Lyrische Zauberzettel
Frieda Paris erstaunt mit ihrem Langgedicht „Nachwasser“
Von Herbert Fuchs
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseNachwasser ist der erste Gedichtband der jungen Autorin Frieda Paris. Sie wurde 1986 in Ulm geboren, hat sich, wie man dem Klapptext des Buches entnehmen kann, nach dem Abitur zur Damenschneiderin ausbilden lassen und lebt seit 2010 in Wien. Dort studierte sie Theater-, Film- und Medienwissenschaften. 2022 veröffentlichte sie ihr Hörspiel Herzbefellt, das sich sowohl sprachlich wie inhaltlich auf den vorliegenden Lyrikband bezieht. Im Druck wie in der Seitenaufteilung kommt Nachwasser unkonventionell daher. Das Buch besteht aus 111 Texten, Inhaltsverzeichnis, Quellenangaben, Erläuterungen, Widmung, Dankesworte eingeschlossen. Manche der Texte umfassen mehrere Seiten, andere, vor allem zum Ende hin, wenige Zeilen oder nur ein Wort. Darunter sind prosaähnliche Abschnitte, aber auch lyrische Texte, die aus Strophen bestehen und wie ein herkömmliches Gedicht aufgebaut sind.
Die ungewöhnliche Zählweise und Aufgliederung betonen den Prozesscharakter und das Laborhafte des Schreibens. Die Autorin zeigt und erläutert immer wieder, wie ihr Langgedicht, so bezeichnet Paris ihren Text, entsteht. Der Leser wird zu einem „beobachtenden“ Leser, der dem Werden eines literarischen Kunstwerks beiwohnt. Darauf verweisen viele Zeilen, zum Beispiel:
mich selbst als eine Art Ankunft zu begreifen
und meine damit
die mir innewohnende Landkarte
nach außen zu wenden,
zu erweitern
Mein Vogel?
ich muss
ans NACHWASSER
Den „Vogel“ hat das lyrische Ich als seinen fiktiven Gesprächspartner erfunden, denn das Ich in einem Gedicht braucht, so heißt es einmal, immer ein Du. Außerdem hilft die Kommunikation mit dem Schreibvogel, das Alleinsein als eine Voraussetzung für Dichten in produktive Kreativität umzuwandeln. Dabei wird das Sprachmaterial „aufgefaltet“ – „Auffaltung“ ist ein wichtiges Wort im Text –, also poetisch angereichert, zu sprachlichen Bildern umgeformt, die Assoziationen freisetzen und vielfältige sprachliche Zusammenhänge entstehen lassen. Die Wörter und Sätze werden – auch das eines der Schlüsselwörter im Buch, dazu noch in Großbuchstaben – auf den „SCHNEIDETISCH“ gelegt, dort zerlegt, auch zurechtgerückt, neu montiert, angepasst und mit anderen Wörtern zusammengeführt, „verschoben […] von der linken und rechten Blatthälfte / hin zu einer Mitte aus Rändern“. Es entstehen so neue Perspektiven und sprachliche Bilder. Das als Leser mitzuerleben, vermittelt eine spannende Leseerfahrung. „This is a MAP: Making-of a Poem“, schreibt Paris selbstbewusst und fährt einige Zeilen später fort:
in mir sind viele Fächer
das Gedicht wächst wie Gras
(ist gleich GRA),
Zustand des Wachsens, entgegen
von Welken schreiben
Den Leser zu einem nahen Beobachter dieses „Wachsens“ zu machen und ihn zu ermuntern, damit phantasievoll umzugehen, ist ein Versprechen der Autorin. Sie löst es auf fast jeder Seite auf bewundernswerte Weise ein.
Es gibt aber noch ein Zweites, das den Leser an den Text fesselt und das Langgedicht zu einem Leseerlebnis macht: das „Zwiegespräch“, das Frieda Paris in ihrem Text mit der grandiosen Friederike Mayröcker (1924–2021) führt. In vielerlei Hinsicht darf der Text als Widerhall auf Mayröckers dichterisches Werk, vor allem auf die in den zwanzig Jahren vor ihrem Tod erschienenen Bücher mit den Gedichten und Proemen, die die österreichische Autorin so einzigartig gemacht haben, verstanden werden. Es ist bewundernswert, wie respektvoll, aber auch kreativ und selbstsicher die Achtundzwanzigjährige mit dem Oeuvre der größten deutschsprachigen Dichterin der letzten 70 Jahre umgeht, wie eng sie ihren Text in Mayröckers Werk verankert und mit ihm verzahnt, wie sehr sie daraus poetische Kraft und Energie schöpft, wie sie aber auch bei aller Nähe zum Werk der Österreicherin nicht epigonenhaft wirkt, sondern, im Gegenteil, ihren ganz eigenen lyrischen Ton findet.
Dafür musste sie tief in Mayröckers literarischen Kosmos eintauchen. Ein genialer Einfall hat dabei geholfen: Sie hat über einhundert der vielen tausend Notizzettel, die Friederike Mayröcker gesammelt und mit denen sie sich beim Schreiben umgeben hat, eingesehen und „ausgewertet“. Die Rückseiten, gelegentlich auch die Vorderseiten der „Zauberzettel“ hat sie als Sprachsteine für ihr Langgedicht gewählt und ihren Text rund um diese Fundstellen angeordnet und aufgebaut. Frieda Paris nennt Friederike Mayröcker ihre „Große Wortmutter“ und gibt ihr damit eine herausgehobene Bedeutung. Sie ist für die junge Lyrikerin mehr als nur ein Vorbild; sie ist die dichterische Quelle, aus der sie ihre sprachlich-kreativen Kräfte schöpft.
Der Titel des Buches, Nachwasser, legt das Bild der Quelle nahe. Das Wort betont das Moment des Fließenden, Nachschöpferischen, Nachbildenden, das Spiel mit Sprache. Wenn Paris im oben zitierten Gedicht schreibt: „ich muss / ans NACHWASSER“, dann ist damit der schöpferische Impuls des Schreibens angesprochen. Das Bild verweist auch auf das Wagnis des Schreibens; denn so wie die Metapher „Nachwasser“ eine Neuprägung der Autorin ist, ist ihr Schreiben der Versuch, in der produktiven Auseinandersetzung mit Mayröckers Dichtung eine eigene, aufregend neue poetische Sprache zu finden.
Nachwasser kann als intensives Zwiegespräch zwischen Frieda Paris und Friederike Mayröcker gelesen werden. Es ist wie ein Nachhall auf die Dichtung der „Großen Wortmutter“, ein Sich-Versenken in ihre poetische Welt und der Versuch, sich dieser Welt im Schreiben zu versichern und sie „fortzudichten“. Mayröckers Rat „du sollst immer weiterschreiben, dann bleibt man im FIEBER“, ihre magische „Feuer-Lilienverfassung“ als eine Voraussetzung für Dichten, werden auch für Paris Bedingungen ihres dichterischen Schreibens.
Frieda Paris lehnt sich sowohl im Sprachlich-Formalen wie im Inhaltlichen an die „Große Wortmutter“ an, wird dabei aber nie zu einer bloßen Nachahmerin. Von den zahlreichen Ähnlichkeiten im Schrift- und Druckbild seien nur einige Beispiele aufgeführt: die Kursivschreibungen etwa, die oft Zitate andeuten, die Namenszusätze in Klammern (Elke Erb zum Beispiel und viele andere Schriftstellerinnen und Schriftsteller), die punktlosen Absatz- und Satzenden – bei Mayröcker werden Texte nur äußerst selten mit einem Punkt abgeschlossen –, die eigenwillige Zeichensetzung überhaupt, etwa die Doppelpunkte am Beginn von Zeilen, in den Text einmontierte Zitate, Querverweise innerhalb des Langgedichts, Wortspiele oder die Wortunterstreichungen und Wortdurchstreichungen. Es sind mehr als bloße Äußerlichkeiten. Sie setzen unübersehbare Akzente in den Texten, ermöglichen Assoziationen, verbinden das Langgedicht mit der Dichtung Mayröckers und machen aus bloßen Wörtern „kommunizierende Wörter“.
Daneben sind die inhaltlichen Verklammerungen zwischen dem Langgedicht und Mayröckers Werk bemerkenswert. Hier wie dort geht es um Erinnerungen an die Kindheit und um eine Vermengung dichterischer Einfälle mit biographischen Einzelheiten. Paris zitiert immer wieder Titel aus Mayröckers Oeuvre oder Zeilen aus Gedichten, einige Male auch ganze Texte. Mayröckers berühmtes frühes Gedicht Ostia wird dich empfangen beispielsweise wird von Paris einfühlsam interpretiert und in ihr Langgedicht eingebunden. Es steht für Einsamkeit und vergebliches Liebesglück. Wenn Paris am Ende schreibt: „Mein Vogel, wirst wenigstens du / in Ostia sein ?“, dann drückt sich darin eine ungestillte Liebessehnsucht aus.
Viele von Paris’ Texten drehen sich um verlorene Liebe und Einsamkeit, um Verlassenheit und einsame Nächte und Stunden. Darin liegt ein enger inhaltlicher Bezug zu Mayröckers Dichtung. Melancholische und traurige Liebesgedichte gibt es in Mayröckers Werk schon immer, lange bevor Ernst Jandl 2000 starb. Sie hat ihre Melancholie zu einer Bedingung literarischer Existenz gemacht. Frieda Paris fühlt Ähnliches, wenn sie schreibt:
bin ich, wenn ich in größtmöglicher Einsamkeit
tanze oder lese, noch allein?
bin ich nicht Musik, Wort geworden
In diesem Zusammenhang wird für Paris auch Paul Celans Metapher „Herzland“ aus seiner Bremer Ansprache aus dem Jahr 1958 bedeutsam. Das Wort meint, dass Gedichte eigentlich immer auf ein liebendes Du gerichtet sind. Mit Frieda Paris’ „Sprache aus Träumen“ ist die Suche nach Celans „Herzland“ in ihrem Langgedicht allgegenwärtig. Allerdings ist die Suche vergeblich. Sie schreibt:
was bleibt mir nun von deinem Gesicht?
immer hier nur ein Gedicht
ich kenne den Alltag von Liebe nicht
Wie sehr Paris in ihrem Dichten von dem Mayröckers beeinflusst ist, zeigt sich auch in Texten, die sich, wie selbstverständlich, sprachlich ähneln. So lautet einer ihrer Texte:
beim Abschied
steiften sie sich,
kurz die Hand,
(ist gleich hl.
Lametta eines
Abendhimmels)
Bei Mayröcker beginnt das Gedicht Begegnung aus dem Jahr 2005 mit der Zeile „streift meine Hand“. Die lautliche Ähnlichkeit von „steift“ und „streift“ und das Wort „Hand“ sind vielleicht nicht beabsichtigt, aber dennoch auffällig. Und die Abkürzung „hl.“ könnte Mayröcker-Gedichten entnommen sein. Es sind „Nachwasser“ einer jahrelangen Beschäftigung mit dem literarischen Werk der Österreicherin.
In ihrem Buch brütt oder Die seufzenden Gärten (1998) hat Mayröcker einmal beklagt, dass ihre Texte nach ihrem Tod wohl bald vergessen sein würden. Das wird nicht passieren, weil ihre Texte zu großartig sind, um vergessen zu werden. Das wird aber auch deshalb nicht geschehen, weil es Dichterinnen wie Frieda Paris gibt, die sich von Friederike Mayröckers Werk inspirieren lassen und mit dieser Inspiration etwas aufregend Neues schaffen. Ihr Langgedicht gehört zum Besten, was in den letzten Jahren im Bereich der deutschsprachigen Lyrik veröffentlicht worden ist. Solange Mayröckers Werk solche „Nachwasser“ auslöst, die in so ansprechend gestalteten Büchern wie dem vorliegenden aus dem Azur-Verlag auf den Markt kommen, ist es um das Genre Lyrik gut bestellt.
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