschichte, die Ende des 19. Jahrhunderts spielt, handelt von einer Reise um die Erde in nur 80 Tagen. Nicht nur die einzelnen Reisewege sind voller Abenteuer, auch die erreichten Stationen, zum Beispiel Ägypten, Indien und die USA bieten, zahlreiches Spannendes und Unbekanntes für die Hauptfigur Phileas Fogg. Der Zauber des Fremden und die Entdeckerlust faszinieren bis heute. Doch die Zeiten der ‚großen westlichen Entdeckungen‘ sind vorbei. Eine Reise um die Welt ist in Zeiten der Linienflugzeuge nahezu Normalität, dank Internet und Kreditkarten ist Reisen und sich Zurechtfinden noch nie so einfach gewesen und bekannte Kaffeehaus-Ketten lassen sich in den abgelegensten Winkeln der Erde finden. Doch warum reisen wir dann noch? Alles ist entdeckt, beschrieben, fotografiert und gefilmt. Und doch: Der Reiz des Fremden bleibt und lockt. 

Die Reisebuchautorin Erika Fatland ist voller Neugier und Entdeckerlust, gerade für entlegene Orte. Das hat sie mit ihren Büchern Sowjetistan (2017) und Die Grenze (2020) bereits bewiesen. In ihrem neusten Buch Hoch oben bereist sie die Regionen des Himalaya-Gebirges. Zwischen 2018 und 2019 reiste sie in zwei vier Monaten langen Etappen von China über Pakistan, Indien, Bhutan, Nepal und Tibet entlang des Himalayas, natürlich auch mit Zwischenstopp im Base Camp des Mount Everest. 

Doch der Reihe nach: Erika Fatlands Reise beginnt in der chinesischen Provinz Xinjiang, die den meisten bekannt ist durch das grausame Schicksal der Uiguren, die von China systematisch unterdrückt und in großen Teilen in Umerziehungslagern gewaltsam von ihrer Kultur und Religion entfremdet werden. Der Besuch der Stadt Kaschgar ist daher nicht ganz frei. Alles wird von den chinesischen Behörden kontrolliert und reguliert – vor allem die Touristenattraktionen. Fatlands Beschreibungen bleiben neutral und sie berichtet vorwiegend das, was sie wahrnehmen kann. Im ersten Moment irritiert es, dass sie keine Stellung bezieht. Doch genau das macht die Stärke des Buches aus – Erika Fatland bewertet nicht und setzt nicht überall westliche und europäische Standards an. Trotzdem schafft sie es, allein durch Beschreibungen und umfangreiche Interviews mit Einheimischen die verschiedenen Blickwinkel einzufangen. Viele der religiösen Traditionen in Indien, Nepal oder Bhutan erscheinen uns aus westlicher Sicht merkwürdig, kurios und manchmal auch menschenfeindlich. Zwar merkt man Fatland häufig eine gewisse Skepsis an Traditionen an, wie zum Beispiel, dass Frauen während ihrer Menstruation in extra eingerichteten Menstruationshütten schlafen müssen, da sie in dieser Zeit als unrein gelten. Doch darüber urteilen, das tut die Autorin nie. Vielleicht ist das auch das Bedürfnis des neuen Reisens, jenseits von westlichen Eroberungsdrang, dass es eben nicht überall wie in westlichen Kulturen zugeht: Einfach nur Beobachten und mit den Menschen, die dort leben sprechen und sich die Dinge erklären lassen. 

Man könnte noch zahlreiche weitere Besonderheiten der einzelnen Reisestationen Erika Fatlands anführen. Nicht umsonst ist der umfangreiche Reisebericht über 600 Seiten lang. Es ist positiv anzumerken, wie ausführlich und detailreich Fatland alles beschreibt, doch insbesondere in den zahlreichen und langen Interviews finden sich einige Längen, durch die man sich kämpfen muss. Doch das Weiterlesen wird belohnt, da die einzelnen Reisestationen zu den entlegensten Winkeln führen und die Autorin nur selten zwischen den Stationen fliegt und häufig tagelang auf schlechten Straßen mit dem Auto oder zu Fuß unterwegs ist. Die Himalaya-Region ist rau und die klimatischen Lebensbedingungen sind hart. Hinzukommt eine wechselvolle Geschichte zwischen Kriegen, Kolonialisierungen und andauernden Auseinandersetzungen mit China, das einerseits Unterdrücker, andererseits Hoffnungsgeber für wirtschaftlichen Aufschwung ist. Insbesondere die missachteten Frauenrechte, wie zum Beispiel in Nepal, sind schwer zu ertragen und machen bewusst, dass es immer noch einen modernen Sklavenhandel gibt. 

