Da ist er nun

Zu Richard Fords Erinnerungen an seine Eltern

Von Peter KockRSS-Newsfeed neuer Artikel von Peter Kock

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Richard Ford legt im Alter von 73 Jahren Erinnerungen an seine 1960 und 1981 verstorbenen Eltern vor – in einem Alter, das das seiner Eltern übertrifft. Sein Vater starb im Jahr 1960 55-jährig an einem Herzinfarkt, als Richard gerade 16 Jahre alt war, die Mutter 21 Jahre später im Alter von 70. Den Teil über seine Mutter hat Ford schon kurz nach ihrem Tod verfasst, den über seinen Vater aber erst vor Kurzem, 55 Jahre nachdem sein Vater starb. Bedeutet das etwas? Braucht ein Mann länger, über seinen Vater zu schreiben, der ihm das Modell für seine Rolle als Mann lieferte? Jedenfalls hat Ford erst jetzt diesen Zweiteiler veröffentlicht, und der Abschnitt über den Vater steht, schon aus Gründen der Chronologie, an erster Stelle.

Ford nennt diese Erinnerungen selbst ein „Memoir“. Im Deutschen klingt dieser Begriff weniger nach einem knappen Lebensabriss, sondern hat eher den Beigeschmack einer „Gedenkschrift“. Was aber so pompös, so schwergewichtig klingen könnte – einer der bekanntesten amerikanischen Autoren legt über seine Herkunft und seine Prägungen Zeugnis ab –, wird von Ford sofort mit dem Verweis auf die Schlichtheit und Unauffälligkeit seiner Eltern gekontert. Auch diese beiden Begriffe enthalten schon Urteile; in ihnen schwingen bereits Wertungen mit. In einem Nachwort legt sich Ford darüber Rechenschaft ab, wie wenig exzessiv unser Leben meist verläuft, wie undeutlich oder kaum erkennbar die Spuren sind, die wir möglicherweise hinterlassen. Er erwähnt die Bauern, die sich auf Pieter Brueghels Gemälde Der Fall des Ikarus ganz in der Nähe der Stelle, an der Ikarus ins Meer gestürzt ist, befinden. Doch sie nehmen ihn gar nicht wahr. „Oft bemerkt uns die Welt nicht.“ Wir kommen auf die Welt, wachsen unter der Ägide unserer Eltern auf, drehen dann, erwachsen geworden, einige Runden und verschwinden wieder – ins Nichts oder wohin auch immer. Hinterlassen wir wirklich Spuren?

Diesen existenzialistischen Zweifel an der Bodenlosigkeit unseres Seins aber dreht Ford um: „Das Leben unserer Eltern, auch wenn es im Dunkeln liegen mag, vermittelt uns erstmalig die starke Sicherheit, dass menschliches Tun Folgen hat. Da sind wir nun.“ Im Original heißt es, durch Kursivsatz noch unterstrichen: „Here we are, after all.“ „Ich bin da“, hieß das erste Kapitel des letzten Buches von Richard Ford über den ehemaligen Sportreporter und Immobilienmakler Frank Bascombe. Das leitmotivische „Ich bin da“ bezieht sich auf eine Frühstücksszene, in der Franks Frau ihm von ihrer nächtlichen Lektüre erzählt. Sie hatte Stunden zuvor von der größten Massenhinrichtung der US-amerikanischen Geschichte gelesen, als 1862 ein Indianeraufstand niedergeschlagen wurde und die Hingerichteten im Moment ihrer Exekution in ihrer Sioux-Sprache in den Ruf ausbrachen „Ich bin da“. Diese erschütternde und Franks Frau stark anrührende Szene ließe sich nun existenzialistisch aufladen à la „Wir sind dennoch da!“, oder aber, wie es eher zu Frank (oder Ford) passt, beiläufig herunterbrechen, so wie Here we are ja auch so etwas bedeuten kann wie „Also gut, jetzt fangen wir mal an“.

