Mensch und Nutztier in der Großstadt
Britta von Voithenberg analysiert rurbane Räume in Dresden und München zwischen 1870 und 1914
Von Jens Flemming
Besprochene Bücher / Literaturhinweise„Rurbanität“ und „rurban“: zwei Begriffe, die nur den Eingeweihten, den Stadt-, Planungs-, Raum- und Infrastrukturhistorikern, vertraut sein dürften. Sie markieren ein in der Bundesrepublik noch recht begrenztes, von angelsächsischen Aktivitäten angeregtes Forschungsterrain. Ob die beiden Kategorien sich in der allgemeinen über bloße Spezialisierung hinausreichenden Wissenschaftssprache werden durchsetzen können, bleibt abzuwarten. Der Blick, der sich auf die bezeichneten Phänomene richtet, ist noch einigermaßen frisch. Das Forschungsfeld, das sich hier auftut, wird vermutlich von weiteren Bemühungen gefüllt, vielleicht auch angereichert werden. Britta von Voithenberg hat mit ihrem Buch über rurale Elemente in Dresden und München im späten Kaiserreich jedenfalls schon ein paar wesentliche Breschen geschlagen.
Lassen wir unerörtert, ob das leicht schwerfällige Wort „Rurbanität“ wirklich unverzichtbar ist. Denn dahinter verbergen sich relativ einfach zu lokalisierende Tatbestände. Und dabei spielt keine Rolle, ob „rurbane Räume wesentlicher Bestandteil der Lebenswirklichkeit aller in Dresden und München“ wohnender Bürgerinnen und Bürger waren oder nicht. Im Kern geht es um das Aufeinandertreffen von städtischen und ländlichen Strukturen, Gewohnheiten und Mentalitäten. Dies intensivierte sich namentlich im letzten Drittel des 19. Jahrhundert, als die Städte damit begannen, umliegende Dörfer einzugemeinden, in den herkömmlichen Stadtraum einzufügen. Nicht alle, aber doch einige Bauerngüter existierten fort, agrarische Produktionen wurden Bestandteil der urbanen Ökonomie, waren binnen kurzem nicht mehr wegzudenken und halfen in Notzeiten, vor allem während des Ersten Weltkriegs und in den Jahren danach, existentielle Grundbedürfnisse, wenngleich auf niedrigem Niveau und keineswegs für alle, zu befriedigen.
Das Tier der Großstadt von heute ist der Hund. Im Kaiserreich der Industrialisierung und der Hochindustrialisierung war das Bild vielgestaltiger, lebendiger, auch konfliktträchtiger. Denn in den Straßen, auf den Plätzen, in den Gärten und Höfen tummelten sich allerlei Arten von Nutzvieh. Jedes hatte seine spezifische Bedeutung, seine Nützlichkeit, seine Funktion als Dienstleister der Menschen. Zum einen dienten Tiere, wie von Voithenberg notiert, als „Träger großstädtischer Mobilität“. Dies und anderes habe die „Infrastrukturforschung bis heute zu wenig“ beachtet. Insofern bietet das Buch Anregungen für künftige lokalhistorische Studien. Das allerdings setzt voraus, die Perspektive vom Modernitätsparadigma zumindest partiell zu lösen. Denn die Städte entwickelten sich nicht geradlinig von innen nach außen, um zuvorderst Urbanität und die darin eingebetteten Verhaltensmuster einer bürgerlich aufgeklärten, von industriellem Wachstum infizierten Stadtgesellschaft in die Randbezirke vorzuschieben. Derlei Bestrebungen gab es sicher auch, aber Voithenbergs Absicht ist es, das Eindringen ländlicher Praktiken und Produktionsweisen in die Lebenswelten und Lebensnotwendigkeiten der Großstadt zu illustrieren. Und das verbietet es, die ruralen Elemente, die das Bild der städtischen Räume mitbestimmten, einfach abzutun, als Überbleibsel agrarischer Provinzialität zu disqualifizieren, die es alsbald zu überwinden gelte.
Pferde wurden vor Wagen gespannt, beladen mit Gütern des täglichen Bedarfs. Das kam der Ver- und der Entsorgung zugute. Wichtiger noch war, dass ihre Aufgaben im Verkehr sich kontinuierlich vermehrten. Sie waren gleichsam die Antriebskräfte der Fiaker und Droschken, zunehmend auch der Pferdebahnen, deren Netze immer weiter ausgebaut wurden. In Dresden existierten derartige Transportgelegenheiten seit den späten 1830er Jahren, in München seit 1876. Sie waren kostengünstiger als dampfgetriebene Fahrzeuge, zudem leise und vergleichsweise sauber, belästigten die Bewohner weder mit Rauch noch mit Ruß. Sie erschlossen innerstädtische Bezirke und „revolutionierten“, wie die Autorin konstatiert, den „Vorort- und Ausflugsverkehr“. Um 1900 begann man allerdings, das Straßenbahnnetz zu elektrifizieren: mit der Folge, dass sich der Bestand an Pferden nach und nach reduzierte. Die Straßenbahnunternehmen und die von ihnen eingesetzte Logistik, resümiert Britta von Voithenberg, brachten Veränderungspotential in die „urbanen Räume“. Die Tiere benötigten Haltepunkte für Ruhepausen und Trinkgelegenheiten, im Winter bedurften sie angemessen präparierter Wege, um nicht auszurutschen. Quartiere mit Anbindung an die Bahnen, wurden attraktiv für Wohn- und Vergnügungszwecke, außerdem für Betriebe und Industrieansiedlungen. Kein Wunder, dass manche Zeitgenossen in alledem „Katalysatoren“ für Erweiterungen ihrer Gemeinden sahen.
