Friederike Mayröcker, Jahrhundertdichterin
Am 20. Dezember 2024 wäre Friederike Mayröcker 100 Jahre alt geworden. Das Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek Wien präsentiert mit begründetem Stolz den Stand der Recherche ihres überwältigenden Nachlasses
Von Gabriele Wix
Kultstatus, weit über die Literatur hinaus, besitze das Lebens- und Schreibuniversum der 1924 in Wien geborenen Friederike Mayröcker, schreibt Bernhard Fetz, Direktor des Literaturarchivs und des Literaturmuseums der Österreichischen Nationalbibliothek. Er ist mit Katharina Manojlovic und Susanne Rettenwander, wissenschaftliche Mitarbeiterinnen am Literaturarchiv, tief in dieses Universum eingetaucht. Anlässlich des 100. Geburtstags der Dichterin lassen sie mit einer Ausstellung und einer 350 Seiten umfassenden Begleitpublikation die Öffentlichkeit teilhaben an den Funden, die aus dem Nachlass geborgen wurden und die es mit einer unüberschaubaren Menge an noch zu sichtenden Manuskripten, Medien, Objekten, Büchern, Broschüren, Plakaten, Fotos, Karten, Mappen, Briefen im Laufe der Jahre in eine archivalische Ordnung zu überführen gilt. Auch wer keine Gelegenheit hat, die noch bis Februar 2025 laufende Ausstellung zu besuchen, kann in dem reich bebilderten Begleitbuch viel Unbekanntes entdecken, die Abbildungen zahlreicher Dokumente, Objekte sowie Lebenszeugnisse betrachten und darüber hinaus in einer Reihe von Aufsätzen der Verbindung von Leben und Schreiben im Werk Mayröckers nachgehen, ihrer Neugier auf die bildende Kunst, die Musik und die Literatur, ihrer innigen Beziehung zu Ernst Jandl über seinen Tod im Jahre 2000 hinaus.
Das Buch folgt einer geschickten Dramaturgie. Einen ersten visuellen Eindruck von Friederike Mayröckers Lebens- und Schreibuniversum geben zwei Weitwinkelaufnahmen aus dem Jahr 2019, die Claudia Larcher, bildende Künstlerin, aufgenommen hat. Gedruckt auf Papier in einem weichen, erdigen Orangeton nehmen die Doppelseiten mit den Fotografien die Farbe des Umschlags auf und rahmen den Band. So wird mit den ersten Blättern im Buch eine emotionale Nähe zu einer Autorin vermittelt, die der Untertitel des Bandes als „Jahrhundertdichterin“ feiert. Zugleich thematisieren die Aufnahmen die für den Band zentrale Frage des Zugangs zu den Manuskripten und Objekten. Es geht um den Wandel von einer semantischen hin zu einer auratischen Lektüre, wie Bernhard Fetz in seinem einführenden Text unter Berufung auf einen 1979 veröffentlichten Aufsatz des englischen Schriftstellers und Bibliothekars Philip Larkin über zeitgenössische Manuskripte darstellt: Während zur Entstehungszeit literarischer Texte fast ausschließlich der Bedeutungsaspekt „the meaningful value“ zum Tragen komme, finde im Laufe der Wirkungsgeschichte ein Übergang von der Orientierung an der Aussagekraft eines Textes hin zu seinem magischen Wert statt. Vor allem die Handschriften und handkorrigierten Typoskripte werden auratisch, aber auch ein Buch, das die Autorin mit dem Kuli oder Filzstift gelesen hat, die Fotos, Bilder und Plakate, die sie gesammelt, oder die Platten, die sie gehört hat. In diesem Spannungsfeld, das vermitteln die Aufnahmen eindringlich, steht die Mayröcker-Forschung, die sich mit dem Umfeld und der Genese ihrer Texte befasst, mit der „Materialität sinnlich erfassbarer Text-Dinge, wie sie der Nachlass Friederike Mayröcker im Überfluss bietet“, so Fetz.
