Leitmetapher der Gegenwart?

Alexander Friedrich erforscht die „Metaphorologie der Vernetzung“

Von Lina SchröderRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lina Schröder

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nicht mehr Descartes „Cogito ergo sum – ich denke, also bin ich“ sondern „Possideo aditum reti ergo sum – ich bin vernetzt, also bin ich“ heißt die neue Lebensdevise. Aber wie ist es dazu gekommen? Der Philosoph Alexander Friedrich widmet seine Studie genau dieser Fragestellung, indem er aus historisch-systematischer Perspektive zu begründen versucht, dass sich das Konzept „Netz“ im Laufe der Moderne zu einer kulturellen Leitmetapher entwickelt habe. Aus seiner These resultiert die Betrachtung beider Konzepte, nämlich das des „Netzes“ einerseits und das der „kulturellen Leitmetapher“ andererseits, welche, so Friedrich, „innerhalb der letzten Jahrzehnte eine erstaunliche Konjunktur erfahren“ haben, als logische Konsequenz. Dementsprechend unterteilt der Autor seine Dissertationsschrift nach einer ausführlichen Einleitung zur Klärung der Untersuchungsfragen und -methodik in zwei große Teile. Der erste befasst sich ausführlich mit der Herleitung und Erörterung des Metaphernkonzeptes, der zweite mit dem Netzbegriff unterschiedlicher Epochen. Bereits die hierzu gewählten Kapitelüberschriften evozieren, dass beide Konzepte eng miteinander verwoben sind. In einem Schlusskapitel werden sie schließlich zusammengeführt.

Im ersten Teil marschiert Friedrich in beeindruckender Art und Weise durch die verschiedenen philosophischen Strömungen und analysiert die Bedeutung, Entwicklung und Vernetzung der Metapher. Er beginnt den Rückblick mit der Kulturphilosophie (Blumenberg), geht weiter über die Naturphilosophie (Aristoteles), die Aporetik (Derrida) sowie die Sprachphilosophie (Ricœur), und schließt mit einer Analyse der Metapher als Methode. Friedrich führt verschiedene Metapherntheorien an, erklärt sie und zeigt ihre Schwächen auf. Diese reichen von inhaltsleeren Definitionen, der Unterscheidung zwischen „lebendigen und toten Metaphern“, der Problematik der Gleichsetzung von Struktur und Dynamik bis hin zu Übersetzungsschwierigkeiten. Beispielsweise sage Blumenberg viel darüber, was Metaphern leisten, aber wenig darüber, was sie eigentlich sind. Mit ihren zwei Eigentümlichkeiten, der Metaphorizität und Historizität, von Friedrich als „metaphorologischen Knoten“ bezeichnet, würden Metaphern keine Negation kennen, sondern sie hören dann auf, wenn sich die mit ihnen verbundenen Tatsachen als echt erweisen. Auch Aristoteles schätzte, so der Autor, die Metapher wegen ihrer epistemischen Qualitäten. Seine Definition „bestimmt die metaphorá als die Übertragung (epiphorá) eines vom üblichen Sprachgebrauch (kýron) abweichenden Wortes (onomatos allotríou).“ Da allerdings „metaphorá“ und „epiphorá“ nicht dasselbe bedeuten könnten, sei eine Metapher eher als „die Anreicherung eines Wortes mit einer von seinem gewöhnlichen Gebrauch (kýron) abweichenden Bedeutung“ zu definieren – dies stellte, so Friedrich, bereits der Interpret des Aristoteles John Kirby fest.

Innerhalb dieses Wechselspiels von Stabilität und Dynamik entwickelt Friedrich am Ende seiner philosophischen Betrachtung das „Modell komplex stratifizierter Metaphern“, indem er zunächst die Logik einer epistemischen Metapher durch die symmetrische Wechselbeziehung der Analogie, den Eigensinn ihrer technotrophischen Referenz, den abduktiven Prozess ihrer Stabilisierung sowie den Grad ihrer Stratifikation determiniert. Ihre Funktion liege dabei vor allem in der Beschreibung des niemals komplett überschaubaren Ganzen. Da Leitmetaphern das Erbe ihres Vorgängers als dessen Alternative weitertrügen, ergänze die kulturelle Leitmetapher ihr vorangehende Logiken um die totalisierende Tendenz, ihren präskriptiven Charakter und ihre strukturelle Ambivalenz.

