Universalismus oder Multikulturalismus
Egon Flaig unternimmt es, die politische Vernunft zu retten
Von Rolf Löchel
Besprochene Bücher / Literaturhinweise„Drei Errungenschaften der Aufklärung“ sieht der Historiker Egon Flaig akut gefährdet: den „menschenrechtlichen Universalismus, die Wissenschaft als letzte Instanz in Wahrheitsfragen und die republikanische auf Volkssouveränität beruhende Organisation menschlicher Gemeinschaften“. Sie gegen ihre „dreifache Negation“ zu verteidigen, hat er ein Buch über Die Niederlage der politischen Vernunft verfasst. So geht denn auch mit der Verteidigung der Aufklärung diejenige der politischen Vernunft einher, deren Niederlage der Titel des Buches zwar konstatiert, damit aber keineswegs sagen will, dass sie bereits verloren ist.
Ihre Aufgabe, der Menschheit den Weg zur Republik zu weisen, „verbietet“ es der politischen Vernunft Flaig zufolge, „interesselose Neutralität zu üben, wenn die Maßstäbe zur Rechtfertigung von Wahrheitsansprüchen angetastet und beschädigt werden“. Nicht zuletzt darum bedarf sie zweier Bedingungen: der Urteilskraft der Individuen und der Öffentlichkeit des Wettstreits ihrer Argumente.
Doch stellt sich zunächst einmal die Frage, was diese politische Vernunft sei. Flaig beantwortet sie wie folgt:
Ein Universalismus, der es sich zum expliziten Ziel setzt, die gesamte Menschheit auf die Wanderschaft zu bringen – hin zu einem weltbürgerlichen Zustand, unter der Fahne der Freiheit. Das geistige Vermögen, diese Wanderschaft zu ersinnen und ihre Implikationen zu durchdenken, soll „Politische Vernunft“ heißen.
Der Weg zur Weltrepublik wird sich dem Autor zufolge als „schwierig“ erweisen und „mit Rückschlägen sowie mit schweren interkulturellen, interreligiösen, interethnischen und interstaatlichen Konfrontationen“ verbunden sein. Dabei sei der „eurokratische Moloch“ in Brüssel keineswegs ein erster Schritt hin zu ihr, könne er doch nicht einmal den Weg zu einer „säkulare[n] Republik Europa“ weisen. Dennoch sei es „geboten, uns auf sie [die Weltrepublik] vorzubereiten“. Jedoch schon heute im eigenen Land so zu agieren, als sei das Ziel bereits erreicht, wie das die Bundeskanzlerin 2015 „mit ihrem die Einigung der Menschheit in einer grenzenlosen Weltrepublik“ antizipierenden „asylbezogenen Kosmopolitismus“ getan habe, sei fatal.
Zur Verteidigung der Ideale der Aufklärung und der politischen Vernunft holt Flaig weit aus und unterzieht zunächst einmal zentrale Vertreter des Antikolonialismus und des poststrukturalistischen Denkens einer grundsätzlichen Kritik, beginnend mit dem „faschistoide[n] ‚Antikolonialismus‘“ des 1961 verstorbenen Algeriers Frantz Fanon und seinem – auch aufgrund von Jean-Paul Sartres Vorwort berühmt gewordenen – „brillante[n] Manifest der Gegenaufklärung“, das 1964 postum unter dem Titel Die Verdammten dieser Erde erschien. Flaig verortet Fanons Tiraden ideengeschichtlich in der Nähe von Ernst Moritz Arndts Franzosenhass und Johann Gottlieb Fichtes Reden an die deutsche Nation. Vor allem aber weist er dem Autor des Pamphlets rassistische Gewaltverherrlichung und Verachtung der Menschenrechte sowie des Abolitionismus nach. Anders als der Rassismus der deutschen Nationalsozialisten bestehe derjenige Fanons allerdings nicht darin, „eine Rasse über alle anderen zu erheben, sondern darin, eine einzige Rasse dem Rest der Menschheit entgegenzustellen: Er dämonisiert die weiße Rasse als das Böse schlechthin“.