Das Unaufgeregte, Ereignisarme des Lebenslaufes seiner Eltern wird von Ford also ganz bewusst betont und nicht unnötig mit Bedeutung versehen. Die äußeren Konstanten ihres Lebens sind schnell umrissen. Beide wuchsen in der äußersten Provinz des Mittleren Westens auf, ohne große Bildung als Kinder „kleiner“ Eltern. Der Vater arbeitete im Lebensmittelhandel und lernte dort etwa 1928 die Mutter kennen und heiratete sie. Er verbrachte sein weiteres Leben als für mehrere Bundesstaaten zuständiger Vertreter eines Wäschestärkeherstellers, während seine Frau erst jahrelang mit ihm im Firmenwagen in mehreren Bundesstaaten des Südens fröhlich und unbeschwert on the road lebte. Als dann Richard 1944 unerwartet als spätes und einziges Kind geboren wird, wird die kleine Familie sesshaft; dem weiter herumfahrenden Vater hält die Mutter den Rücken frei und übernimmt Richards Erziehung. Weiter passiert bis zum Tod des Vaters 1960 eigentlich kaum etwas. Keine dramatischen Affären, eine glückliche Ehe, sie leben zurückgezogen, sind in ihrer Zweisamkeit (fast) allein. Freunde und Kollegen spielen kaum eine Rolle, ab und zu Familienbesuche oder kleinere Urlaube. „Ich hatte das Glück“, schreibt Ford, „dass meine Eltern sich liebten und aus dem Schmelztiegel dieser großen, fast unvorstellbaren Liebe heraus auch mich liebten.“

Beide Eltern aber, die der kleine Richard natürlich in ihrer Gemeinsamkeit wahrnimmt, nehmen das Leben hin, wie es ist, sind zufrieden, problematisieren und hinterfragen nicht groß. Trotz gelegentlicher Streitigkeiten genießen sie, zumindest bis zum ersten Herzinfarkt des Vaters – einem zweiten sollte er einige Jahre später erliegen –, ihr Leben, ohne große Ansprüche zu stellen, und sie sind ja auch durchaus, wenn auch an Kontakten wenig interessiert, sozial gut integriert (wie ein Soziologe sagen würde). Mit dem Erwerb eines Hauses in einem Vorort und passender Autos vollziehen sie die typische Aufstiegskurve der prosperierenden amerikanischen Mittelklasse in der Nachkriegszeit mit.

Dabei gibt es durchaus Ereignisse in ihren Herkunftsfamilien, die dramatische Züge tragen und ihr Entkommen aus der durchaus begrenzten Hinterwaldatmosphäre als bemerkenswerten Erfolg kennzeichnen: Der Vater ist Sohn eines Selbstmörders und einer herrschsüchtigen Mutter; Fords Mutter wurde von einer Vierzehnjährigen geboren, deren Ehe rasch in die Brüche ging und die ihre Tochter, also Fords Mutter, in eine Nonnenschule gab, damit sie ihr bei der Suche nach einem neuen Mann nicht im Wege stand – später gab sie sie als ihre Schwester aus, wohl um den Makel der frühen Mutterschaft zu überspielen und um ihrem künftigen Mann nicht als ältere Frau zu erscheinen.

Das allein wären alles Momente, die nach einer psychoanalysierenden Lesart, wie wir sie weithin gewohnt sind, geradezu drängen. Die kommt oft nur leider als unseliges Gemisch aus Küchen- mit bloßer Schreibtischpsychologie daher. Umso erfreulicher, dass Ford sich hier beharrlich verweigert! Es ist die größte Leistung des Buches, dass Ford der Versuchung widersteht, dem Schicksal seiner Eltern eine Psychodramatik unterzuschieben, die es für sie und für ihn nicht hatte. Dagegen trägt er beharrlich seine Erinnerungsfragmente zusammen, notiert dabei die immer größer werdenden Lücken und schließt die Lebenslinien seiner Eltern nicht zu einem (oder zwei) stringenten Fäden zusammen, sondern wendet die Bruchstücke des Memorierten sorgfältig – und nüchtern – hin und her. Daraus lässt er das Fragmentarische des gelebten Lebens, das oft mit Brüchen und Widersprüchlichkeiten vorbeirollt oder durchlebt wird, entstehen. Aus diesen Fragmenten besteht ja eben ein Großteil unseres Lebens, das nicht in eine schlüssige, im Nachhinein vielleicht passende Geschichte sich fügen will, aber dennoch seine je eigene Würde hat.

Also – kein (klein)bürgerlicher Familienroman, keine Buddenbrookʼsche Schrumpfvariante als soziologisches Lesemodell, auch kein psychologisierendes Familiendramolett, aber eine Würdigung der beiden Menschen, so präzise und wahrhaftig wie möglich erinnert. Daher auch ihre Wahrnehmung als Einzelne, nicht nur als Elternblock, die sie ihm gegenüber ja waren. Zu dieser Ausdifferenzierung kommt die Vielfalt der Perspektiven, aus denen erst das Kind Richard, später der heutige Autor seine Eltern betrachtet und ihnen gerecht zu werden sich bemüht. Dazwischen gibt es, nach dem Tod des Vaters, noch einen weiteren Blickwinkel, als der junge Mann Richard an der Seite seiner Mutter, die es schafft, sich beruflich auf eigene Füße zu stellen, erwachsen wird und schließlich das Elternhaus verlässt.

Diese Passagen zu dem sich ausdifferenzierenden Mutter-Sohn-Verhältnis gehören zu den interessantesten dieses kleinen Werks. Ford hat heute das Gefühl, dass seine Mutter in den ihr nach dem Tod des Vaters verbleibenden zwei Jahrzehnten bis zu ihrem eigenen Tod ihr Leben nicht mehr genießen konnte, sondern schlicht durchhielt. Er schildert, wie er als Jugendlicher einmal, als die Mutter nicht wie gewohnt nach Hause kommt, sie panisch sucht und in der Wohnung eines Verehrers findet. Sie können diese Störung zwar später ausräumen, aber seitdem ist sie seines Wissens keine Partnerschaft mehr eingegangen.

Die Neudefinition ihrer Beziehung nach dem Tod des Vaters, vollends als Richard schon ausgezogen war und studierte, blieb unausgesprochen, unvollständig, eine Lücke. Ford erinnert sich daran, dass seine Mutter ihm einmal erzählte, sie habe, als ein neuer Bewohner ihres Wohnhauses sie nach Kindern fragte, spontan mit Nein geantwortet, um sich innerlich sofort zu korrigieren: „Um Himmelswillen, nein. Natürlich habe ich ein Kind. Richard.“ Auch das lässt Ford so stehen, ohne es zu psychodramatisieren. Aber er verschweigt nicht, wie schuldig er sich dafür fühlt, dass sie kurz vor ihrem Krebstod, als die Möglichkeit zur Sprache kam, sie könne möglicherweise zu Richard und seiner Frau ziehen, er ihr diesen Hoffnungsfunken mit einer unbedachten Äußerung („mach doch nicht jetzt schon Pläne“) zunichtemachte. Es gibt solche Sätze, die wir nicht zurücknehmen können und die uns lange quälen.

Die unpathetische, sehr reflektierte, aber zugleich sehr pointierte und sich nicht in parataktischen Endlosschleifen verlierende Beschreibung des Lebens seiner Eltern möge, schreibt Ford im Nachwort, „Vorstellungen beim Leser“ erzeugen, „die ihnen gerecht werden und vielleicht auch über sie hinausgehen.“ Was er hier andeutet, ist der Effekt, den alle gute Literatur bewirkt – wir gehen mühelos vom Studium des Schicksals, den Prägungen und Eigenarten der dargestellten Figuren zum Vergleich mit unserem eigenen Leben und unseren Erfahrungen über. Jeder Leser, jede Leserin, der oder die sich auf diesen schmalen Text einlässt, gerät mit Sicherheit dahin, seine oder ihre Biografie zu überprüfen und über die Rolle in der eigenen Familie nachzudenken.

Das Buch ist so präzise, elegant und gelegentlich flott übersetzt, wie wir das von Frank Heibert gewohnt sind. Schade nur, dass der Verlag die dem amerikanischen Original beigegebenen Familienfotos nicht beigeben wollte oder konnte; auf sie bezieht sich der Text passagenweise ausdrücklich. Und doch: Hält man dagegen die Vielzahl an dicken Schwarten, mit denen Verlage und Buchhandel uns zu unterhalten versuchen, welch ein Juwel!

Titelbild

Richard Ford: Zwischen ihnen.
Übersetzt aus dem Englischen von Frank Heibert.
Hanser Berlin, Berlin 2017.
144 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783446256804

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