Zu einfache Analogieschlüsse

Anmerkungen zu Jon Gestermanns „Vergegenwärtigungen der Vergangenheit. Geschichtsbilder in W. G. Sebalds Prosa“

Von Ulrich SchönherrRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ulrich Schönherr

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Leser:innen, welche ausgehend vom Titel der vorliegenden Studie, Vergegenwärtigungen der Vergangenheit, erwarten, dass die Arbeit die diversen Aktualisierungen der Vergangenheit im Werk von W. G. Sebald einer systematischen Rekonstruktion unterzieht, werden enttäuscht sein. Anders als die propagierte Offenheit des Titels suggeriert, liegt der Fokus nicht auf der Analyse diverser Geschichtsmodelle und Erinnerungs- und Gedächtniskonzepte in Sebalds Texten, sondern nahezu ausschließlich auf deren Affinität zu Walter Benjamins geschichtsphilosophischen Thesen und dessen Erzähltheorie – eine folgenreiche thematische Einschränkung, die sich auch in den Einzelanalysen offenbart.

Dass Benjamins Werk bei Sebald zahlreiche Spuren hinterlassen hat, ist seit langem bekannt und unbestritten, es allerdings zum primären Bezugszentrum der Poetik Sebalds zu deklarieren, ist sicherlich der beste Weg, die Komplexität und Vielschichtigkeit der Texte zu verkürzen. Gestermann scheint sich dieser Gefahr bewusst zu sein, wenn er zu Beginn schreibt:

In Anbetracht der enormen Bandbreite der von ihm verwendeten intertextuellen Referenzen erscheint es vernünftig, Sebald als einen verständigen Kenner vieler intellektueller Strömungen zu begreifen, der unterschiedlichen Konzepten Benjamins zustimmt und sie als Bausteine mit anderen Quellen zu einem Konstrukt kombiniert, das seinen eigenen Überzeugungen entspricht.

Ob diese Erkenntnis allerdings in den einzelnen Interpretationen eingelöst wird, darf bezweifelt werden. Ebenso stellt sich die Frage, ob die Studie tatsächlich jene behauptete „Leerstelle“ innerhalb der bisherigen Rezeptionsgeschichte einnimmt, „indem sie sich der Verbindung zwischen den beiden Autoren auf der Grundlage ihrer jeweiligen Auseinandersetzungen mit den Themen der Geschichte, der Vergangenheit und den beiden damit verbundenen Topoi ‚Erinnerung‘ beziehungsweise ‚Erinnern‘ nähern“. Denn was Gestermann unterschlägt, sind die seit 2015 erschienenen wichtigen deutschsprachigen Publikationen von Nikolai Jan Preuschoff, Mit Walter Benjamin. Melancholie, Geschichte und Erzählen bei W.G. Sebald (2015), Eva Riedl, Raumbegehren. Zum Flaneur bei W. G. Sebald und Walter Benjamin (2017) sowie die preisgekrönte Arbeit von Luisa Banki, Post-Katastrophische Poetik. Zu W. G. Sebald und Walter Benjamin (2016), welche mit keinem Wort erwähnt werden – von den vielen Untersuchungen vieler anglo-amerikanischer Autoren ganz zu schweigen (z.B. Eric Santner, Andreas Huyssen et.al.).

Am Anfang der in vier Kapitel unterteilten Studie steht eine detaillierte und umfassende Rekonstruktion der geschichtsphilosophischen Thesen, die gleichsam das heuristische Fundament der anschließenden Einzelanalysen zu Sebalds intertextueller Adaption und Auseinandersetzung mit Benjamins experimentellem Theoriemodell bildet. Am Leitfaden zentraler Begriffe wie „Geschichtsbild“, „Historismus“, „Fortschritt“, „Jetztzeit“, „Chok und Monade“, „Glück und Erlösung“ u.a. werden kenntnisreich und auch für den nicht Benjamin-affinen Leser in sehr klaren Ausführungen die semantische Vieldeutigkeit der einzelnen Thesen gut nachvollziehbar präsentiert.

Die weitgehend immanente Rekonstruktion des Benjaminischen Theorieentwurfs verzichtet jedoch darauf, diesen noch einer kritischen Reflexion zu unterziehen, welche beispielsweise hätte aufzeigen können, dass Benjamin in seiner Kritik des Historismus selbst zentrale Prämissen jener Schule übernommen hat, die nicht immer nur als „Handlanger der Herrschenden“ fungierte: so der Fokus auf das Individuelle und Einzigartige, das sich allgemeinen Regeln entzieht, die Ablehnung idealistischer und materialistischer Geschichtsteleologien sowie die Verwissenschaftlichung historiographischer Forschung, die sich entgegen Benjamins Verdikt durchaus ihrer Gegenwartsperspektive bewusst und alles andere als „theorielos“ war, wie sich an Leopold Ranke und Johann Gustav Droysen unschwer belegen lässt. Noch gravierender ist jedoch der gleichermaßen vom Historismus wie Benjamin unternommene Versuch, Theologie und Historiographie zu verknüpfen, was wiederum ein schräges Licht auf Benjamins Konzept des „historischen Materialismus“ wirft.

