Anhaltende Renaissance eines Lehrers der ganzen Nation

Die Beiträger des Sammelbandes „Vernunft und Gefühl“ diskutieren Gellerts Werk vor dem Hintergrund der deutschen Aufklärung

Von Werner JungRSS-Newsfeed neuer Artikel von Werner Jung

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die längste Zeit war es still um den Aufklärungsschriftsteller Christian Fürchtegott Gellert, immerhin der bekannteste, erfolgreichste und meistgedruckte deutsche Autor vor Johann Wolfgang Goethe. Und es schien so, als habe das vernichtende Urteil der beiden Stürmer und Dränger Jakob Mauvillon und Ludwig Unzer von der Genielosigkeit Gellerts zeitüberdauernd bis in die jüngste Zeit gewirkt. Erst durch die Edition einer kritischen Leseausgabe, die von einer Aachener, später dann Düsseldorfer Forschungsgruppe um Bernd Witte und Sibylle Schönborn in sieben Bänden 2008 zum Abschluss gebracht worden ist, hat so etwas wie eine Renaissance Gellerts eingesetzt, wenn auch ebenso flotte wie dümmliche Einschätzungen im Feuilleton sich noch 1997 nicht entblödeten, davon zu sprechen, dass man Gellert getrost vergessen solle (so H. Kurzke in der FAZ vom 8.3.1997). Parallel zur Werkausgabe, schon einige Jahre früher gestartet, hat der US-amerikanische Germanist John F. Reynolds im Alleingang eine Edition von Gellerts Briefen besorgt (5 Bände, 1983-2013). Im engen Zusammenhang mit diesen Editionsprojekten sind dann eine Reihe von Monographien entstanden und auch Tagungen veranstaltet worden, die wiederum ihren Niederschlag in Sammelbänden gefunden haben:

-          Bernd Witte (Hg.): Ein Lehrer der ganzen Nation. München 1990.

-          Sibylle Schönborn/Vera Viehöver (Hg.): Gellert und die empfindsame Aufklärung. Berlin 2009.

-          Werner Jung/Sibylle Schönborn (Hg.): Praeceptor Germaniae. Christian Fürchtegott Gellerts 18. Jahrhundert. Bielefeld 2013.

Der nun vorliegende Band Vernunft und Gefühl geht auf eine Tagung in Lyon zurück, auf der sich deutsche und französische GermanistInnen erneut darum bemüht haben, die Bedeutung Gellerts für die mittlere Aufklärung herauszuarbeiten. Dabei ist der Untertitel des Bandes Christian Fürchtegott Gellert und die Umbruchperiode der deutschen Aufklärung (1740–1763) überaus präzise, denn die verschiedenen BeiträgerInnen rücken vor allem Gellert vor dem Hintergrund der Umbruchsperiode der deutschen Aufklärung in den Fokus. Gemeint sind damit die Empfindsamkeit beziehungsweise die empfindsamen Anteile am Aufklärungsdiskurs, weshalb schließlich auch der Haupttitel des Bandes Vernunft und Gefühl legitim ist. Denn die Vermittlung zwischen Gefühl und Vernunft, dieser Ausgleich, den man durchaus mit Björn Spiekermann als moderate Aufklärung bezeichnen darf, ist ein wesentliches Anliegen von Gellert gewesen. Dies wird in den verschiedenen Beiträgen und auf allen literarischen beziehungsweise auch publizistischen Feldern, auf denen der Leipziger gewirkt hat, durchdekliniert: im Blick auf Gellerts Roman Leben der schwedischen Gräfin von G*** sowie hinsichtlich der Fabeln und Erzählungen, der empfindsamen Lustspiele und – nicht zuletzt auch mehrfach – hinsichtlich Gellerts poetologischen und moralphilosophischen Schriften. Spannend zu beobachten an diesem neuen Sammelband ist, dass und wie neuere literaturtheoretische und kulturwissenschaftliche Ansätze und Fragestellungen (etwa aus den Queer Studies im Beitrag von Sibylle Schönborn) fruchtbar für die Textbeobachtungen gemacht werden. So weist Schönborn unter anderem darauf hin, dass die von Gellert immer wieder – von seinen Musterbriefen bis zu den Moralischen Vorlesungen in Leipzig – beschworene Männerfreundschaft als „Effemination“ gedeutet werden kann; Gellert habe ein „Gleichheitsmodell“ etabliert, „das im Gegensatz zu dem gültigen Männlichkeitskonzept nicht über die Unterwerfung des anderen, sondern gerade umgekehrt über die Unterwerfung unter den anderen, also über Selbstunterwerfung bzw. gendertheoretisch betrachtet, über Effemination oder genauer noch: die Übernahme einer Position empfindsamer Männlichkeit funktioniert.“ Jutta Heinz, die in ihrem Essay den ‚ganzen Gellert‘ anvisiert, konfrontiert den Deutschen mit dem Franzosen Rousseau: Gegenüber stehen sich dabei das „Genie des Durchschnitts“ (Gellert) und das „Genie der Ausnahme“ (Rousseau). „Beide aber verkörpern ein Modell des Autors, das tatsächlich ganzheitlich mit seinem Leben für sein Werk einstehen will“.

