Franz Kafkas geschriebene Küsse

Zu seinem hundertsten Geburtstag (1983)

Von Marcel Reich-RanickiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Marcel Reich-Ranicki

Im Jahre 1964 schrieb Susan Sontag in ihrem berühmten Essay „Against Interpretation“, das Werk Kafkas sei „zum Opfer einer Massenvergewaltigung“ geworden – nämlich durch Armeen von Interpreten. Hierzu ist zweierlei zu sagen. Diese „Massenvergewaltigung“ hat, wenn sie denn tatsächlich erfolgte, dem Werk nichts anhaben können, es blüht und gedeiht, was sich nachweisen lässt, auf dem ganzen Erdball. Aber es stimmt, dass sich im Zusammenhang mit Kafka eine gewisse Müdigkeit bemerkbar macht, man klagt über Unlust, man spricht von Überdruss.

Doch richtet sich das alles nicht gegen seine Bücher, sondern gegen die Bücher über diese Bücher: Nicht Kafka ruft also den Unwillen hervor, vielmehr die internationale Kafka- Industrie. Anlässlich seines hundertsten Geburtstags im Jahre 1983 wurde dies deutlich, allzu deutlich: Neben wissenschaftlichen und populären Ausgaben der Texte gab es auch eine Flut von Untersuchungen und Biographien, Handbüchern und Bildbänden, von den Symposien, Kolloquien und Ausstellungen ganz zu schweigen. Die rasch spürbare Unzufriedenheit war ungleich größer als das von ähnlichen weltweiten Industrien hervorgerufene Unbehagen – also jenen im Zeichen Thomas Manns oder Bertolt Brechts.

Dies indes hat einen einfachen Grund: Während sich die Deutung der Werke der anderen Jahrhundert-Genies zumindest in Grenzen kontrollieren lässt, gilt das für die Bemühungen um die Gleichnisse Kafkas nicht mehr. Sie können ebenso viele Interpretationen wie Leser finden. Nach wie vor trifft Heinz Politzers Befund den Nagel auf den Kopf: „Diese Parabeln sind ‚Rorschachtests‘ der Literatur und ihre Deutung sagt mehr über den Charakter ihrer Deuter als über das Wesen ihres Schöpfers.“ Damit ist auch erklärt, was Kafka auf so beängstigende Weise bei den Interpreten beliebt gemacht hat und noch macht.

So werden überall und unaufhörlich Meinungen verbreitet – sie betreffen häufig Kafka und noch häufiger Meinungen über Kafka. Es mag daher an der Zeit sein, an das Diktum des Geistlichen im „Prozeß“ zu erinnern, an die Worte, mit denen er die Kommentare zum Gleichnis vom Türsteher vor dem Gesetz kritisiert: „Die Schrift ist unveränderlich, und die Meinungen sind oft nur ein Ausdruck der Verzweiflung darüber.“ Dass Kafka damit auf die Deutung nicht nur der Parabel „Vor dem Gesetz“ abzielte, sondern diese als pars pro toto behandelte, liegt auf der Hand.

Heute wissen wir besser denn je, dass die Meinungen, die in der Tat von der Verzweiflung oder doch von der Ratlosigkeit angesichts des unauslotbaren Werks von Kafka zeugen, veränderlich und – im Unterschied zu diesem Werk – vergänglich sind. So scheint es angebracht, nicht noch ein weiteres Mal Meinungen über seine Schriften oder über die bereits vorhandenen Meinungen zu äußern, sondern sich stattdessen einem Buch zuzuwenden, das noch aus seiner Feder stammt, das wir bisher nur teilweise kannten und dessen vollständige Veröffentlichung wohl das wichtigste Ereignis dieses Kafka-Jahres ist. Ich spreche von seinen „Briefen an Milena“.

Gewiss, ein so betiteltes Buch gab es schon 1952.Aber man hatte damals zehn der erhaltenen Briefe (aus unterschiedlichen Gründen) weggelassen und aus den anderen nicht weniger als zweiundsechzig (auch längere) Passagen gestrichen. Der Band von 1952 war nur ein Torso. Und die Frage der zeitlichen Anordnung der (von Kafka nicht datierten) Briefe ließ sich in den ersten Nachkriegsjahren nur provisorisch lösen: In der Ausgabe von 1952 war die Reihenfolge der Dokumente, wie wir heute wissen, zum großen Teil willkürlich und offenkundig falsch. In der durch geduldige Nachforschungen ermöglichten neuen (und durchweg überzeugenden) Anordnung ergibt diese Korrespondenz beinahe eine fortlaufende Geschichte – zumal das Material nicht nur mit vielen Anmerkungen versehen wurde, sondern auch mit einem opulenten Anhang, der unter anderem acht (sehr wichtige!) Briefe Milenas an Max Brod bietet, ferner ihren Nachruf auf Kafka und drei ihrer Feuilletons.