Auch die Inthronisation der Arbeiterklasse zum alleinigen Erkenntnis- und Handlungssubjekt der Geschichte untergräbt seine Kritik am Objektivismus des Historismus: „Das Subjekt historischer Erkenntnis ist die kämpfende, unterdrückte Klasse selbst“ (XII. These), für die sich im historischen „Augenblick ihrer Aktion“ (angeblich) eine „schwache messianische Kraft“ offenbart.

Da Gestermann weitgehend darauf verzichtet, Benjamins Theoriekonzepte kritisch zu überdenken, tendieren seine Analysen immer wieder dazu, die Distanz wie historische Differenz Sebalds zu den zwischen Klassenkampf-Rhetorik und kairologischer Erlösungsmetaphysik changierenden Thesen zu nivellieren, deren Semantik Sebald bei aller Bewunderung sicherlich nicht unhinterfragt in seine Texte übernommen hat. So operiert der Autor durchgehend mit einfachen Analogieschlüssen, um den direkten Einfluss Benjamins auf Sebalds Erzählungen nachzuweisen, die allerdings, wie das Beispiel aus dem Abschnitt Der Schachautomat zeigt, alles andere als schlüssig sind. Warum Sebalds Großonkel Ambros Adelwarth aus der gleichnamigen Erzählung aus den „Ausgewanderten“ ausgerechnet die Verkörperung der schachspielenden „Puppe, die man historischen Materialismus nennt“ (I. These) sein soll und sein Arbeitgeber Cosmo demzufolge der „bucklige Zwerg“, der deren Züge lenkt, bleibt unerklärt und wird auch durch den photographischen Hinweis auf Adelwarths türkische Tracht, welche er mit der Puppe des Schachautomaten teilt, nicht plausibler. Zweifelsohne liegt der Rekonstruktion des so tragisch verlaufenden Lebens des Großonkels nicht die Allegorie Benjamins zugrunde, sondern vielmehr Sebalds aus vielerlei Quellen zusammengetragenes und literarisch bearbeitetes Material.

Im 3. Kapitel Das Festhalten des Augenblicks beginnt Gestermann mit der eigentlichen Analyse von Sebalds Texten. Ausgehend von Benjamins „politisierter Wahrnehmungs-Ästhetik“ (Karl Heinz Bohrer), in der der aus dem Kontinuum der Geschichte herausgesprengte historische Augenblick zur Monade kristallisiert ist und das „wahre Bild der Vergangenheit“ offenbart, unternimmt der Autor eine folgenreiche Aufteilung der Haupt- und Nebenfiguren, die jeweils Benjamins „historistischer oder historisch-materialistischer ‚Gedankensphäre‘ zugeordnet werden.“ Gestermann zufolge sind es jedoch nicht die Protagonisten in Sebalds Werk, denen es gelingt, „die in den ‚Thesen‘ enthaltene Idee der ‚messianischen Erlösung‘“ zu realisieren, sondern allein wenigen Nebenfiguren wie den Ich-Erzählern.

So richtig es ist, die fundamentale Differenz der Hauptfiguren zu Benjamins Geschichtstheorie zu betonen, so problematisch ist es allerdings, deren Scheitern als individuelles Versagen misslungener Trauerarbeit zu diffamieren oder gar zu pathologisieren:

Nebenfiguren wie Luisa Lanzberg, der als Schmetterlingsjäger auftretende Vladimir Nabokov sowie die verschiedenen Inkarnationen des Ich-Erzählers kontrapunktieren die neurotisch korrumpierte Erinnerungsarbeit der Hauptfiguren. Im Gegensatz zu den Protagonisten […] gelingen der Zugang zur Vergangenheit und die Vergegenwärtigungen von Erinnerungen diesen Individuen problemlos.

Ob allerdings die von Luisa Lanzberg verfassten Erinnerungen für den bereits im sicheren britischen Exil lebenden Sohn angesichts der bevorstehenden Deportation in die Vernichtungslager „problemlos“ zustande kamen, darf bezweifelt werden. Auch wenn die Aufzeichnungen im „Augenblick einer Gefahr“ (VI. These) niedergeschrieben werden, fehlt ihnen der aus verständlichen Gründen unterdrückte Gegenwartsbezug und führt zu einem eher konventionellen und bisweilen nostalgisch-verklärten Bild der Vergangenheit, welches schwerlich den Maßstäben der von Gestermann immer wieder behaupteten „historisch-materialistischen Erinnerungsarbeit“ entsprechen dürfte, die am Ende sogar „einen Zustand der Transzendenz“ erreicht – eine Deutungsfantasie, die keines weiteren Kommentars bedarf.

