Fragen Sie Reich-Ranicki!

Über die Kolumne in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung

Von Volker WeidermannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Volker Weidermann

Vorbemerkung der Redaktion: Der Beitrag ist zuerst als „Nachwort“ zu dem 2006 im Insel Verlag erschienenen und inzwischen vergriffenen Buch „Marcel Reich-Ranicki antwortet auf 99 Fragen“ (herausgegeben von Hans-Joachim Simm) veröffentlicht worden. Das Buch enthält eine Auswahl aus der seit dem Februar 2003 bis November 2005 in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung erschienenen Kolumne „Fragen Sie Reich-Ranicki“. Sie wurde von Volker Weidermann, dem damaligen Literaturredakteur der Zeitung, betreut. Wir danken ihm für die Genehmigung zur erneuten Publikation in literaturkritik.de. T.A.

Oh, was für langweilige, uniformierte Post wird den Literaturredakteuren des Landes normalerweise in ihre Redaktionen geschickt. Massenweise Maschinenbriefe, die im öden Ton routinierter Werbetexter auf ständig neue Neuerscheinungen verweisen. Unnütze Leserbriefe, die den Zyklus des immer Neuen am Laufen halten und allesamt ohne Zwischenstopp auf dem Schreibtisch des Redakteurs direkt in den Papierkorb wandern. In der Literaturredaktion der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung ist das seit drei Jahren anders. Seit wir die Leser aufgefordert haben, an Marcel Reich-Ranicki zu schreiben, ihm schriftlich ihre Fragen zu stellen, liegt fast jeden Tag zwischen all den Unsinnsbriefen mindestens ein echter Brief. Man sieht es ihnen schon von weitem an, es wird „Stichwort Sonntagsfrage“ auf dem Umschlag stehen, das Codewort, um zu dem Mann vorzudringen, um den es geht. Die Briefe tragen alle ein Sonntagskleid. Stecken in Umschlägen, die vor langer Zeit für besondere Anlässe gekauft wurden, aus dickem blauen Papier oder sogenannter Elefantenhaut, marmoriert oder strahlend weiß mit Sondermarke immer ausreichend frankiert. Adresse und Absender, vorne gut sichtbar, sind mit Schreibmaschine geschrieben oder mit dem Füller. Man schickt keine schnellen Zettelchen, wenn man an Marcel Reich-Ranicki schreibt, man ist verdammt noch mal gut angezogen und hat sich vorbereitet. Das sind die Sonntagsbriefe. Viele Fragen kommen auch per E-Mail ins Haus, aber selbst diese sind nicht, wie sonst bei diesem eiligen Mitteilungsmedium üblich, mit unüberprüfter Orthographie gedankenlos schnell hingehuschelt, nein, selbst die E-Mails wirken wie mit Tinte geschrieben, sind ordentlich, durchdacht und ehrenvoll. E-Mails an Reich-Ranicki.

Was dieser Mann den Menschen ist, was er ihnen bedeutet, habe ich erst ganz verstanden, seit ich diese Briefe öffnen darf, seit ich Vermittler sein darf zwischen den Lesern und Marcel Reich-Ranicki. Daß die Menschen ihn bewundern und verehren, ja, so abstrakt war das seit dem Riesenerfolg des Literarischen Quartetts damals wohl jedem klar, und auch auf Lesungen, Vorträgen und Diskussionsveranstaltungen mit Reich-Ranicki kann man diese Bewunderung und Verehrung spüren. Aber es bleibt natürlich immer eine große Distanz zur öffentlichen Person, die nicht zu überwinden ist. In diesen Briefen wird sie überwunden. Wie gesagt, anständig, im Sonntagsanzug, aber doch privat und sehr, sehr persönlich. Jeder Brief erzählt eine persönliche Geschichte, die jeder einzelne Leser mit Reich-Ranicki hat, und erzählt von dem Glück, das es bedeutet, eine kleine Audienz zu bekommen, eine Audienz beim Literaturpapst, seine Aufmerksamkeit für einige Minuten. Und es ist nicht nur Bewunderung und Ratsuche, die man in den meisten dieser Briefe findet, nein, vor allem ist es Liebe. Die Geschichte zwischen Marcel Reich-Ranicki und seinen Lesern ist eine Liebesgeschichte.

„Sie bereichern mein Leben, und ich hoffe, daß ich mich noch lange über Sie freuen kann“, beginnt so ein Brief. Oder „Sehr geehrter Herr Professor, als leidenschaftliche Leserin seit frühester Kindheit an habe ich stets mit größtem Interesse Ihr leider nicht mehr bestehendes Literarisches Quartett verfolgt“, oder „Ich bin begeisterte Leserin (49 Jahre) ihrer Rubrik ,Sonntagsfragen‘ und kaufe, ehrlich gesagt, jeden Sonntag die ,Frankfurter Allgemeine‘ wegen ihrer interessanten und aufbauenden Rubrik.“ Und die Briefe, die dann folgen, erzählen von Liebesgeschichten, von Streit in der Familie, Krankheitsgeschichten, Lebens- und Lesegeschichten. Die Menschen wollen alles wissen: wie dieses Gedicht Eichendorffs zu verstehen sei, ob sie jenes Gedicht Günter Eichs richtig verstanden haben, wenn sie es wie folgt interpretieren, und fügen ein zweiseitiges Schreiben an, sie wollen wissen, ob die Formulierung „gleichgültige Jahreszeit“ aus der „Königlichen Hoheit“ Thomas Manns grammatisch eigentlich korrekt sei, es sei darüber ein Streit zwischen Großmutter und Enkel entbrannt. Oder sie bedanken sich einfach, bekennen, durch Reich-Ranicki zum Lyrikfreund geworden zu sein, und legen, „als Dankeschön“, eine kleine „fotografische Interpretation von Heines ,Fräulein am Meer‘“ mit bei. Ja, die Leser lieben ihn, und die Liebe nimmt nicht ab, die Briefe nehmen nicht ab. Sie werden eher noch mehr.

Am Anfang nutzten viele Leser auch die Möglichkeit, endlich einmal ihr begonnenes Roman-Manuskript, ihre persönliche Gedichtsammlung, eine kleine Erzählung einzusenden, was wir, durch Veröffentlichung der zudringlichsten Schreiben auf einer Sonderseite unter der Überschrift „Wenn Leser zu viel schreiben“, immerhin etwas eindämmen konnten.

Es war am Anfang nicht ganz leicht, das Gespräch zwischen Reich-Ranicki und den Lesern in für beide Seiten erfreuliche Bahnen zu lenken. Zu persönlich waren viele Zuschriften, zu ausufernd, zu privat und zu speziell. „Wissen Sie was, Herr Weidermann“, stöhnte Marcel Reich-Ranicki dann am Telefon, wenn ich ihm einmal wieder die Fragen der Woche per Fax zusammengestellt hatte, „das sind erbärmliche Fragen! Was soll ich darauf antworten?“ Immer wieder fragten die Menschen, warum dieser Schriftsteller vergessen sei oder jener nicht mehr gelesen werde, das sei doch sehr schade und kaum zu glauben. „Ja, was soll ich sagen? Er ist eben schon seit hundert Jahren tot, in den Regalen muß Platz geschaffen werden für die neuen Bücher. Da kann man nichts machen. Soll ich das wirklich jede Woche schreiben?“ fragte er.

Doch seit einer ganzen Weile ist das Gespräch ein wirklicher Dialog. Es kommen immer noch mehr Fragen, die Leser wissen inzwischen, welche Art Nachfrage in der Zeitung zu beantworten ist, wie man eine echte, also öffentliche Audienz bekommt. Einige sind geradezu Profis. Gerade im Internet gibt es Leser, die wöchentlich eine Frage formulieren. Stefan Wolters aus Mönchengladbach ist zumindest mir, als Zwischenbote, mit der Zeit schon richtig ans Herz gewachsen. Und er, Marcel Reich-Ranicki, ist den Lesern ans Herz gewachsen. Er ist ein Lebensbegleiter. Wie wohl kein Literaturkritiker vor ihm. „Lieber, sehr verehrter Herr Reich-Ranicki“, schreibt eine Dame aus Frankfurt, „nach einem Unfall (einer schweren Gehirnverletzung) 2004 und der damit verbundenen Aphasie, lernte ich die Sprache wieder am besten durch das Lesen von Büchern. Über einfache Kinderbücher, über Erich Kästner war es ein langer Weg bis zu Ihren Erinnerungen ,Mein Leben‘. Das Buch hat mich sehr beeindruckt“, schreibt sie und wünscht nun Rat für das weitere Lesen, das weitere Gesunden. Es ist ein Jammer, daß viele dieser Briefe unbeantwortet bleiben müssen. An die 2000 Zuschriften sind in den drei Jahren angekommen. Es übersteigt die Kraft auch eines Marcel Reich-Ranicki, sie alle zu beantworten. So viele Glücks- und Sehnsuchtsbotschaften, so viele Briefe des Lesens, des Lebens und der Ratsuche, so viele Antworten, von dem Mann, dem die Menschen vertrauen, von dem sie beinahe alles wissen wollen und der jede Woche ein bißchen mehr verrät.