Weniger beim Transport von Menschen und Gütern als vielmehr bei der Erzeugung von Nahrungsmitteln half das andere, in der Stadt jeweils beheimatete Nutzvieh: das größere ebenso wie das kleinere. Kühe lieferten Milch und Fleisch, Schweine nur Fleisch. Hühner, die im Dresden der 1890er Jahre zu den „beliebtesten häuslichen“ Anhängseln zählten, legten Eier und wurden je nach Bedarf geschlachtet: ein Schicksal, das auch die Kaninchen traf. Die zahllosen Gärten in der Stadt dienten der Selbstversorgung, professionelle Gärtnereibetriebe belieferten die Einwohnerschaft mit Obst und Gemüse. Stadteigene Gärtnereien waren verantwortlich für den „Unterhalt“ der kommunalen „Baumschule, der Grünanlagen, Spielplätze, Alleen“ sowie für die „Instandhaltung“ der Wege und Friedhöfe, der „Gartenanlagen“ in den Arealen der Krankenhäuser und Schulen, zuständig auch für „Planung und Ausführung neuen Stadtgrüns“.
Was hier auf den ersten Blick für ‚organisch‘ sich entfaltende Beziehungen, ja, für intensive Bindungen zwischen Menschen und Tieren sprechen mag, war begleitet von planerischen, auf Bewahrung gemeindlicher Ordnungen bedachte Initiativen der jeweiligen Administration, außerdem von Konflikten zwischen den Produzenten und den Bürgern. Denn die Viecher machten Lärm und verursachten Dreck, belästigten die Geruchssinne der Nachbarn, verunreinigten die öffentlichen Räume. Die Behausungen, in denen sie untergebracht waren, veränderten oder je nach Perspektive: beeinträchtigten das Bild der städtischen Quartiere. Gärten und Wiesen konkurrierten mit der Notwendigkeit, Wohnraum zu schaffen, boten zugleich jedoch Anregungen für städtebauliche Visionen, etwa für das, was man damals „Gartenstadt“ nannte, ein Konzept, das sich allerdings nur schwer realisieren ließ. Eine Art Erfolgsgeschichte war Hellerau, ein Städtchen unweit von Dresden, über das die Autorin ausführlich berichtet. Dies jedoch stand keineswegs sämtlichen gesellschaftlichen Schichten offen, löste jedenfalls den Anspruch rurbanen Lebens für alle nicht ein, sondern blieb im Wesentlichen einer urbanen intellektuellen Elite vorbehalten.
Am Beispiel von München und Dresden sucht Britta von Voithenberg unsern Blick auf städtische Entwicklungen in der Epoche um 1900 neu zu justieren. Demnach soll sich die Aufmerksamkeit nicht länger auf das Streben der politischen Repräsentanten in den Metropolen konzentrieren, die eingemeindeten Dörfer dem Ehrgeiz einer rationalisierenden städtischen Modernität zu unterwerfen. Aber auch die Vermutung, dass nun das Ländliche, dass die eingemeindeten Dörfer einen prägenden Einfluss auf die Stadt gehabt haben könnten, führt in die Irre. Die vielen Anordnungen und Regulierungen, die von den Stadtverwaltungen erlassen wurden, sprechen dafür, dass die Urbanität nicht einfach zugunsten der Ruralität in ihrem Radius geschrumpft wäre. Tatsächlich handelt es sich eine Existenz des Miteinanders, des Nebeneinanders, zum Teil auch um eine solche des Gegeneinanders. Britta von Voithenbergs Studie regt an, nicht allein lineare Entwicklungen in Augenschein zu nehmen, sondern auf Mischformen und Gemengelagen, auf Bilder, Stadt-, Quartier- und Raumbilder zu achten. Außerdem wäre zu fragen, wann und warum ländlich anmutende Erscheinungen in den Städten abnahmen und welche Konsequenzen daraus resultierten. Dies könnte zu Themen weiterer Bücher werden, die ganz nebenbei auch die Aufgabe hätten, das Konzept der „Rurbanität in der Großstadt“ noch einmal zu überprüfen, zu bestätigen, zu relativieren oder gar zu verwerfen.
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