Was aber ist auf den Fotografien zu sehen? Aus zwei verschiedenen Blickwinkeln ist der zentrale Raum in Friederike Mayröckers Wohnung im fünften Wiener Bezirk festgehalten, Schreibwerkstatt, Lebensraum und Archiv zugleich. Die erste Fotografie gibt den Einstieg in das Buch. Die Autorin bildet den Mittelpunkt, wie sie ruhig dasitzt, inmitten von Bücherstapeln, inmitten von Plakaten, Fotos, Flyern und Erinnerungsstücken, vor allem aber inmitten von Papierbergen, die teils in bunten Plastik-Wäschekörben abgelegt, teils mit Wäscheklammern fixiert sind, teils auf dem Boden verstreut liegen. Sie ist in ein Manuskript vertieft, das sie in den Händen hält, die Schreibmaschine in Reichweite, daneben liegen zahlreiche Schreibwerkzeuge bereit. Lichtreflexionen verleihen dem verschatteten Raum eine Magie: Der Schreibkosmos, der sich vor den Augen der Betrachterinnen und Betrachter ausbreitet, gibt sein Geheimnis nicht preis, die materialen Spuren des Schaffensprozesses sind allein der Autorin zugänglich.
Die zweite doppelseitige Fotografie – sie schließt die Publikation ab – zeigt einen Zoom in den Raum hinein. Die Schreibmaschine, Friederike Mayröckers legendäre Hermes-Baby, bildet das Zentrum. Der Arbeitsplatz der Autorin ist verlassen. Fast scheint es, als gehe von dem Bild der Impuls aus, diesen Raum nun zu betreten, sammelnd und ordnend einzugreifen. Tatsächlich fand im Jahr 2019, als die Aufnahmen entstanden, der Ankauf eines gewaltigen Vorlasses durch die Österreichische Nationalbibliothek statt. Dabei ist die schier unüberschaubare Menge an Arbeitsmaterialien von Friederike Mayröcker, die heute im Besitz der Nationalbibliothek ist, in mehreren Phasen in das Museumsarchiv überführt worden. Schon früh war ein Teil der Manuskripte an die Handschriftensammlung der Wienbibliothek im Rathaus gegangen. Es war Schriftsteller Marcel Beyer, wohl profundester Kenner ihres Werks, der 1988 noch als Student Friederike Mayröcker bei der Sichtung und Ordnung der Manuskripte behilflich war. 2019, vor ihrem 95. Geburtstag, übergab Friederike Mayröcker dem Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek einen umfangreichen Bestand im Zuge einer Wohnungsauflösung, und nun ist mit ihrem Tod im Jahre 2021 der letzte Teil ihres Nachlasses in die Obhut der Bibliothek gelangt.
Wie auf der Homepage der Nationalbibliothek in einem Beitrag von Arnhilt Inguglia-Höfle und Susanne Rettenwander nachzulesen, war der Aufwand bei der Überführung der Materialien in das Archiv beträchtlich. Innerhalb von zwei Jahren, von 2019 bis 2021, ist Zettel für Zettel abgetragen, behutsam gereinigt, in Seidenpapier eingewickelt und in Umzugskisten verpackt worden. Archäologisch sei man vorgegangen, insofern man Schicht für Schicht die vergangenen Lebens- und Schreibspuren ans Licht gebracht habe. Letztendlich wurden über 450 Umzugskisten mit Werk- und Lebensdokumenten, Briefen, Sammlungen und der Bibliothek der Dichterin in das Literaturarchiv verbracht.
Nun erhält man anlässlich des 100. Geburtstags der Autorin zum ersten Mal einen umfassenden Einblick in das Mayröcker-Archiv. Gegliedert in drei thematische Bereiche sind Sekundärtexte und Materialien zusammengestellt. Letztere sind in separaten Bildteilen versammelt, überschrieben mit „Werke I – III“, „Kunst“, „Zeichnungen“ und „Musik“.
Das erste Kapitel steht unter dem Titel „Kommunizierende Gefäße“, eine Metapher des Surrealisten André Breton, die Friederike Mayröcker für eines ihrer Bücher übernommen hatte. Die Einheit von „Leben und Schreiben“ wird als prägend für ihr dichterisches Werk aufgezeigt, und hier kommt Edith Schreiber, Friederike Mayröckers langjährige Gefährtin und Freundin, in einem Gespräch mit Katharina Manojlovic und Susanne Rettenwander zu Wort. Edith Schreiber hatte die Dichterin über die Zusammenarbeit von ihrem früheren Ehemann, einem Jazz-Musiker, mit Ernst Jandl kennengelernt. Sie gab Jandl das Versprechen, Friederike Mayröcker nach seinem Tod nicht im Stich zu lassen. „Und daraus entstand die intensive Beziehung mit Friederike Mayröcker“, sagt Edith Schreiber im Gespräch. Die Bedeutung, die der tägliche Kontakt mit der Freundin für Mayröckers Leben und Schreiben hatte, lässt sich an unzähligen Textbelegen in ihren Büchern nachvollziehen. „Das Schreiben und Edith helfen mir weiterzuleben“, schreibt sie 2014 in cahier.
Das zweite Kapitel widmet sich der Lektüre einzelner Werke. Hier wird unter anderem der Prozess der Transformation der Typoskripte in das gedruckte Buch mit Friederike Mayröckers Lektoren erörtert. Thorsten Ahrend, seit 2019 Leiter des Literaturhauses Leipzig, hatte 1993 den Band Veritas zu Friederike Mayröckers 70. Geburtstag bei Reclam Leipzig herausgegeben und unter anderem ihre fünfbändige Prosawerkausgabe sowie den ersten Band mit ihren gesammelten Gedichten bei Suhrkamp lektoriert, dem Verlag, zu dem Friederike Mayröcker schon 1975 gewechselt war. Doris Plöschberger, Programmleiterin für deutschsprachige Literatur bei Suhrkamp, hat von 2008 an Mayröckers Publikationen bis hin zu ihrem letzten Buch lektoriert. Friederike Mayröcker sei neben Peter Handke die einzige Autorin gewesen, deren Texte noch erfasst werden mussten. Wie Doris Plöschberger berichtet, bedeutete das konkret, dass sie nach Wien fuhr, wenn ein Text fertig war, mit Friederike Mayröcker zu Mittag aß, eine Kopie des Typoskripts entgegennahm, damit zurück nach Berlin fuhr, den Text erfassen ließ, die Datei mit dem Typoskript abglich und mit den in diesem Transformationsprozess entstandenen Fragen wieder nach Wien fuhr. Diesem Engagement verdankt sich der akribisch genaue, authentische Satz der Bücher Mayröckers, der maßgeblich den Rhythmus ihrer Texte mit all den Einzügen, Textauszeichnungen und typografischen Eigenheiten prägt.
Das dritte Kapitel ist mit dem Titel eines 1997 erschienenen Bands von Friederike Mayröcker überschrieben: Das zu Sehende, das zu Hörende. Über die Literatur hinaus sind inFriederike Mayröckers Werk die bildende Kunst und die Musik von großer Bedeutung, und immer wieder hat sie ihre kleinen Filzstiftzeichnungen in die Texte integriert oder Texte, Zeichnungen und Collagen in einem Mappenwerk vereint: im Nervensaal, Himmel am 12. Mai, 1983 erschienen. Dass sie eine Komponistin sei, ist die These eines Beitrags von Andreas Karl, Musiker, Librettist und Dramaturg:
In den großen fließenden Formen der Abschiede oder der Reise durch die Nacht, in der manche Sätze wie in der Unaufhaltsamkeit eines Konzertes im Moment der Wahrnehmung verklingen, ohne das Bedürfnis, nach deren Bedeutung zu fragen, in den Kadenzen und Neubeginnen, den Zeilenumbrüchen, der freien Interpunktion, den motivischen Auflösungen und Überbindungen, den variierenden Wiederholungen und Leerläufen, den Klammern, die wie Halte- und Echopedale wirken, und in den kursiven und kapitalen Akzenten überwindet die Autorin die letzten Differenzen, die Prosa und Lyrik noch von Musik trennen.
Friederike Mayröckers erstes Gedicht erschien 1946 in der Novemberausgabe der Zeitschrift PLAN, die Otto Basil zwischen 1945 und 1948 herausgegeben hatte. Ein Exemplar der Zeitschrift und das Typoskript sind Teil des Archivs. In der Begleitpublikation ist dieses Typoskript auf S. 147 abgebildet, ein schmaler, gelochter Streifen Papier mit Korrekturen, dem Namen der Autorin am oberen rechten Papierrand und der eingekreisten Zahl 50 in rotem Kugelschreiber, der Titel: „An meinem Morgenfenster“. Mit Friederike Mayröckers letztem Buch da ich morgens und moosgrün. Ans Fenster trete schließt sich der Kreis. „Friederike Mayröcker hat immer mit uns allen gesprochen, und sie hat uns die sanftesten Bilder, die erregendsten Wörter, die hellsichtigsten Erkenntnisse beschert. Von ihrem ersten, im November 1946 veröffentlichten Gedicht ,An meinem Morgenfenster‘ bis zu da ich morgens und moosgrün. Ans Fenster trete im Jahr 2020“, schreibt Marcel Beyer in seiner Trauerrede vom 17. Juni 2021. Sie ist in dem so material- wie erkenntnisreichen Band „ich denke in langsamen Blitzen“. Friederike Mayröcker. Jahrhundertdichterin abgedruckt.
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