Wo die Wahrheit nichts gilt

Frank Rudkoffsky erzählt in „Fake“ eine Geschichte, die völlig außer Kontrolle gerät

Von Beat MazenauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Beat Mazenauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In den sozialen Medien sind wir jederzeit einen Klick von der Lüge entfernt, und mit einem Tastendruck lösen wir einen Shitstorm aus. Roberto Simanowski schrieb 2017 in Abfall. Das alternative ABC der neuen Medien: „Der Shitstorm symbolisiert die Demokratisierung der Kommunikation im Web 2.0 in ihrer problematischsten Weise“, und fährt fort: seine „Willensbildung ist nicht durch Argumentation bestimmt, sondern durch Emotionalisierung und Dramatisierung“. Unter diesem Aspekt liegt die digitale Öffentlichkeit in einer Zone zwischen Fakt und Fake. Wer sie betritt, macht sich sichtbar und maskiert sich zugleich – sei es mit Avataren, Fake-Accounts oder Aufschneidereien. In seinem Roman Fake begibt sich Frank Rudkoffsky in diese Zone der öffentlichen Erregung. Als Blogger und als Journalist verfügt er über entsprechende Erfahrungen, die eindrücklich ins Buch einfließen.

Sophia und Jan sind ein ungleiches Paar. Während sie bei Mercedes karrieremäßig durchstartet, hofft er weiterhin vergeblich auf eine Festanstellung bei einer Zeitung. Max, das gemeinsame Kind, bringt zusätzliche Dynamik in die Beziehung. Max stört. Sein endloses Schreien zerrt an den Nerven, er bindet die Mutter ans Haus und setzt den Vater unter Druck, finanziell auch zum Unterhalt beizutragen. Doch in den fast zwei Jahren, in denen Fake von Ende 2013 bis Spätsommer 2015 spielt, wird Max größer. Mit ihm wachsen auch die Probleme – allerdings nicht wegen ihm. Davon erzählen Sophia und Jan im Wechsel aus ihren eigenen Blickwinkeln. Frank Rudkoffskys Buch ist ein Beziehungs- und Familienroman, der überzeugend die Schwierigkeiten einer modernen Paarbeziehung zwischen Kind und Karriere, Weltreise und Windelwechsel ausleuchtet. Unterschwellig jedoch gärt Gravierenderes im argumentativen Bauch dieses Buches. 

Von Max‘ Geschrei spürbar angegriffen, versucht Sophia ihre Nerven zu beruhigen. In den sozialen Medien findet sie ein Ventil für ihren Frust. Sophia merkt schnell, wie empfänglich Mütterforen für boshafte Provokationen sind. Ein Funke genügt und die Empörung lodert hoch. Sie legt sich eine Reihe von Fake-Accounts zu, mit denen sie ihre Trollerei betreiben kann. Sie kennt Grenzen, immerhin, gibt sie zu: „Ich wollte die Menschen nicht persönlich verletzen, sondern nur ihre Wut, ihren Widerstand.“ Aber sie genießt die anonyme Macht über den Diskurs und die Wut der anderen.

Derweil beginnt Jan heimlich ein eigenes Projekt in den sozialen Medien. Zuerst forscht er undercover über die Gegner von Stuttgart 21, dann wagt er sich an die AfD und gelangt schnell in eine „bizarre Parallelwelt voller Lügen und verzerrter Weltbilder“. Dabei wird er gewahr, dass sich in Dresden etwas zusammenbraut. Jan wird da sein und seinen ersten Scoop landen: Unter dem Titel Kipppunkt beschreibt er die aufgeheizte Stimmung während der Pegida-Demonstration im Dezember 2014. So haben beide ihre Geheimnisse voreinander, zugleich machen sich beide in der digitalen Öffentlichkeit angreifbar. Für Kipppunkt erntet Jan viel Lob, aber auch feindselige Kommentare bis hin zu ernsthaften Drohungen. Und als Sophia heimlich Jans Stuttgart-21-Gegnerin „Rita“ auf Facebook zu neuem Leben erweckt, geraten die Dinge für beide vollends außer Kontrolle.

Frank Rudkoffsky arbeitet mit erzählerischen Mitteln die Strategien und Mechanismen heraus, die in den sozialen Medien zu Irritation, Provokation und Hass führen. Er tut es mit Raffinesse und pointiertem Witz, doch zugleich mit dem nötigen Ernst. Wenn Sophia postet: „Herdprämie statt Frauenquote“, oder: „Hey PETA wie findet ihr meinen neuen Pelz?“, sind ihr Wut und Empörung gewiss. Obendrein klingt es lustig. Doch was, wenn Jan in seinem Blog lesen muss: „Wir beobachten dich, du Opfer“? Rudkoffsky gibt genügend Beispiele von Posts, mit denen die digitale Öffentlichkeit in ein grelles Licht gerückt wird. Grell und zugleich bedenklich, weil Hass und Drohung zum Ziel haben, die freie Argumentation abzutöten. Es geht um die Angst, die erzeugt werden soll bei denen, die eine andere Meinung vertreten. Mit Angst aber gibt es keine freie demokratische Diskussion.

Fake erzählt zupackend und zeichnet ein feinnerviges Psychogramm der beiden Protagonisten. Ihr Alltag als Mutter und Vater, als Karrierefrau und Arbeitssuchender ist schwierig. Jan und Sophia kämpfen beide gegen äußere Widerstände, vor allem aber gegen sich selbst. In den sozialen Medien verlieren sie schleichend die Contenance, wie Rudkoffsky anschaulich beschreibt. Vielleicht greift er bei originellen Vergleichen hin und wieder ein wenig allzu tief in die Trickkiste, doch das wird aufgewogen durch den subtilen Dreh, dass die Handlung letztlich ganz in der Familie bleibt. Wir sind alle Teil dieses irren Systems. Jan wie Sophia gestehen einander ihre „virtuellen“ Geheimnisse nicht ein. Das ist der eigentliche Drehpunkt (oder Kipppunkt) in diesem Roman. „Das Trollen hatte sich längst wie ein Tumor in meine Seele gefressen und streute immer mehr Metastasen im Alltag“, gesteht sich Sophia ein. Übrigens war sie es, die den erwähnten „Opfer“-Post an Jan gesendet hat. Ihre Streitlust betrifft so auch ihn, der seinerseits längst nicht alles preisgibt, was in Dresden geschehen war. So bleiben beide allein mit sich, als echte Gefahr aufzieht. Und die gute Auflösung am Ende trägt die uneingestandene Lüge weiter in sich. Man gewöhnt sich leicht daran. Die Lüge obsiegt, wo die Wahrheit nichts mehr gilt.

Titelbild

Frank Rudkoffsky: Fake. Roman.
Verlag Voland & Quist, Berlin 2019.
335 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783863912437

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