Die Problematik und Schwachstellen einer sich ausschließlich an Benjamins Geschichts- und Erinnerungsmodell orientierenden Interpretationspraxis des Sebaldschen Werkes werden auch im 4. Kapitel manifest, welches sich dem „historische[n] Materialismus der Erzählerfiguren“ widmet. Ich möchte die Defizite von Gestermanns Studie anhand eines singulären Beispiels demonstrieren, nämlich der Erzählung Paul Bereyter aus dem Band Die Ausgewanderten. Statt einer umfassenden Textanalyse, welche die spezifischen narrativen Verfahrensweisen der Erinnerungsarbeit Sebalds minutiös rekonstruiert, reduziert sich Gestermanns Interpretation allein auf das Einfühlungsparadigma des Historismus, ein methodologisches Verfahren, das auch der Ich-Erzähler zu Beginn anwendet, um es aber zugleich wieder zu verwerfen – passender Beleg für den Autor, seine These von Benjamins Einfluss auf Sebalds Prosa zu untermauern.

Aber lässt sich Sebalds Poetik tatsächlich so einfach in Benjamins Geschichts- und Erzähltheorie verorten, wie uns Gestermann ständig einzureden versucht? Sicherlich bedient sich der Ich-Erzähler zu Beginn einer auf Einfühlung basierenden Rekonstruktionsstrategie, die allerdings nicht sprachlich, sondern photographisch operiert, wie uns die vorangestellte Authentizität simulierende Photographie des Autors vom Todesort des geliebten Lehrers demonstriert. Jene ethisch problematische Inszenierung wird anschließend mit der nicht minder problematischen „offiziellen“ Geschichtsschreibung des Nachrufs aus der Lokalzeitung kontrastiert, die exemplarisch die auf Verschweigen und Verdrängen basierende Erinnerungspraxis bundesrepublikanischer Nachkriegskultur offenbart. Nach einem abermaligen Anlauf, sich durch Imagination dem Gegenstand der Erinnerung anzunähern, kommt der Erzähler zu dem ernüchternden Fazit:

Solche Versuche der Vergegenwärtigung brachten mich jedoch […] dem Paul nicht näher, höchstens augenblicksweise, in gewissen Ausuferungen des Gefühls, wie sie mir unzulässig erscheinen und zu deren Vermeidung ich jetzt aufgeschrieben habe, was ich von Paul Bereyter weiß und im Verlauf meiner Erkundungen über ihn in Erfahrung bringen konnte. (Sebald)

Jene bilanzierende Erkenntnis positioniert sich aber im diametralen Gegensatz zu den von Benjamin in den geschichtsphilosophischen Thesen propagierten Strategien. Das „wahre Bild der Vergangenheit“ ist nicht Resultat intuistischer Evidenz im Augenblicksmoment, welche der Erzähler als „unzulässig“ verwirft, sondern allein durch eine auf Faktizität abzielende Recherche zu restituieren, deren Objektivitätsanspruch dem von Benjamin verfemten Historismus vielleicht näher steht, als Gestermann wahrhaben möchte. Dass die Erinnerungsarbeit des Erzählers weder „problemlos“ noch linear verläuft, sondern sich durch vielfältige (mediale) Vermittlungsketten konstituiert, zeigt sich nicht zuletzt in der Figur von Lucy Landau, die zur dominierenden Erzählinstanz avanciert und deren Erinnerungen an Pauls Erinnerungen wiederum vom Ich-Erzähler erinnert werden, der diese schließlich in das Medium der Schrift überführt und so dem an seinen Erinnerungen zerbrechenden Protagonisten einen Gedächtnisort kreiert, der allerdings auf „Transzendenz“ verzichtet und notwendigerweise Fragment bleibt und bleiben muss.

Gestermann scheint gegen Ende seines Buches selbst Zweifel an seinen eigenen theoretischen Prämissen anzudeuten, wenn er schreibt:

Trotz der durch den Nationalsozialismus drohenden Gefahr der religiösen und politischen Verfolgung […] bewahrt sich Benjamin sein Vertrauen in die Durchsetzungskraft des Materialismus. Bei Sebald sind solche Hoffnungen weitestgehend verschwunden.

Vielleicht ein Indiz dafür, dass eine angemessene Untersuchung von Sebalds Werk nicht allein mit Benjamins spekulativen Theoriemodellen zu leisten ist, sondern einer Vielzahl von narratologischen, historiographischen, sozialpsychologischen und erinnerungstheoretischen Diskursen bedarf, um adäquat erfasst zu werden.

Als Fazit könnte man sagen, dass Gestermanns Studie für jene Leser, die sich explizit für Benjamins Einfluss auf Sebalds Texte interessieren, durchaus eine lohnenswerte Lektüre sein kann, jene hingegen, die Sebalds Rekonstruktionen der Katastrophengeschichte des 20. Jahrhunderts als aus vielen Quellen gespeiste Erzähl- und Theoriemontage verstehen, eher enttäuscht sein werden. In einem Punkt aber dürften beide Leserschaften Benjamins Engel aus der IX. These zustimmen: „Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie vor ihm vor die Füße schleudert.“

Titelbild

Jon Gestermann: Vergegenwärtigungen der Vergangenheit. Geschichtsbilder in W. G. Sebalds Prosa.
Aisthesis Verlag, Bielefeld 2020.
296 Seiten, 40,00 EUR.
ISBN-13: 9783849815639

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