Kafka brauchte Frauen, die auf seine Gefühle reagieren würden, ohne ihn zu stören oder gar zu verwirren: Sie sollten ihn beschützen, doch unbedingt in Ruhe lassen. Er sehnte sich nach ihnen und konnte sie nicht ertragen. Er wollte sie an sich klammern und musste vor ihnen fliehen oder sie von sich stoßen. Er fürchtete die Frauen, die er bisweilen und insgeheim verabscheute und hasste. Denn sie verkörperten in seinen Augen etwas, was er bisweilen verabscheute, insgeheim hasste und immer fürchtete – nämlich das Leben: In seiner aggressiven Kritik an den Frauen verbirgt sich sein hilfloser Protest gegen die Welt. Damit mag es auch zusammenhängen, dass er das Bedürfnis hatte, Frauen zu vergewaltigen – freilich ohne sie zu sehen oder zu berühren. Mit Felice Bauer, seiner Freundin der Jahre 1912 bis 1917 und seiner zweimaligen Verlobten, gelang ihm dies zeitweise: Er nötigte sie, ihm nahezu täglich Briefe zu schreiben. Es war Vergewaltigung im Geist.

Dass er seine erotischen Beziehungen meist auf die Korrespondenz beschränken wollte, hatte einen guten Grund: Mit Hilfe von Briefen konnte er sich die Frauen vom Leibe halten und gleichwohl ihre Nähe, ja ihre Anwesenheit spüren. Noch bevor er Felice Bauer kennengelernt hatte, schrieb er Max Brod nach einem belanglosen Flirt in Weimar: „Wenn es wahr wäre, daß man Mädchen mit der Schrift binden kann?“ Mit Briefen und nur mit Briefen wollte er Felice Bauer an sich binden. Er warb um sie immer wieder und aufs Leidenschaftlichste. Aber er konnte nicht aufhören, sie aufs Nachdrücklichste zu warnen: Die eindeutig masochistische Selbstanklage ist das Leitmotiv dieser Zeugnisse einer qualvollen und, genau betrachtet, monologischen Beziehung. Masochistisch und monologisch war auch Kafkas Verhältnis zu der neben Felice Bauer wichtigsten Freundin seines Lebens – zu Milena Jesenská. Man hat diese beiden Liebesgeschichten miteinander verglichen, und in der Tat ist nicht nur deren äußerer Verlauf auffallend ähnlich. Kafka selber hat darauf in einem Brief an Milena hingewiesen und sie gleichsam um Verständnis gebeten: „Ich kann doch nur immer der gleiche sein und das gleiche erleben.“

Schon vorher hatte es Kafka für nötig gehalten, Milena über die Art seiner inzwischen abgeschlossenen Beziehung zu Felice kurz und aufrichtig zu belehren: „Fast 5 Jahre habe ich auf sie eingehauen (oder, wenn Sie so wollen, auf mich) …“ Alles spricht dafür, dass sich dies wiederholt hätte, wenn Milena nur bereit gewesen wäre, auf sich „einhauen“ zu lassen. Dies aber war nicht der Fall – oder nur wenige Monate lang. Die Geschichte mit Felice hat epische Breite, jene mit Milena hingegen ist nicht mehr als eine hochdramatische Episode.

Man übertreibt nicht, wenn man sagt, Kafka habe sich in die dreizehn Jahre jüngere Milena verliebt, ohne sie überhaupt zu kennen. Zwar hatte er sie im Herbst 1919 in einem Prager Café gesehen und wohl auch einige Worte mit ihr gewechselt. Doch nachdem sie ihn um die Erlaubnis für die Übersetzung seiner Arbeiten ins Tschechische gebeten hatte, beeilte er sich, ihr von Meran aus, wo er sich erholen wollte, mitzuteilen, dass er sich an ihr Gesicht „eigentlich in keiner bestimmten Einzelnheit“ erinnern könne. Das entspricht seiner ersten Tagebuch-Eintragung über Felice: „Knochiges leeres Gesicht, das seine Leere offen trug.“

So waren sie, die Frauen, die Kafka liebte, so sollten sie sein: gesichtslose Wesen, die, eben weil gesichtslos, seine Phantasie besonders stark anregen konnten und sich als Projektionsflächen für seine Visionen eigneten. In seiner permanenten Not brauchte er also weniger reale Personen weiblichen Geschlechts als vor allem Geschöpfe seiner Imagination. Diese freilich konnten ohne reale Vorbilder, die aber weder allzu deutlich noch allzu nah sein durften, nicht entstehen – und er hatte keine Hemmungen, auch das der neuen Korrespondenzpartnerin sehr bald und ohne Umschweife mitzuteilen: Gegen die „wirkliche Milena“, an die er seine Briefe abschickte, spielte er „die noch wirklichere“ aus, jene nämlich, die „den ganzen Tag hier war, im Zimmer, auf dem Balkon, in den Wolken“.

Doch mit der realen Milena Jesenská, die zusammen mit ihrem Mann Ernst Pollak in Wien lebte, hat die „noch wirklichere“, also das Wunschgebilde, das Kafka auf dem Balkon seiner Meraner Pension oder gar in den Wolken unterbrachte, nur wenig gemein. Das verrät eine andere und noch frühere Formulierung: Zwar konnte er sich an die Einzelheiten ihres Gesichts nicht mehr erinnern, gleichwohl glaubte er, in ihr „das fast Bäuerisch-Frische durch alle Zartheit“ zu erkennen.

Nun ließ sich über Milena, die ohne Zweifel eine ungewöhnliche Frau war, allerlei sagen, aber etwas „Bäuerisches“ gehörte schwerlich zu ihrem Wesen: Sie konnte weit eher als typisches Produkt einer städtischen oder großstädtischen Zivilisation gelten. Und bei aller Sensibilität war sie eher robust als zart. Ob sich schließlich im Zusammenhang mit ihrer Person gerade die Vokabel „Frische“ aufdrängte, sei dahingestellt.

Milena, die aus einer angesehenen Prager Familie stammte (ihr Vater war Professor der Medizin), fiel schon als Gymnasialschülerin durch ihren Lebenswandel auf: Sie ignorierte alle bürgerlichen Konventionen und hatte es offensichtlich darauf abgesehen, ihre Umwelt zu brüskieren. Sie machte viel von sich reden – durch ihre zahlreichen Liebesabenteuer mit Prager Künstlern und Intellektuellen (im Alter von sechzehn Jahren ließ sie eine Schwangerschaftsunterbrechung vornehmen) ebenso wie durch ihre außerordentliche Verschwendungssucht und durch mehr oder weniger ernste Konflikte mit der Polizei. Dass sie Morphinistin war (und noch lange Jahre vom Morphium abhängig blieb), sei nur am Rande erwähnt.

Dies alles hätte ihr Vater, ein tschechischer Nationalist und ein rabiater Antisemit, vielleicht noch geduldet. Als aber Milena auch noch ein bald schon stadtbekanntes Verhältnis mit einem Juden aus dem deutschsprachigen literarischen Milieu einging (nämlich mit ihrem künftigen Ehemann Ernst Pollak), glaubte der Vater – es war 1917 – rigoros einschreiten zu müssen: Er ließ die Einundzwanzigjährige zwangsweise in einer Nervenheilanstalt in der Nähe von Prag unterbringen.

1918 zog sie mit Pollak, den sie inzwischen geheiratet hatte, nach Wien, wo sie 1919 wegen eines Diebstahls verhaftet wurde. Sie habe das Geld gestohlen, um sich schöne Kleider kaufen zu können, soll sie dem Untersuchungsrichter geantwortet und als Begründung hinzugefügt haben: „War ich in erotische Krise.“ So hat es Gina Kaus überliefert. Jedenfalls wurde Milena zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Überdies hatte man ihr in der ersten Nachkriegszeit und auch noch später allerlei Betrugsversuche und andere Vergehen zur Last gelegt. Was ihre amourösen Abenteuer betrifft, so ist sicher, dass diese durch die Eheschließung keineswegs eingeschränkt wurden: Unter anderem hatte sie 1919 ein Verhältnis mit Hermann Broch.

An Kafka war Milena vorerst nur aus beruflichen Gründen interessiert: Sie wollte mit Übersetzungen seiner Prosa Geld verdienen. Aber sie hatte ein besonders ausgeprägtes Gespür für Menschen, zumal für Schriftsteller. Ihre Briefe an Brod beweisen eine starke Intelligenz, deren Wurzel wohl in der Intuition zu finden ist: Sie witterte Talente. Und so gehörte sie zu den wenigen, die damals, 1920, Kafkas Genie erkannten oder zumindest ahnten. Sie bewunderte ihn – und bestimmt war davon in ihren (nicht erhaltenen) Briefen an ihn ausgiebig die Rede.

Er antwortet freundlich und liebenswürdig, doch wendet er sich offensichtlich an eine ihm fremde, ja beinahe gleichgültige Person. Und eben weil sie ihm fremd und beinahe gleichgültig ist, zögert er nicht, sie zu fragen, ob sie, da es ihr in Wien nicht gefalle, vielleicht nach Meran kommen wolle. Wenig später wäre eine solche Anfrage unvorstellbar. 1912 schrieb Kafka in einem Brief an Max Brod: „Dieses Verlangen nach Menschen, das ich habe und das sich in Angst verwandelt, wenn es erfüllt wird …“ Seine Korrespondenz mit Milena zeigt gleich in den ersten Wochen beides: Kafkas Verlangen nach Menschen, zumal nach Frauen, und seine Angst vor ihnen.

Kaum hat er gesehen, dass Milena nicht nur an seinen literarischen Arbeiten interessiert ist, sondern auch an seiner Person – und schon sind die Skrupel verflogen, die ihn hindern könnten, sich über das einzige Thema zu verbreiten, das ihn fasziniert: über sich selbst. Sofort steht im Mittelpunkt der Briefe die Selbstdarstellung, die Korrespondenz wird, wie meist bei Kafka, zum Medium der Klage. Und er versucht nicht einmal, seine Egozentrik zu tarnen. Im Gegenteil, in einem seiner frühesten Briefe an Milena heißt es: „Heute schreibe ich nur meinetwegen, nur um etwas für mich getan zu haben …“ Und im nächsten Brief: „Ich will einmal nur von mir sprechen.“ Einmal? Die Wahrheit ist, dass er in dieser Korrespondenz von nichts anderem spricht, denn wo er auf die Adressatin und deren Leben eingeht, geschieht dies nahezu immer unter dem Aspekt ihrer Beziehung zu ihm. In manchen seiner Bekenntnisse halten sich Aufrichtigkeit und Brutalität die Waage: „Und dabei liebe ich doch gar nicht Dich, sondern mehr, sondern mein durch Dich mir geschenktes Dasein.“

Das wichtigste Kennzeichen dieses Selbstporträts ist das Selbstmitleid: So äußert sich Kafka über seine Krankheit, ihre mutmaßlichen Ursachen und verschiedenen Folgen, er schreibt in nahezu jedem Brief über seine Schlaflosigkeit und, kaum weniger häufig, über seine Lebensangst, über seine vielfachen Qualen und Leiden. Und wo er seine Träume schildert, sind es meist Alpträume.

Zugleich finden sich schon in diesen frühen Briefen Stichworte zu einem Porträt Milenas. Nur fällt auf, dass es stets die Gegenbegriffe sind zu jenen, mit denen er sich selber charakterisiert. Während Kafka sich für alt und mager hält, erscheint sie ihm jung, schön und gesund. Er sei schwach, sie hingegen stark und tüchtig. Gegen sein „Verbrauchtsein“ setzt er ihre „Frische“. Immer wieder unterrichtet er sie über seine Angst und Müdigkeit. Doch wo von ihr die Rede ist, betont er konsequent ihren Mut, ihre Unbekümmertheit und Fröhlichkeit.

Ein Stilisierungsprozess ist hier im Gange, und der eben unterscheidet die Briefe an Milena deutlich von jenen an Felice: Kafka braucht Milena nicht nur als Projektionsfläche für seine Visionen, sondern auch und vor allem als Gegenfigur – als Verkörperung der Daseinsbejahung und der Lebensfreude. In dieses Wunschbild verliebt er sich wie dereinst Pygmalion in die schöne Galathee.

Aber seiner ersten Liebeserklärung, mit der ein Brief endet, in dem er sich um sie Sorgen machte, folgt (im nächsten Brief) die aufrichtige und wohl auch masochistische Warnung: „Hätte ich voll und dauernd die Sorge so wie ich es geschrieben habe, ich hätte es über alle Hindernisse hinweg auf dem Liegestuhl nicht ausgehalten und wäre einen Tag später in Ihrem Zimmer gestanden. Die einzige Probe auf die Wahrhaftigkeit, alles andere sind Reden …“ Denn er, den es noch kurz davor nicht gestört hätte, wenn Milena nach Meran gekommen wäre, denkt nicht daran, zu ihr zu fahren: Schon steht sie ihm zu nahe, als dass er ein Treffen mit ihr riskieren möchte.

Später, im April 1921, gesteht Kafka seinem Freund Brod: „Ich kann offenbar, meiner Würde wegen, meines Hochmuts wegen … nur das lieben, was ich so hoch über mich stellen kann, daß es mir unerreichbar wird.“ Deshalb tut er auch alles, damit Milena für ihn „unerreichbar“ bleibt. Er überhäuft sie mit Liebeserklärungen, die beinahe immer konstatieren, worauf er offenbar besonderen Wert legt – die Distanz zwischen den beiden: „Ich bin auf einem so gefährlichen Weg, Milena. Sie stehn fest bei einem Baum, jung, schön, Ihre Augen strahlen das Leid der Welt nieder.“

In einem der Briefe redet er die (doch erheblich jüngere) Milena „Lehrerin!“ an, im nächsten beteuert er: „Sie können alles, aber zanken können Sie vielleicht am besten, ich wollte Ihr Schüler sein und immerfort Fehler machen, um nur immerfort von Ihnen ausgezankt werden zu dürfen.“ Nicht ohne Unterwürfigkeit schreibt er ihr: „… Und daß ich knie erfahre ich vielleicht erst dadurch, daß ich ganz nahe vor meinen Augen Ihre Füße sehe und sie streichle.“ Er fragt: „Was wäre von Dir zu ertragen schwer?“ Er beschwört sie schüchtern und inständig zugleich: „Bitte sag mir einmal wieder – nicht immer, das will ich gar nicht – sag mir einmal Du.“

Bereits Anfang Mai findet sich in einem Brief Kafkas an Brod sein enthusiastisches Urteil über Milena: „Sie ist ein lebendiges Feuer, wie ich es noch nie gesehen habe … Dabei äußerst zart, mutig, klug …“ Und Anfang Juni konnte er Milena mitteilen, er vertraue ihr „wie niemandem sonst auf der Welt“. Indes kannte Kafka dieses lebendige Feuer und die anderen ihr zugeschriebenen Attribute lediglich aus der Korrespondenz, nur mit Briefen hatte sie sich sein in der Tat nahezu unbegrenztes Vertrauen erworben.

Was stand dahinter? Um es kurz zu machen: Sie spürte seine (für die Umwelt nicht leicht erträgliche) Individualität und nahm sie sofort hin – ohne Widerspruch, ohne Kritik und ohne Vorbehalte. Seine ständige Larmoyanz akzeptierte sie, als sei es eine ganz normale und natürliche Erscheinung. Seine Egozentrik störte sie, vorerst jedenfalls, nicht im Geringsten. Auf seinen Exhibitionismus reagierte sie offenbar mit wachsendem Interesse, seine vielfachen Bekundungen des Selbstmitleids lösten bei ihr aus, was sie auslösen sollten: ihre Teilnahme und Sympathie, ihre Liebe.

Vor allem: Auf seine Komplexe, über die er sich in den Briefen an sie ausführlich, um nicht zu sagen, genüsslich äußerte und die er meist mit der Vokabel „Angst“ andeutete und zusammenfasste, ging sie behutsam und verständnisvoll ein. Die schönsten unter ihren Briefen seien jene, schrieb ihr Kafka, „in denen Du meiner ‚Angst‘ recht gibst und gleichzeitig zu erklären suchst, daß ich sie nicht haben muß“. So verbanden sich in Milenas Verhältnis zu Kafka Geduld mit Respekt, Mitleid mit Verehrung und nicht zuletzt Gefühl mit Geist. In dieser Hinsicht übertraf sie (die aus ihrer Hand stammenden Zeugnisse beweisen es unzweifelhaft) alle anderen Frauen in Kafkas Umgebung, die früheren ebenso wie die späteren – vielleicht mit Ausnahme seiner Schwester Ottla.

Aber zu stark, ja zu unbändig ist Milenas Vitalität, als dass sie sich längere Zeit mit einer Beziehung abfinden könnte, die sich nur in der Korrespondenz abspielt und offenbar auch abspielen soll. Sie wünscht ein Treffen, sie schlägt Kafka vor, nach Wien zu kommen. Er wehrt ab. Im nächsten Brief, nur einen Tag später geschrieben, erklärt er die Gründe – und schon seine Diktion mutet neurotisch, wenn nicht hysterisch an: „Ich will nicht (Milena, helfen Sie mir! Verstehen Sie mehr, als ich sage!) ich will nicht (das ist kein Stottern) nach Wien kommen, weil ich die Anstrengung geistig nicht aushalten würde. Ich bin geistig krank, die Lungenkrankheit ist nur ein Aus-den-Ufern-treten der geistigen Krankheit.“

Er beruft sich nun auf immer neue Umstände, die das Treffen angeblich unmöglich machen – oder malt es, falls er zu seiner „schrecklichen Überraschung“ doch in Wien sein sollte, in düsteren Farben aus: Er werde dann weder ein Frühstück noch ein Abendessen brauchen, sondern „eher eine Bahre“, auf der er sich „ein Weilchen niederlegen“ könne.

Es zeigt sich auch, dass Kafka die persönliche Begegnung mit Milena überhaupt nicht entbehrt. Ihm genügt die Korrespondenz. Gewiss, er schreibt, „diese Lust an Briefen“ sei „unsinnig“, aber „trotzdem lehnt man sich weit zurück und trinkt die Briefe und weiß nichts als daß man nicht aufhören will zu trinken“. Auch das Vokabular verrät, dass Milenas Briefe in seinen Augen zu hocherotischen Akten werden: Sie seien „nicht zum lesen da, sondern um ausgebreitet zu werden, das Gesicht in sie zu legen und den Verstand zu verlieren“. Er lese diese Briefe, heißt es an einer anderen Stelle, zitternd „wie unter der Sturmglocke“ und „so wie ein verdurstendes Tier trinkt“.

Die Korrespondenz wird hier zum Surrogat der realen Existenz. Mehr noch: Kafka möchte, dass auch Milena seine Briefe in diesem Sinne auffasst. Er schreibt ihr unmissverständlich: „Sagen Sie nicht, daß zwei Stunden Leben ohne weiteres mehr sind als zwei Seiten Schrift, die Schrift ist ärmer aber klarer.“ Schon in dieser frühen, auf die Korrespondenz beschränkten Phase der Beziehung empfindet er Milena, ähnlich wie die früheren Freundinnen, als Bedrohung seiner schriftstellerischen Arbeit und also seiner ganzen Persönlichkeit: Er suche ein Möbel, unter dem er sich verkriechen könne, und „bete zitternd und ganz besinnungslos in der Ecke, daß Du wie Du in diesem Brief hereingebraust bist wieder aus dem Fenster fliegen möchtest, ich kann doch einen Sturm nicht in meinem Zimmer halten“.

Von dieser Abwehrhaltung – bei aller Intensität der Zuneigung – zeugt auch ein großzügiges Angebot Kafkas: Als er hört, dass Milenas Ehe allmählich zerfalle und es ihr schwer sei, in Wien zu leben, offeriert er ihr Geld, damit sie für eine Weile verreisen könne – doch nicht etwa nach Meran oder gar nach Prag, wohin er bald zurückzukehren gedenkt: „Am besten dürfte für Sie eine friedliche Gegend in Böhmen sein.“ Und er fügt hinzu: „Es wird auch dabei das beste sein, wenn ich mich persönlich weder einmische noch zeige.“ Er möchte ihr helfen, nur soll sie in der Ferne bleiben.

Indes ließ sich Milena weder beirren noch entmutigen: Kafkas wiederholte Hinweise auf seine „sinnlose Versunkenheit in Angst“ und auf „diese innere Verschwörung gegen mich“ haben ihr Interesse an seiner Person eher gesteigert als gemindert. Schließlich vermochte sie seine Hemmungen zu beseitigen oder ihn jedenfalls zu überreden: Auf dem Rückweg von Meran nach Prag besuchte er sie in Wien und verbrachte mit ihr vier Tage. Sie gehören zu den glücklichsten seines Lebens.

In einem mehrere Monate später geschriebenen Brief an Max Brod meinte Milena, Kafka habe in diesen wenigen Tagen an ihrer Seite seine Angst „verloren“: „Bei mir hat er sich ausruhen können.“ Wir wissen, dass Kafka nicht impotent war. Aber die Furcht vor der Impotenz, gleichsam eine Komponente seiner „Angst“, hatte auf sein Persönlichkeitsbild einen entscheidenden Einfluss. 1913 gestand er Felice Bauer: „Meine eigentliche Furcht – es kann wohl nichts Schlimmeres gesagt und angehört werden – ist die, daß ich Dich niemals werde besitzen können. Daß ich im günstigsten Falle darauf beschränkt bleiben werde, wie ein besinnungslos treuer Hund Deine zerstreut mir überlassene Hand zu küssen, was kein Liebeszeichen sein wird, sondern nur ein Zeichen der Verzweiflung des zur Stummheit und ewigen Entfernung verurteilten Tieres.“ 1918, also noch vor der Milena-Episode, heißt es in einem Brief Kafkas an Brod, ihm sei „das Tiefere des eigentlichen Sexuallebens verschlossen“.

Offensichtlich war es Milena gelungen, ihm damals die Furcht vor der Impotenz zu nehmen, indem sie ihm das Glück eines unmittelbaren erotischen Erlebnisses bescherte, ohne ihm Sexuelles abzuverlangen. Mit anderen Worten: Die Wiener Tage erbrachten – so Hartmut Binder – „auch im Körperlichen einen Grad der Annäherung, den Kafka als geschlechtliche Vereinigung deuten konnte, auch wenn es sich de facto nicht um eine solche handelte“.

Sicher ist, dass seine in Prag sofort nach der Ankunft aus Wien geschriebenen Briefe vor Seligkeit überströmten: „Wenn man durch Glück umkommen kann, dann muß es mir geschehn. Und kann ein zum Sterben Bestimmter durch Glück am Leben bleiben, dann werde ich am Leben bleiben.“ Er brauche nun „am liebsten alle Zeit die es gibt für Dich … für das Denken an Dich, für das Atmen in Dir“. Und anders als früher sieht er sich selber jetzt zusammen mit Milena: Er könne nichts mehr schreiben, „als das, was nur uns, uns im Gedränge der Welt, nur uns betrifft“. Und: „Entweder ist die Welt so winzig oder wir so riesenhaft, jedenfalls füllen wir sie vollständig.“

Nun heißt es plötzlich: „Alles Schreiben scheint mir wertlos, ist es auch.“ Er möchte gleich wieder nach Wien fahren – oder Milena soll zu ihm kommen. Er redet sie „Mutter Milena“ an, er vergleicht sich mit einem Kind, „das etwas sehr Böses getan hat und nun steht es vor der Mutter und weint und weint …“ Er weiß nicht, „wie das Glück umfassen mit Worten Augen Händen und dem armen Herzen, das Glück, daß Du da bist und doch auch mir gehörst“. Er spricht vom gemeinsamen Sterben: „Aber was auch geschehn mag, es wird in Deiner Nähe sein.“

Doch schon nach elf Tagen erklärt Kafka, dass die wunderbare Wirkung der „körperlichen Nähe“ Milenas sich verflüchtige. Wieder wird seine „Angst“ zum Leitmotiv der Briefe, er spricht von ihr wie von einer Partnerin: „Gegenseitig in einander verkrampft wälzen wir uns durch die Nächte.“ Beide, Milena und er, seien sie verheiratet: „Du in Wien, ich mit der Angst in Prag …“ Bisweilen will es scheinen, als seien diese hocherotischen Dokumente Akte der Selbstbefriedigung: „So habe ich nur eine halbe Seite geschrieben und bin wieder bei Dir, liege über dem Brief, wie ich neben Dir lag damals im Walde.“ Wieder sind die Schleusen seines Selbstmitleids weit geöffnet.

Zwei Wochen nach Kafkas Rückkehr beginnt in der Korrespondenz aufs Neue der Nervenkrieg, den er gegen Milena und somit gegen sich selber führt und offenbar führen muss. Sie kündigt an, dass sie nach Prag kommen wolle – und schon widersetzt er sich ihrer Absicht: „… komme lieber nicht, Du müßtest ja wieder wegfahren.“ Am nächsten Tag wiederholt er diesen Protest und bedauert die „fürchterliche Selbstquälerei“ Milenas, die darin bestehe, dass sie ihm täglich Briefe schreibe: Sie solle nun seltener schreiben. Wieder am nächsten Tag widerruft er diese Aufforderung und verlangt, dass sie ihm doch täglich schreibe.

Mehrfach erklärt er ihr, dass und warum er nach Wien nicht kommen wolle und könne. Nach vielen Bitten, Warnungen, Absagen und anderen Komplikationen treffen sich Kafka und Milena in Gmünd, der Grenzstation zwischen Österreich und der Tschechoslowakei. Doch kurz vor diesem Treffen hält er es für angemessen, ihr sein erstes Sexualerlebnis zu beschreiben: Er war Anfang zwanzig, als er mit einer Prager Ladenverkäuferin die Nacht verbrachte. Am Morgen sei er glücklich gewesen, doch habe dieses Glück vor allem darin bestanden, „daß das Ganze nicht noch abscheulicher, nicht noch schmutziger gewesen war“. Im selben Brief spricht er von seiner „Angst“ vor der bevorstehenden Gmündner Nacht.

Die kurze Zusammenkunft in Gmünd, Mitte August 1920, versetzte Kafka einen Schock, den er nie überwinden konnte. Sexuelles Versagen mag dabei eine Rolle gespielt haben. Jedenfalls erinnerte sich Kafka an die knapp vierundzwanzig Stunden in Gmünd mit düstersten Wendungen: „Mißverständnisse, Schande, fast unvergängliche Schande.“ Er sei dorthin gekommen, schrieb er in einem Brief an Milena, „ohne es zu wissen, großartig sicher, als könne mir niemals mehr etwas geschehn, wie ein Hausbesitzer kam ich hin“. Aber er musste erfahren, dass sie keine Möglichkeit des Zusammenlebens mit ihm sah, zumal sie sich allen Krisen zum Trotz doch nicht von ihrem Mann trennen wollte. Im Klartext: Sie war nicht mehr bereit, sich von Kafka quälen zu lassen.