Der Poststrukturalist Michel Foucault wiederum habe „maßgeblich jene semantische Achsendrehung beim Feststellen von Schuld und Verantwortung mitbewirkt, die das geistige Klima der westlichen Welt vergifte“. Ihr zufolge sind nicht etwa die Potentaten in diktatorisch geführten Ländern (etwa Afrikas) die Hauptschuldigen am Elend der Bevölkerungen dieser Staaten, sondern die westlichen Demokratien, die deren Verbrechen zulassen. Diese „bystander-These“ habe sich „als eine der schlimmsten denunziatorischen Waffen erwiesen, um die Zivilgesellschaften der westlichen Welt moralisch zu terrorisieren und Regierungshandeln entgegen allen demokratischen Mandaten zu erzwingen“. Da Foucault zudem „Geschmack an der theokratischen Aufladung des politischen Kampfes“ gefunden habe, geißelt Flaig ebenso sehr die „Obskuranz seines politischen Denkens“ und verortet es ideengeschichtlich „in d[er] Nähe der großen katholischen Konterrevolutionäre des 19. Jahrhunderts“.
In einem weiteren Abschnitt wendet sich Flaig Claude Lévi-Strauss und Étienne Balibar sowie dem „Konzept“ des „Rassismus ohne Rassen“ zu, dem er eine „kategoriale Entleerung des Wortes“ vorwirft. Eine solche „akategoriale Gebrauchsweise des Wortes“ räche sich mit „gnadenloser Schizophasie“. Zudem sei die sich in ihm ausdrückende „entgrenzte Rassismusdefinition“ mit der „verfassungsmäßig garantierte[n] Meinungsfreiheit“ unvereinbar. Ebenso werde der Begriff Diskriminierung „uferlos“, wenn alleine schon all das als Diskriminierung gelte, „was der sich diskriminiert Fühlende als solche bezeichnet“.
Will Flaig die politische Vernunft und somit die Kultur der Aufklärung gegenüber anderen Kulturen auszeichnen, kann er auch das „Konzept der Gleichheit der Kulturen“ nicht gelten lassen. Daher unternimmt er einige durchaus erfolgreiche Anstrengungen, es als „in sich unstimmig und empirisch falsch“ nachzuweisen. So zeigt er, dass selbst „die dümmsten Mythen“ dieser Vorstellung gemäß alleine schon darum „Achtung beanspruchen [dürfen], weil sie zum geistigen Repertoire irgendeines Teils der Menschheit gehören“, und „unter dem Schutzschild der gegenseitigen Achtung […] jede Kultur befugt [ist], in ihrem Innern die Menschenrechte in einem Ausmaß zu mißachten, wie sie allein es für richtig hält“. Vor allem aber weist er darauf hin, dass unter der Annahme, „alle Kulturen“ fänden „in sich selber die höchste Wertigkeit“ und es stünde „kein ‚Gesetz‘ über ihnen“, auch eine „exterminatorische Kultur dieselbe Daseinsberechtigung wie alle anderen [hat], glaubt sie doch ernsthaft, andere Kulturen und Völker auslöschen zu müssen, um selber leben zu können“.
Dem von ihm heftig kritisierten Konzept des „kommunitäre[n] Multikulturalismus“, dessen „Leitidee“ zufolge eine jede Kultur einer multikulturellen Gesellschaft „gemäß ihrem eigenen Recht“ neben allen anderen leben kann und soll, hält der Autor entgegen, dass „Divergenz in den moralischen und rechtlichen Wertungen […] soziale Unverträglichkeiten [schafft], die sofort, wenn man sie thematisiert, zu politischen Unverträglichkeiten werden. Solche Unvereinbarkeiten werden explosiv, wenn unterschiedliche Kulturen dasselbe Territorium bewohnen“ und „erzeugen einen vorkriegsbürgerlichen Zustand“. Dabei weiß Flaig sehr wohl, dass Kulturen stets „Gemengelagen“ sind und kulturelle Identitäten „niemals homogen“. Eben darum aber müssen Kulturen ihm zufolge „unablässig semantische und soziale Kohärenz“ herstellen, um überhaupt „als Kulturen funktionieren“ zu können.