Natürlich zieht es Erika Fatland auch zum Mount Everest. Sie beschreibt die spannende Geschichte der verschiedenen Erstbesteigungen und spricht viel mit den Menschen im Base Camp, die nur darauf warten, endlich den Gipfel zu erklimmen. Was vor gut 100 Jahren noch unmöglich war, ist heute zu Massentourismus mit Todeszone geworden. Das erfordert einen enormen logistischen Aufwand.

Das Gelände des Base Camp ist so groß, dass wir das Ende nicht sehen können, nicht einmal bei Sonnenschein. Unsere kleine Ecke ist ausgestattet mit Toiletten, einem Duschzelt, zwei Küchenzelten, zwei Speisesälen, einer eigenen Ladestation, einem gelben Zelt für jeden Kunden sowie einem Zelt für die Sherpas, das Küchen- und Bodenpersonal. Um Gruppen zu jeweils achtzehn Männern und Frauen aus dem Westen auf den höchsten Berg der Welt zu bringen, braucht es eine umfassende Logistik. 

Die vielen Menschen, die jedes Jahr den Mount Everest besteigen, hinterlassen ihre Spuren in der Natur. Mehrere Tonnen Müll müssen aufwendig wieder vom Berg gebracht werden. Die gesundheitlichen Strapazen auf Grund der Höhe sind enorm und enden nicht selten in Notfällen oder mit dem Tod für die BergsteigerInnen. Erika Fatland ist froh, als sie nach einigen Tagen das Base Camp wieder verlässt und sie beschreibt, dass es ihr mit jedem Meter Abstieg besser geht, da auch ihr die Höhe körperlich zugesetzt hat. Was anscheinend wenige Bergsteiger wirklich interessiert, sind die Schäden, die sie am Berg hinterlassen und den enormen Einfluss des Klimawandels auf die gesamte Region. Es ist erschreckend zu lesen, wie schnell vermeintlich ewige Gletscher abschmelzen und welche drastischen Folgen zunehmende Überschwemmungen, Veränderungen des Ökosystems oder Wassermangel haben können. Damit werden die Lebensbedingungen im Himalaya für die Menschen noch schwieriger und gefährlicher.

Man ist fasziniert von den Reiseberichten und fängt an zu träumen, wie wäre es wohl, mal frisch aufgebrühten Tee in Darjeeling zu trinken? Aber manchmal ist man auch froh sich nicht den Strapazen einer Fernreise zu unterziehen, wie zum Beispiel Reisekrankheiten oder Einreiseschikanen. Auch Erika Fatland beschäftigt das sehr:

Die Frage ist natürlich, warum reist man überhaupt? Warum setzt man sich all dem Unangenehmen aus, der ganzen Logistik, den ganzen Ausgaben, die notwendigerweise zu einer Reise gehören? Die Frage kann schnell existenziell werden, aber mir fällt die Antwort leicht: Ich schaffe es einfach nicht, es zu lassen. 

Unser Reiseverhalten wird sich nicht nur durch Corona nachhaltig verändern. Auch die Motive, aus denen wir eine Reise antreten, werden sich verändern. Will ich im Urlaub am anderen Ende der Welt exakt den gleichen Lebensstandard wie zu Hause oder es sogar noch luxuriöser haben und, wenn ja, zu welchem Preis? Mit welchen Ansprüchen reise ich und was erwarte ich von der einheimischen Bevölkerung? Erkenne ich, welches Privileg es ist, frei reisen zu können, dass es letztlich nur wenigen auf der Welt zugutekommt?

Schwierige Fragen, die jeder und jede für sich klären muss. Absolut unbedenklich (sowohl umwelt- als auch kostentechnisch) ist es, mit Erika Fatland in ihrem Buch in den Himalaya zu reisen und zu entdecken, zu staunen, zu träumen, erschrocken zu sein, zu lernen. Die Reise mit Hoch oben lohnt sich und bietet einen neuen Blickwinkel auf eine für uns entlegene Region, die aus mehr als den typischen Touristenorten wie dem Mount Everest besteht. Neben dem wirklich erheblichen Zuwachs von Wissen über die einzelnen Regionen, ihrer Geschichte und ihren Traditionen macht es einfach Spaß, Erika Fatland zu begleiten.

Titelbild

Erika Fatland: Hoch oben. Eine Reise durch den Himalaya.
Aus dem Norwegischen von Ulrich Sonnenberg.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2021.
636 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783518471760

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