Der besondere Wert des Bandes, scheint mindestens dem Rezensenten, zeigt sich in Beiträgen, die die Berührungspunkte und Schnittstellen mit anderen Traditionen und/oder Diskurszusammenhängen anschaulich machen. Katja Barthel zum Beispiel weist auf Gellerts Rezeption galanter Literatur hin und pointiert, „dass Gellerts Schwedische Gräfin Formen und Motive des galanten Romans aufnimmt und sie durch feine Nuancen, die teilweise kaum ins Gewicht zu fallen scheinen, wirksam modifiziert.“ Kristin Eichhhorn analysiert vor dem Hintergrund der La Motte-Wirkung in Deutschland Gellerts Menschenfabeln und stellt dabei vor allem die ästhetischen Aspekte heraus – die ironische Pointe, auf die Gellerts Fabeln häufig hinauslaufen. Vera Viehöfer vermag anhand der – durch Gellerts Vermittlung zustande gekommenen – deutschen Übersetzung der Lettres de Ninon de Lenclos zu zeigen, dass und wie die deutsche Übersetzung die Libertinage umcodiert, dass Sexualität und Sinnlichkeit etwa „in die Nähe einer christlichen Tugend gerückt“ werden. Schließlich verdeutlicht Thomas Bremers Beitrag den „Umbruch im Vertriebssystem des deutschen Buchhandels“, von dem nicht zuletzt auch Gellert prächtig profitieren konnte, nämlich die Umstellung vom sogenannten „Change-System, bei dem Buchhändler untereinander die Bücher, die sie verlegt haben, tauschen und dann in ihrem jeweiligen Ort auf eigene Rechnung verkaufen“, hin zum „Barzahlungsgeschäft im Buchhandel“, wodurch insbesondere Philipp Erasmus Reich, Gellerts Verleger, seit dieser die Weidmannsche Handlung in Leipzig übernommen hat, exzellierte. Aufschlussreich ist jener (allerdings bereits sehr frühe) Brief Gellerts an seinen Schulfreund Moritz Ludwig Kersten vom 25. Oktober 1748, in dem sich ein selbstbewusster und stolzer Autor voller Selbstzufriedenheit äußert: „Ich stellte mir alle meine Leser vom Könige in Preußen bis zu dem Holzbauer vor.“

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

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Wolfgang Fink: Vernunft und Gefühl. Christian Fürchtegott Gellert und die Umbruchperiode der deutschen Aufklärung (1740-1763).
Universitätsverlag Halle-Wittenberg, Halle (Saale) 2020.
445 Seiten , 58,00 EUR.
ISBN-13: 9783869772189

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