Hiob im Land der zu kurz Gekommenen
In „Rechtswalzer“ beleuchtet der Wiener Franzobel in Form eines Kriminalromans die neuen politischen Verhältnisse im Land
Von Beat Mazenauer
Wie steht es mit der politischen Moral in einem Land, in dem der neue Innenminister beim eigenen Geheimdienst eine Razzia veranstaltet, um an kompromittierendes Material über Freunde zu kommen? Es steht so wie aktuell in Österreich unter der Regierungskoalition von Sebastian Kurz. Und es könnte noch schlimmer kommen, wenn Franzobel recht behält mit seinem Roman Rechtswalzer, in dem er einen Blick in die nahe Zukunft wagt. 1 – 2 – 3 und hintenherum – akkurat im Führertakt.
Österreich verändert sich schleichend. Auf dem Kalenderblatt steht der 6. September 2024, der Gastrounternehmer Malte Dinger hat eben seinen außerordentlich begabten Sohn in die Schule gebracht, als sich in der U-Bahn eine Fahrscheinkontrolle nähert. Von da an geht alles schief: Monatskarte vergessen, Konto überzogen, ein unglücklicher Armstoß – Malte Dinger gerät in die Fänge der neuen Staatsmacht, die unter dem „Meister“ und seiner LIMES-Partei jegliche Insubordination im Keim erstickt. Und weil er in der U-Haft hin und wieder von Gerechtigkeitsschüben heimgesucht wird, bleibt er wie ein Krimineller weggeschlossen. Das strenge Haftregime, von der Regierung verordnet, ist durch Willkür und schwelende Konflikte geprägt. Malte muss sich gegen georgische Verbrecher wie gegen Neonazis wehren. Immerhin teilt er die Zelle mit einem friedlichen Nachbar, dem berüchtigten Lobbyisten Persenbeug. Der leiht ihm das Buch Hiob von Joseph Roth, in dem sich Malte Dinger wider Willen immer mehr wiederzuerkennen glaubt. Welcher Gott bürdet ihm diese Strafe auf?
Zur selben Zeit geschehen draußen in der Welt seltsame Dinge. Ein grauslicher Mord in der Wiener Strozzigasse offenbart Verbindungen zum Verschwinden des Gemeindesekretärs von Untergrutzenbach sowie weitere Ungereimtheiten. Kommissar Falt Groschen fährt ins Dorf, in dem die Familie Hauenstein mit Baugeschäften reich geworden ist und sich entsprechend neureiche Allüren angewöhnt hat. Das alles ist unerfreulich, führt aber kaum weiter. Gerüchte über Protektion, dubiose Machenschaften und ein im Wortsinn verheerendes Geschäft mit Saudi-Arabien lassen sich kaum belegen. Doch bei Philippi, dem Wiener Opernball, soll alles ans Licht kommen.
Die beiden voneinander unabhängigen Erzählstränge formen sich mehr und mehr zum dritten Fall von Kommissar Groschen unter dem Titel Rechtswalzer. Vor fünf Jahren hat Franzobel die Krimireihe um diesen Kommissar ins Leben gerufen. Ausgeprägter als bisher macht Rechtswalzer deutlich, dass es Franzobel nicht allein darum geht, die Regeln des Krimigenres parodistisch einzulösen. Es schwingt hier ein spürbar grimmiger Unterton mit. In einer Nachbemerkung am Ende des Buches fragt der Autor: „Leistet man Widerstand, wenn das eigene Leben bedroht wird?“ Auf diese Frage sucht auch Malte Dinger eine Antwort, derweil sie Kommissar Groschen verdrängt, bis er zuletzt den Pressionen nachgibt und doch in die LIMES-Partei eintritt.
Das gesellschaftliche Klima unter ihrer Herrschaft verschärft sich vorerst nur für Ausländer, Flüchtlinge, politische Gegner („die Gestrigen“) oder Schwule, deren Rechte annulliert werden. Selbstverständlich werden auch Verbrecher wie Malte Dinger härter angefasst. Doch im Alltag geht alles seinen gewohnten Gang. LIMES verspricht das Blaue und Türkise vom Himmel herunter, sodass Grenzschließung und Wiedereinführung der Todesstrafe die zu kurz Gekommenen in ihrem Alltag kaum behelligt.
Diesen schleichenden Prozess zeichnet Franzobel eindrücklich und lakonisch nach, ohne die Veränderungen aufzubauschen. Die Gleichschaltung geschieht mit tückischer Gemütlichkeit. Doch Malte Dinger bezeugt, dass es jeden treffen kann. Rechtswalzer ist demnach ein Kriminalroman, der sein Genre eher als Fassade benutzt. In der erwähnten Nachbemerkung erinnert der Autor daran, dass dessen Handlung tatsächlichen Begebenheiten nachempfunden ist – nicht zuletzt mit Blick auf die politischen Veränderungen, die es dem Innenminister erlauben, die eigenen Spezis im Zentrum der Macht zu installieren.
Natürlich besteht die Gefahr, dass sich Kriminalroman und politische Geschichte einander in die Quere kommen. Stilistisch gibt sich Franzobel locker und souverän. Mit schneidender Präzision, gerade wo es um die mörderischen Grausamkeiten geht, wickelt er die beiden Erzählstränge ab. Gerne gibt er auch seinem Hang zu schrägen, mitunter flapsigen Formulierungen nach, was im Fall des Wortverdrehers und Rechtsanwalts Kressbach zu witzigen Effekten führt, wenn dieser beispielsweise in seinem Mandaten das Opfer einer „wichterlichen Rillkür“ sieht. Farce und Dramatik halten sich die Balance. Dennoch bewegt sich dieser gut unterhaltende Krimi auf einer anderen literarischen Ebene als Franzobels letzter Roman, das beklemmende Tableau Das Floß der Medusa (2017).
Wie angedeutet finden die beiden Handlungsstränge im Wiener Epizentrum zusammen: dem glamourösen Opernball im Frühjahr 2025. Unter den Augen des „Meisters“ sorgen hier alle Beteiligten für ein kräftiges Tohuwabohu. Wem das Setting bekannt vorkommt, der erhält vom belesenen Mafioso Edi den intertextuellen Hinweis auf Josef Haslingers Opernball geliefert: „Guter Roman!“, bezeugt er.
Rechtswalzer ist nicht frei von Übertreibung und zugespitzter Originalität – aber vielleicht braucht es das heute, um die österreichischen Zustände aus der Sicht eines kritischen Staatsbürgers zu beschreiben. Franzobel benutzt das Krimigenre als narrativen Motor für eine wilde operettenhafte Farce, die zwischen den Zeilen signalisiert, dass sich Franzobel trotz aller Besorgnis den Spaß noch nicht ganz verderben lässt. Zugleich sollte die Notiz ganz am Ende des Buches mitbedacht werden: Franzobel widmet den Roman seinen zwei Söhnen und generell allen Kindern, „auf dass sie allen gesellschaftlichen Entwicklungen, die in Richtung Totalitarismus gehen, mutig trotzen“.
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