Von diesen Befunden ausgehend stellt Friedrich im zweiten Teil der Dissertation als Untersuchungskriterien für das Netz-Konzept die Referenz, Funktion, Struktur und Dynamik heraus. Auch die Netzmetaphorik habe ihre Wurzeln in der Antike, wobei sie hinsichtlich der Referenz und Funktion differenziert werden müsse. Ausgehend von textilen, aus Knoten und Verbindungen bestehenden Netzen zum Fangen, Bergen und Umfassen bemüht er zunächst erneut Derrida und Ricœur, um dem Leser die Entwicklung des Konzeptes nahe zu bringen. Derrida erkenne im Netz ein „Gewebe“, Ricœur hingegen die „Organisationsform komplexer Kommunikations- und Infrastrukturen“. Diese Differenz bzw. Transformation in der Metapherntheorie nimmt Friedrich zum Ausgangspunkt von kulturwissenschaftlich orientierten Textanalysen: Publikationen von Jeremy Rifkin, Manuel Castells und Peter Sloterdijk, Aussagen von Spitzenpolitikern zur europäischen Fiskalpolitik und Feuilletonartikel zum Thema Internet werden, wie bereits die im ersten Teil vorgestellten philosophischen Strömungen, kleinschrittig und scharf analysiert.

Spätestens im 18./19. Jahrhundert ließe sich, so der Befund, die Modernisierung der Netzmetaphorik feststellen, welche in einem direkten Zusammenhang mit dem Fortschritt der neuzeitlichen Wissenschaft und Technik zu sehen sei. Für diese Zeit hält Friedrich die Entstehung eines neuen Netzparadigmas fest: War es zuvor ein textiles Artefakt, rücke nun mit der systemischen Interpretation seine funktionale Struktur in den Mittelpunkt: das Netz als Organisations- und Infrastruktur, Blutkreislauf, Nervensystem, als Telegraphie. Während textile Netze, so Friedrich weiter, in Form des Fangens und Bergens umschließen, schließen systemische Netze an, indem sie verbinden und verteilen. Die Gemeinsamkeit beider Netze liege in ihrer Morphologie, welche sich wiederum auf ihre gemeinsame Struktur zurückführen ließe. Der Zusammenhang zwischen der Metaphorik des 19. und des 21. Jahrhunderts, so der Autor, sei wiederum ein reziproker: Durch die Zirkulation erfolge eine Verschmelzung von Technik und Organismus; als neue Funktionen des Netzes seien die Kommunikation und Organisation festzuhalten: so ließen sich technische, soziale und organische Netze unterscheiden. Zudem sei es das Netz selbst, das seine Subjekte schaffe, indem es die Vorschriften und Verhaltensweisen einer bestimmten gesellschaftlichen Formation reguliere.

Friedrich gelingt, soweit es ein Historiker beurteilen kann, durch eine intensive Analyse unterschiedlicher philosophischer Strömungen eine ausgezeichnete und scharfe Auseinandersetzung im Hinblick auf das Konzept der Metapher. Seine Schlussfolgerungen bezüglich des sich wandelnden Netzkonzeptes gestalten sich jedoch als schwierig, da diese als Unterscheidungskategorie vorwiegend den gängigen Infrastrukturbegriff zum Ausgang nehmen, von dem sich Friedrich nicht zu lösen vermag und den er daher leider völlig unreflektiert übernimmt. Denn mit einem etwas erweiterten Infrastrukturverständnis avanciert das Netz nicht, wie Friedrich schlussfolgert, von einer ein- und umschließenden Vorrichtung zur Anschließenden, Verteilenden, da sich nicht die Funktion des Netzes als Metapher verändert hat, sondern der in Infrastruktur hinein interpretierte Daseinssinn: Das Netzwerk als neue Selbstverständlichkeit, als kulturelle Leitidee bringt dies zum Ausdruck. Dem Autor sei daher geraten, die Herleitung seiner These, dass das Netz sich im 19. Jahrhundert von einer epistemischen zu einer kulturellen Leitmetapher entwickelte – der grundsätzlich zugestimmt werden kann –, vor dem Hintergrund eines neuen Infrastrukturverständnisses noch einmal zu überprüfen.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Alexander Friedrich: Metaphorologie der Vernetzung. Zur Theorie kultureller Leitmetaphern.
Wilhelm Fink Verlag, Paderborn 2015.
425 Seiten, 59,00 EUR.
ISBN-13: 9783770558605

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch