Unordnung und großer Mut
Julia Francks Buch „Welten auseinander“
Von Hannes Krauss
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseMit ihrer Familiengeschichte hatte Julia Franck sich schon mehrfach literarisch auseinandergesetzt. In Lagerfeuer beschreibt sie ihre DDR-Ausreise als Achtjährige (mit Mutter und drei Schwestern) und den Aufenthalt in einem Westberliner Notaufnahmelager; Die Mittagsfrau eröffnet aus der Sicht verschiedener Familienmitglieder subjektive Perspektiven auf die jüngere deutsche Geschichte; Rücken an Rücken offeriert das leicht verfremdete Porträt einer Großmutter, die gegen sich selbst und andere hart war; und die Erzählung Streuselschnecke schildert eine berührende Begegnung mit dem leiblichem Vater an dessen Sterbebett.
In Welten auseinander nun geht’s um die eigene Biografie: um Francks Kindheit und Jugend in der DDR, in Schleswig-Holstein und in Westberlin. Das Buch hat keine Gattungsbezeichnung, und es liegt nahe, es der „Autofiktion“ zuzurechnen – jenem Genre, das autobiographischem Schreiben Abschweifung in Fiktionalität und retrospektiven Selbstentwurf erlaubt. In einer Vorrede konstatiert die Autorin:
Auch in meinem wirklichen Leben habe ich eine Mutter, vier Schwestern und Freunde, die ich liebe. Auch in diesem wirklichen Leben habe ich nächste Menschen viel zu früh durch Tod verloren und lebe dennoch bis ans Ende mit ihnen. Ich kannte sie, kenne sie und werde sie in Zukunft etwas anders kennen. Weder sie noch ich selbst bleiben dieselben. Unsere Erfahrungen ändern uns und auch unser Verständnis.
Es folgt eine Warnung vor voyeuristischer oder identifikatorischer Lektüre – „Oft liegen unsere Geschichten und unsere Sicht auf die Wirklichkeit Welten auseinander“ – und die Einsicht: „Die Fremde bin ich selbst. Wir sind im Werden.“
Zwischen dem Erscheinen von Welten auseinander und Julia Francks vorletztem Buch (Rücken an Rücken) vergingen zehn Jahre, in denen die Autorin ihre Aufzeichnungen und Unterlagen an das Deutsche Literaturarchiv in Marbach gegeben und Spekulationen über ein Verstummen befördert hatte. Auf die Frage einer Kritikerin, ob sie zehn Jahre an diesem Buch geschrieben habe, antwortete sie lakonisch: „Ich musste älter werden“. Nun konfrontiert sie uns in einzelnen, nicht chronologisch angeordneten Szenen mit Orten und Personen ihrer Biografie – vom frühen Säuglingsalter bis zu einer Amerikareise im Jahr 1993. Dazwischen liegen Aufenthalte in einer Pflegefamilie und im Kinderheim, Monate im Westberliner Notaufnahmelager, Jahre in einem Dorf am Nordostseekanal mit einer überfordert-chaotischen Mutter und drei, später vier Schwestern, der Besuch einer Waldorfschule im nahen Rendsburg, gemeinsame Abenteuer mit der Zwillingsschwester, Rückkehr der Dreizehnjährigen nach (West)Berlin, wo sie erst bei einem befreundeten Paar, dann in einer WG lebt, Schulbesuche mit Unterbrechungen, Arbeit als Kellnerin, Spitzenabitur, abgebrochenes Jurastudium, Begegnung mit dem leiblichen Vater, und last but not least eine intensive Liebesbeziehung zum Mitschüler Stephan, die durch dessen Unfalltod abrupt beendet wurde.
Diese Aufzählung kann allerdings nicht annähernd jene Intensität vermitteln, mit der hier prägende Ereignisse einer Kindheit und Jugend zwischen Ost und West rekapituliert werden. Die Lektüre evoziert Erstaunen, Erschrecken und Mitleid. Erstaunen darüber, wieviel Leben und Leid in dreiundzwanzig Jahre passen; Erschrecken über die emotionale Kälte von Erwachsenen und Mitleid mit einem einsamen, oft überforderten Mädchen und seinen eigenen Schutzstrategien (Rückzug in Phantasiewelten, Tagebuch-Schreiben). Leises Erschrecken auch bei den gelegentlichen Einblicken in eine DDR-Künstlerszene, in der ein Egozentriker wie Brecht nicht unangenehm aufgefallen wäre.
Sich als Leser auf die Beobachterposition des Voyeurs zurückziehen zu wollen, funktioniert bei diesem Buch so wenig wie der Versuch, durch Empörung Distanz zu gewinnen. Julia Franck weiß, dass sie „über manches […] nicht sprechen [kann]“, aber erzählend versucht sie, sich einer Zeit zu nähern, „in die keine bildhafte Erinnerung in mir zurückreicht“. Die Sprache, in der sie das Aufwachsen in materieller Armut, emotionaler Kälte und Einsamkeit schildert, klingt mitunter fast lakonisch, der Duktus ist verblüffend nüchtern, aber gerade dadurch gelingt ihr eine Präzision, die die Leser zwingt, sich auf das Erzählte einzulassen. Schilderungen der raren Glücksmomente mit dem Geliebten bleiben dagegen seltsam blass. Sich ihrer zu erinnern bedurfte es offenbar keiner Sprache.
Die scheinbar emotionslose Beschreibung demütigender Kindheitserlebnisse ermöglicht sogar eine Art von Verständnis für jene Erwachsenen, denen das Kind ausgesetzt war: für die harte Großmutter eine aus Rücken an Rücken bekannte Bildhauerin und „Gefühlskommunistin“, die lieblose Urgroßmutter eine der Deportation knapp entronnene Jüdin aus großbürgerlichem Hause und für die chaotische Mutter (die den Verlust ihres Bruders mit rücksichtsloser Lebensgier kompensierte). Sie alle sind durch Verluste traumatisiert. Auch der Protagonistin bleiben solche nicht erspart, aber als Archivarin in eigener Sache gelingt es ihr, sie sozialverträglicher zu bewältigen.
Der Toleranz der Autorin kann man sich als Leser nicht entziehen. Julia Francks Berichte über die Härte der Großmutter, die Kälte im Haus der Urgroßmutter, den Egoismus und die Empathielosigkeit der Mutter sind mitunter schwer zu ertragen, aber eine pragmatisch-nüchterne Sprache, die an ihr Agieren in ausweglosen Situationen der Kindheit erinnert, erstickt aufkommende Empörung im Keim.
Nach mehr oder weniger geglückten Versuchen, die Traumata der Vergangenheit auf andere Weise zu verarbeiten – durch wechselnde Beziehungen, Drogen oder Psychoanalyse – hat Julia Franck sich mit Welten auseinander schließlich jenen „Lebenstrotz“ erschrieben, der sich einst in den Skulpturen der Großmutter äußerte. Dafür brauchte es viel Mut. Die Selbstzitate aus früheren Texten zeigen, wie mühsam der Weg war. Eine Mühe, die sich gelohnt hat. Julia Francks Lebenstrotz ist weder schroff noch kalt, sondern artikuliert sich in einem Text, der die prekäre Biografie nicht einfach dokumentiert, sondern erzählt. Und der durchaus mit Annie Ernauxs Die Jahre oder Peter Handkes Wunschloses Unglück verglichen werden kann.
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen
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