Gleichwohl wird die Korrespondenz mit Milena kontinuiert, und Kafkas Abhängigkeit von ihr scheint kaum schwächer. Aber es ist unverkennbar, dass die Leidenschaft allmählich ausklingt und die gegenseitige Entfremdung wächst. Der Ton der Briefe ist jetzt ruhiger, verhaltener und freilich auch bitterer, die Liebeserklärungen sind eher elegisch als euphorisch: „Gestern habe ich von Dir geträumt … Nur das weiß ich noch, daß wir immerfort ineinander übergingen, ich war Du, Du warst ich.“ Indes macht er sich keine Illusionen, er ist sicher, „daß wir niemals zusammenleben werden und können“.

Er bittet sie, ihm nun seltener zu schreiben: „Die täglichen Briefe schwächen statt zu stärken.“ Doch das hilft nicht: „Wenn kein Brief kommt, stelle ich es aus und wenn ein Brief kommt klage ich …“ Je größer der Abstand zwischen ihm und Milena wird, desto fragwürdiger scheint ihm jegliches Korrespondieren: „… Fast hätte ich gesagt: ich glaube Briefen überhaupt nicht mehr, noch im schönsten ist ein Wurm.“ Im November 1920 beklagt er seine „Ohnmacht über die Briefe hinauszukommen, Ohnmacht sowohl Dir als mir gegenüber …“ Und: „Diese Briefe sind doch nur Qual, kommen aus Qual, unheilbarer, machen zur Qual, unheilbare.“

Im Januar 1921 teilte Kafka Max Brod mit, er habe Milena „nur um eine Gnade“ gebeten: „nicht mehr zu schreiben und zu verhindern, daß wir einander jemals sehn“. Etwa gleichzeitig schrieb Milena, ihre Freundschaft mit Kafka resümierend, ebenfalls an Max Brod: „Vielleicht war ich zu sehr Weib, um die Kraft zu haben, mich diesem Leben zu unterwerfen, von dem ich wußte, daß es strengste Askese bedeuten würde, auf Lebenszeit.“ Und als Kafka im April 1921die Nachricht erhielt, Milena sei lungenkrank, behauptete er, wiederum im Brief an Brod: „Meine Phantasie reicht nicht aus, M. krank mir vorzustellen.“ Seine Phantasie hätte schon ausgereicht, nur wollte er das Bild Milenas, das in seiner Vorstellung entstanden war, auf keinen Fall revidieren.

Er tat nun alles, was in seiner Macht war, um Milena nicht wiedersehen zu müssen, er kündigte an, er werde Prag oder den Kurort in der Tatra, in dem er sich zeitweise aufhielt, sofort verlassen, falls sie dort zufällig auftauchen sollte. Er trifft sie erst im Oktober 1921, um ihr den größten Schatz zu überreichen, den er besitzt – seine Tagebücher aus den Jahren 1910 bis 1920. War es ein Abschiedsgeschenk? Oder wollte er auf diese Weise das Interesse Milenas für seine Person aufs Neue wecken? Jedenfalls wusste er, dass ihn niemand besser verstanden und niemand mehr geliebt hat – was vielleicht dasselbe bedeutet – als Milena Jesenská.

Einige Monate später, im Frühjahr 1922, nimmt Kafka die Korrespondenz mit Milena doch wieder auf. Aber die Briefe, die er jetzt an sie richtet, unterscheiden sich von den früheren nahezu in jeder Hinsicht. Schon die Anrede signalisiert einen Wandel: Sie lautet nun „Sie“ und „Frau Milena“. Erstaunlich auch seine Erklärung: „Sie wissen ja, wie ich Briefe hasse.“ Alles Unglück seines Lebens komme „von Briefen oder von der Möglichkeit des Briefeschreibens her“. Und: „Wie kam man nur auf den Gedanken, daß Menschen durch Briefe mit einander verkehren können!“ Dies beklagt einer, dessen Briefe, Hunderte und Tausende, Zeugnisse eines Daseins sind, das er selber als „nichtgelebtes Leben“ (so in einem Brief aus dem Jahre 1917) und als „sinnlos“ empfand.

Mehr noch: Nicht obwohl, sondern eben weil seine Freundschaften mit Frauen, ja seine Erotik im weitesten Sinne, kaum die Bühne verließen, die er sich aus Papier erbaut hatte, stellte Kafka, der doch einst Milena davon überzeugen wollte, dass zwei Stunden Leben nicht unbedingt mehr seien als zwei Seiten Schrift, jetzt resigniert fest: „Briefe schreiben aber heißt, sich vor den Gespenstern entblößen, worauf sie gierig warten. Geschriebene Küsse kommen nicht an ihren Ort, sondern werden von den Gespenstern auf dem Wege ausgetrunken.“

Der ständigen Selbstentblößung entsprechen die vielen beinahe manisch anmutenden Äußerungen der Selbstqual und der Selbstanklage: „Im Umkreis um mich ist es unmöglich menschlich zu leben.“ Ähnliches, könnte man einwenden, lasse sich in der Korrespondenz Kafkas auch mit anderen Partnern beobachten. Das trifft schon zu, doch niemals geht seine Selbstqual so rasch und so entschieden in den Selbsthass über und seine Selbstanklage in die Selbsterniedrigung wie in diesen Briefen: „Schmutzig bin ich Milena, endlos schmutzig, darum mache ich ein solches Geschrei mit der Reinheit.“

In einem früheren, noch in Meran geschriebenen Brief findet sich eine Gegenüberstellung, die beides zugleich erkennen lässt – Kafkas Bedürfnis, die Geliebte zu verklären, und seinen Selbstekel: „Du bist für mich keine Frau, bist ein Mädchen, wie ich kein Mädchenhafteres gesehen habe, ich werde Dir ja die Hand nicht zu reichen wagen, Mädchen, die schmutzige, zuckende, krallige, fahrige, unsichere, heißkalte Hand.“

Man darf nicht vergessen, dass Milena im Unterschied zu Felice Bauer, Grete Bloch, Julie Wohryzek, Dora Diamant und anderen Freundinnen Kafkas keine Jüdin war. In einem jüdischen Milieu aufgewachsen, in dem Kontakte mit Christen eher spärlich waren – als seine Schwester Ottla einen Nichtjuden heiratete, befürwortete Kafka diese Ehe, hielt sie aber für etwas „Außerordentliches“ –, sah er in Milena eine Repräsentantin jener fremden Welt, die ihn reizte und beunruhigte, anzog und belastete.

Schon in einem der frühen Briefe stellte er mit Verwunderung fest, dass sie offenbar „keine Angst vor dem Judentum“ habe. Immer wieder glaubte er Milena daran erinnern zu müssen, dass er ein Jude sei, mehrfach bezeichnete er sein Judentum als „gefährlich“. Wie sehr Kafka an diesem Komplex gelitten hat, zeigt seine Bemerkung, für den „Europäer“ – womit er den Nichtjuden meint – hätten alle Juden „das gleiche Negergesicht“.

Er sprach mit Ekel vom Antisemitismus, von jener „gemeinsamen abscheulichen, giftigen, aber auch alten und im Grunde ewigen Speise“, aus der sich, wenn einmal diese Schüssel auf den Tisch gestellt ist, jeder Jude seinen Teil zu nehmen habe. Andererseits unterlag Kafka – hierauf wurde gelegentlich hingewiesen –, als er seinen Mangel an seelischem Gleichgewicht der jüdischen Abstammung und der jüdischen Umgebung zuschrieb, in hohem Maße der antisemitischen Stimmung im alten Österreich ebenso wie in der jungen Tschechoslowakei.

Dies sollte man nicht übersehen: Für nahezu alle deutschen Schriftsteller jüdischer Herkunft wurde das Judentum im ersten Drittel unseres Jahrhunderts zu einer Last, die sie abwerfen wollten oder resigniert mitschleppten oder wie ein Banner zu tragen versuchten. Fast alle haben unter ihrem Judentum gelitten, fast alle haben mit ihm jahrzehntelang gehadert. Dass dies auch und vor allem für Kafka gilt, weiß jeder, der seine Bücher gelesen hat.

Es ist sehr aufschlussreich, dass er am Anfang der Korrespondenz mit Milena sich bemüht, ihr die besondere Stellung der Juden innerhalb der Gesellschaft und die sich daraus ergebenden Folgen zu erklären, später jedoch darauf verzichtet: Der jüdische Selbsthass feiert nun wahre Orgien – bis hin zu Kafkas Geständnis, er möchte bisweilen alle Juden auf einmal ersticken, sich selber eingeschlossen.

Aber wie radikal und grausam manche Urteile Kafkas über die Juden auch sein mögen – er folgt in dieser schmerzhaften Selbstauseinandersetzung einer uralten jüdischen Tradition. Es spricht wahrlich nicht gegen die Juden, dass sie, ungeachtet des damit verbundenen Risikos, sich nie gescheut haben, ihre eigenen Schwächen und Schwierigkeiten, Makel und Laster vor aller Welt auszubreiten: Unter den Anklägern der Juden waren die Juden selber stets die ersten. Wer will, mag diese Tradition bis zu den Propheten des Alten Testaments zurückverfolgen.

Und wer einen Schlüssel zu den leidend-aggressiven Tiraden Kafkas gegen die Juden sucht (er hat sich zu diesem Thema unzählige Male auch in einem entschieden positiven Sinne geäußert), der sei auf einen beiläufigen Satz aufmerksam gemacht, der sich in einem Brief an Milena findet und der das Motto dieser Briefsammlung ebenso sein könnte wie des ganzen Werks von Franz Kafka. Der Satz lautet: „Ich beschäftige mich mit nichts anderem als mit Gefoltertwerden und Foltern.“

Hinweis der Redaktion: Der Beitrag ist zuerst erschienen in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 2. Juli 1983, Bilder und Zeiten, S. 1f. Wiederabdruck auch in Marcel Reich-Ranicki: Sieben Wegbereiter. Schriftsteller des zwanzigsten Jahrhunderts. Stuttgart, München: Deutsche Verlags-Anstalt 2002 (Taschenbuch-Ausgabe: München:dtv 2004), S. 205–224. Die erneute Veröffentlichung in literaturkritik.de erfolgt mit Genehmigung von Marcel Reich-Ranickis Erbin Carla Ranicki und seines Nachlassverwalters.