Unverarbeitete Diktaturen
Ines Geipel geht in „Fabelland” den Ursachen für den starken Rechtsruck in Ostdeutschland nach
Von Roger Staub
Die Wähler westlicher Demokratien laborieren mit autoritären Parteien und autokratischen Populisten und reihen sich hiermit ein in den fatalen Kanon globaler Entwicklung. Irgendetwas hängt schief, das Ganze mit offenem Ausgang. Die Analysen hierzu am Puls der Zeit sind noch spärlich oder mögen nicht recht überzeugen.
Mit Fabelland legt Ines Geipel eine faktenbasierte und gleichwohl literarische Studie vor, die die deutsche Befindlichkeit mitten ins Herz trifft.
Am Beispiel Ostdeutschland leistet die Autorin einen Beitrag zur Klärung des politischen und mentalen Wandels, der sowohl die Besonderheiten eines ehemals geteilten Deutschlands als auch das Gesamtdeutsche nach 1989 in den Blick nimmt. Wieso legt die AfD in Ostdeutschland so massig zu? Wurden die Ostdeutschen nach der Wende über den Tisch gezogen und bleiben seither abgehängt, wie die Bewirtschafter von Ressentiments und Enttäuschung behaupten?
Geipel, selbst in der ehemaligen DDR aufgewachsen, widerspricht vehement und sucht nach sozialpsychologischen Gründen, die sie wiederum einer historischen Betrachtung unterzieht. Ihre These: Angesichts der Übernahme eines politisch, wirtschaftlich und moralisch bankrotten Staates, von Transferleistungen in Höhe von 2 Billionen Euro und einer Wiedervereinigung, die die Ostdeutschen von einem Tag auf den anderen aus einer Diktatur in eine freiheitliche Demokratie überführte, lässt sich der immer lauter werdende reine Opferstatus des Ostens nicht halten. Sie ortet den Vereinigungsüberdruss samt Protestwahlen für AfD und BSW in der historischen Tatsache von zwei unverarbeiteten Diktaturen. Die deutschen Moskauheimkehrer, die die stalinistischen Säuberungen durch strammen Gehorsam überlebt hatten und nach dem Zweiten Weltkrieg mit dem Auftrag in die sowjetische Besatzungszone zurückkehrten, die DDR-Diktatur aufzubauen, enthoben die ostdeutsche Bevölkerung – quasi per Parteidekret – von einem Tag auf den anderen einer Mitschuld an den Gräueln des NS-Regimes, indem sie sich auf den kommunistischen Widerstand – auch der in Teilen ein Mythos – beriefen und «das Volk» in corpore zu «Antifaschisten» erklärten, wodurch die 6 Millionen ermordeter Juden im Reich des Vergessens verschwanden. Doch – so Geipels These – Scham und Schuld waren durch diesen inszenierten Mythos ja nicht weg, sondern wurden generativ weitergegeben – bis hin zu den heutigen Erstwählern, die beunruhigend hoch für die Parteien an den extremen Rändern stimmen. In die Litanei der abgehängten Ostdeutschen mag Geipel nicht einstimmen und macht für diese Befindlichkeit vor allem die Tatsache verantwortlich, dass 1989 weder der Westen noch der Osten an einer Aufklärung angesichts der Übernahme-Altlasten von zwei Diktaturen interessiert gewesen sei. Diese wäre nötig gewesen und macht das Land umso entzündlicher. Besonders, da aktuell gesamtdeutsch nicht weniger auf dem Spiel steht als die freiheitliche Demokratie an sich.
Die These von der geleugneten und weggeschwiegenen Doppeldiktatur, die sich durch politische Umschreibungen in die Zeit nach der Revolution 1989 transformierte, belegt Geipel durch verbindliche Studien und umfangreiche Literatur. Doch ihr Werk ist mehr als wissenschaftliche Studie. Geipel bedient sich essayistischer Werkzeuge, allen voran einer Erzählinstanz – sie nennt es „Text-Ich“ –, und der ihr ganz eigenen Sprache, die den Eindruck vermittelt, als wäre sie eigens für eine Thematik geschaffen, die bisher nicht ansatzweise in Betracht gezogen wurde und im begrifflichen Dunkeln geblieben ist. Hier ein Beispiel:
Und 1989? Was passierte mit dem jahrzehntelangen Spaltungsgift, den Sprachtrümmern, den Politruinen des Kalten Krieges? War das über Nacht weg wie die Mauer? Das Teilungsdenken, der Ideologiemüll. (…) Gab es Warteräume, extra eingerichtete Wachstationen, Verstecke dafür?
Mit solchen Bildern und Wörtern erst wird die Vereinigungsgeschichte als politische Emotionslandschaft räumlich vorstellbar. Mit dieser ihr eigenen, themaspezifischen Form öffnet sie die Räume, nicht für absolute Gewissheiten, aber für neue Fragen und dringend notwendige Analysen.
Ines Geipel ist in erster Linie Schriftstellerin, die als Zeitgeschichtlerin den Fakten Leben einhaucht, die Dinge sichtbar macht, welche durch pures Zahlenwerk verborgen blieben, gewissermassen symbolisch der Versuch, die ostdeutsche Geschichte mittels Gesangs aus dem Totenreich zu bergen. Orpheus gegen Morpheus möchte man sagen. Dass sie hierbei auf Hass und Polemik verzichtet, ist nicht nur aus der Erkenntnishelle ihrer Darstellung, aus der erdrückenden Beweislast heraus zu erklären, sondern entspringt ihrem Ansinnen, Brücken zu schlagen zwischen Ost und West, zwischen Opfern und bis heute Schweigenden, die sich immer stärker hinter ihrem nostalgisch-verklärenden Alltag der DDR vermauern. Es ist die Aufforderung, noch einmal zurückzukehren an die Wegscheiden deutscher Geschichte, 1945, 1949, 1961, 1968 und 1989; die Einladung zum Diskurs jenseits politischer Positionierung oder diffuser Befindlichkeiten, die, anstatt weiter zu klären, höchstens weiter polarisieren. Deutsche Historie als sozialpsychologische Tiefenbetrachtung in ihrer ganz eigenen Sprache, als komplexer Akt aus Quellen, Fakten und Studien ist anspruchsvoll, aber die Alternative für Deutschland im Falle eines weiteren Verharrens in der Dunkelkammer der Geschichte mag man sich nicht vorstellen.
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