Gegen die von ihm konstatierte politische und mediale „Verharmlosung kultureller Unverträglichkeiten“ beharrt er darauf, „daß Menschen aus bestimmten kulturellen und religiösen Herkunftsräumen mentale Prägungen aufweisen, die es ihnen verwehren, Menschenrechte und Demokratie anzuerkennen“, ohne diese ‚Prägungen‘ allerdings zu essentialisieren. Bilden diese Menschen in einer Kultur „Parallelgesellschaften mit konträren Wertesystemen“, statt ihre ‚Prägungen‘ zu überwinden, so „zerbrechen“ sie „den einheitlichen Raum des gemeinsamen Rechts, ohne den keine Republik existieren kann“. Sozusagen als Dreingabe zeigt Flaig zudem auf, welche fundamentalen Gemeinsamkeiten der kommunitaristische Multikulturalismus eben „mit jenem Ethnopluralismus“ nationaler Ideologien teilt, „von dem er sich wütend abzugrenzen versucht“. Die Frage „Universalismus oder […] Multikulturalismus“, beantwortet der Autor aus all diesen Gründen dezidiert zugunsten des ersteren. Nicht weniger vehement wendet er sich gegen die politische und mediale „Verharmlosung“ solcher „kultureller Unverträglichkeiten“.
Gegen die von Kirchen und verschiedenen NGOs gepredigte „hegemoniale Leitideologie und Leitmoral“, deren „moralische[r] Furor“ sich in den Jahren 2015 und 2016 einer „totalitären Atmosphäre“ genähert habe, indem sie „einzelne Menschenrechte menschenrechtswidrig […] überstrapazier[t]en“, macht sich der Autor für eine „menschenrechtliche und wissenschaftliche Leitkultur“ stark, die nicht auf Gefühle, sondern auf Argumente setzt. Und vor allem für individuelle und politische Freiheit, wobei diese über jener steht, da nur die politische Freiheit in der Lage ist, die individuelle zu garantieren. Für diese politische Freiheit und andere Werte der Aufklärung gelte es, gegen ihre erklärten FeindInnen zu kämpfen und gegebenenfalls auch Opfer zu bringen. Werte werden Flaig zufolge überhaupt nur dann zu solchen, wenn Menschen hierzu bereit sind. Hinzuzufügen wäre vielleicht, dass dies keineswegs die Annahme impliziert, es sei selbst schon ein Wert, überhaupt Werte (oder ein Wertsystem) zu haben. Ob dem so ist, hängt vielmehr davon ab, um welche Werte es sich jeweils handelt. Denn bekanntlich sind Menschen bereit, sich für die unsinnigsten und unmenschlichsten Werte(systeme) zu opfern. Umgekehrt ist es aber sehr wohl von Übel, keine Werte und kein Wertesystem zu haben. Denn dann läuft man Gefahr, eines dieser unmenschlichen Wertesysteme oktroyiert zu bekommen und dessen Opfer zu werden. Zu denken ist etwa an die „menschrechtsfeindliche[n] Religionen“, gegen die Flaig sich wendet.
So ist „Feindschaft“ ihm zufolge auch „eine unvermeidbare Beziehung zu jenen Kräften, die offen jene universalen Werte bekämpfen, ohne die eine menschenrechtlich verpflichtende Weltrepublik nicht denkbar ist“. Eben darum wendet sich der Autor vehement gegen jenen „politische[n] Pazifismus, der sich als ‚Friedensbewegung‘ versteht“, da dieser den Krieg keineswegs abschaffe, sondern vielmehr eine Seite „lähmt“. Wer aber „Feindschaft nicht denken kann und die Konsequenzen eines Krieges nicht aushält“, ist Flaig zufolge „reif für die Knechtschaft“. Denn es gebe zwar „Beziehungen, die sich nur realisieren, wenn beide Seiten zustimmen, so etwa die Liebe“. Im Falle eines Krieges genüge es jedoch, „daß eine Seite ihn will und ihn beginnt“. Daesh und andere islamoterroristische Organisationen stellen dies seit einiger Zeit nachdrücklich unter Beweis.
Flaig, ein zweifellos für viele ausgesprochen provokanter Verteidiger von Aufklärung und politischer Vernunft sieht sich dem Verfasser des „fundamentalste[n] Werk[s] des modernen Denkens“, Immanuel Kant, verpflichtet. So ist ihm der Königsberger mit seiner – wie Kant in der Schrift Zum ewigen Frieden formuliert – eine „positive Idee einer Weltrepublik“ entwickelnden politischen Philosophie auch ein wichtiger Gewährsmann. Gelegentlich reicht er sogar an dessen argumentative Genauigkeit heran. Flaigs Scharfzüngigkeit, die den Vergleich mit derjenigen eines anderen Aufklärers, nämlich Julien Offray de La Mettrie, durchaus nicht zu scheuen braucht, fährt ihm allerdings immer dann in die argumentative Parade, wenn er sich zu Verbalinjurien hinreißen lässt und er seinen philosophischen oder politischen Gegner beispielsweise „Schwachsinnslogik“ attestiert oder sie als „Ignoranten mit der Wünschelrute historischer Esoterik“ tituliert, die irgendwo einen „‚realexistierenden Multikulturalismus‘ zu entdecken meinen“. Der Autor hätte klüger daran getan, sich ganz auf seine argumentative Kraft zu verlassen. Doch gehen die polemischen Gäule nur zu oft mit ihm durch.
Einige der von ihm kritisierten DenkerInnen und PolitikerInnen überbieten ihn in dieser Disziplin allerdings bei Weitem, wie bereits der erste Satz des vorliegenden Buches zeigt. Er zitiert Stanislaw Tillich, mit den auf DemonstrantInnen, die einen Bus mit AsylbewerberInnen blockierten, gemünzten Worten: „Das sind keine Menschen, das sind Verbrecher!“. Damit „grenzt“ der sächsische Ministerpräsidenten „den politischen Gegner aus der Menschheit aus“, wie Flaig ebenso kühl wie zutreffend anmerkt.
Bei aller argumentativen Stärke lassen Flaigs Belege und Quellennachweise doch allzu oft zu wünschen übrig. Einige Beispiele aus dem Bereich der Sexualkriminalität mögen dies belegen: Nachdem der Autor die Massenvergewaltigungen während der Demonstrationen auf dem Tahirplatz in Kairo erwähnt und darauf hinweist, dass solche Verbrechen während europäischer, asiatischer und amerikanischer Erhebungen nicht vorgekommen sind, kritisiert er die Islamwissenschaftlerin Gudrun Krämer dafür, dass sie „am 10. Juni 2013 in einem Interview [bestritt], daß diese Vergewaltigungen einen kulturellen und religiösen Hintergrund hatten; statt dessen seien die Ursachen sozialer Art“. Offenbar bezieht sich der Autor auf eine Diskussion im Deutschlandfunk, an der Krämer an dem besagten Tag beteiligt war. Einen genauen Beleg aber lässt er vermissen. Ein zweites Beispiel: Seine zweifelhafte Behauptung, „daß die allermeisten Vergewaltiger Muslime sind“, versucht er mit einem Zitat von Alice Schwarzer aus dem Jahr 2003 zu untermauern, dem zufolge ihr ein Kölner Polizist gesagt habe, „70 oder 80 Prozent der Vergewaltigungen in Köln würden von Türken verübt“. Auch dies, ohne dass er das Zitat genau ausweist. Ebenfalls ohne Quellenangabe bleibt seine Feststellung, dass im Jahr 1975 in Schweden 421 Vergewaltigungen angezeigt wurden, „der Schwedische Nationalrat für Verbrechensprävention“ 2014 hingegen mehr als zehnmal so viele, nämlich „6 620 Fälle“ meldete. Diesen drei Beispielen ließen sich mühelos weitere anfügen, doch mögen sie an dieser Stelle genügen.
Sowohl solch mangelhafte Quellennachweise wie auch Flaigs ein ums andere Mal überbordende Polemik beschädigen seine an sich ja höchst notwendige Verteidigung der Errungenschaften der Aufklärung ganz ohne Not.
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