Kummer und Melancholie

Natalia Ginzburg beschreibt in „Die kleinen Tugenden“ Formen der Traurigkeit

Von Thorsten PaprotnyRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thorsten Paprotny

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Über unausweichliche Schwermut in Italien und England, über zutiefst Betrübliches in Zeiten des Krieges und in der Moderne überhaupt, über materielle Armut und innere Leere schreibt Natalia Ginzburg. Die verstreut publizierten Essays, die zwischen 1944 und 1961 entstanden und in diesem Band zusammengeführt sind, wirken herb realistisch, ohne realistisch erzählt zu sein – vor unseren Augen wird eine Art Landkarte der Melancholie entfaltet.

In den Abruzzen, so erzählt die Autorin, herrsche „etwas eintönig Gleiches“ vor, seit langer Zeit, so als folge das Leben, Generation für Generation, „unverrückbaren Gesetzen“. Alle hätten Träume, die sich auflösten. Ist es aber gut, sie zu haben? Die „größten Freuden unseres Lebens“ seien „außerhalb der Wirklichkeit zu suchen“. Also in der Fantasie? „Kaum haben die Träume sich verflüchtigt, verzehren wir uns vor Sehnsucht nach der Zeit, da sie uns erfüllten. Und in diesem Wechsel von Hoffnung und Sehnsucht verläuft unser Schicksal.“

Anthropologisch gesehen beschreibt Natalia Ginzburg ein Eingesponnen-Sein des Menschen, nicht in Zufall und Notwendigkeit, sondern in „Hoffnung und Sehnsucht“, nach einem besseren, erfüllten, zumindest nicht ganz traurig machenden Leben. „Hoffnung und Sehnsucht“ bleiben zwar Träume, luftige Gespinste, die zugleich aber offenbar lebens-, ja überlebensnotwendig sind. Die Illusionslosigkeit, mit der sie ihre Erfahrungen mit der Welt, in der sie lebt, berichtet und beschreibt, scheint aber immer größer als jede zumindest ein Gran Zuversicht spendende Hoffnung zu sein.

Schützt die Zweisamkeit vor einem solchen seelischen Unglück? Von Psychoanalyse hält Ginzburg nichts. Wer einem Menschen begegne und sich wirklich aufgehoben und verstanden fühle, spüre dies oft erst im Nachhinein. Sie spricht nicht von Liebesbeziehungen, die unausweichlich mit Leidensgeschichten verknüpft zu sein scheinen, sondern von der Begegnung mit der „richtigen Person“. Diese „richtige Person“ ist für sie mitnichten eine romantische Figur, weder ein philanthropischer Weisheitslehrer noch ein ritterlich-heldischer Prinz oder todesmutiger Drachentöter, und die „richtige Person“ ist auch kein schönes Mädchen mit einem feinen Lächeln, gütigem Humor und einem goldenen Herzen. Von Märchenhaftem ist also nicht die Rede:

Eines Tages begegnen wir der richtigen Person. Wir bleiben gleichgültig, weil wir sie nicht erkannt haben: Wir schlendern mit der richtigen Person durch die Straßen der Peripherie, wir nehmen nach und nach die Gewohnheit an, jeden Tag zusammen spazierenzugehen. Ab und zu fragen wir uns zerstreut, ob wir etwa mit der richtigen Person spazierengehen. Wir glauben es eher nicht. Wir sind zu gelassen; die Erde, der Himmel haben sich nicht gewandelt; die Minuten und Stunden fließen dahin, ohne tiefe Glockenschläge in unserem Herzen.

Die Wege trennen sich erneut, und in der Erinnerung an den Weggefährten gewinnt der Gedanke Gestalt, der „richtigen Person“ begegnet zu sein.

Der Mangel an Unbeschwertheit ist allgegenwärtig: „Das Wesen der Stadt ist Melancholie: Der Fluß verliert sich in der Ferne und löst sich auf in einem Horizont aus violetten Nebeln, die selbst mittags an den Sonnenuntergang erinnern; und überall atmet man denselben düsteren und arbeitsamen Rußgeruch und hört den Pfiff der Züge.“ Sie erzählt von einem Mann, der wirkte, als könne man „von dieser Traurigkeit genesen“. Doch er war nur ein Philosoph, der die Welt nicht veränderte, sich aber immer mehr verstieg und verschloss in ein „verschlungenes und unerbittliches System von Gedanken und Prinzipien“, ein System, „das ihn an der Verwirklichung der einfachsten Dinge hinderte“. Auch wollte er „sich nicht damit abfinden, das Alltagsleben zu lieben, das einförmig und scheinbar ohne Geheimnisse verläuft“: „Er hätte sich die alltägliche Wirklichkeit erobern müssen; aber sie war unzugänglich und unfaßbar für ihn, der nach ihr dürstete und sie zugleich verabscheute und sie darum nur wie aus unendlicher Ferne betrachten konnte.“

Natalia Ginzburg reiste mit ihrem zweiten Mann, dem Anglisten Gabriele Baldini, zuweilen nach England – ihr erster Mann, Leone Ginzburg, war 1944 an den Folgen der NS-Folter verstorben –, und stellte auch dort Wahrnehmungen über Schwermut an. England sei „schön und melancholisch“, vielleicht das „melancholischste Land der Welt. Fantasielos fand sie das Land auch, stellte aber Ausnahmen fest, etwa am Beispiel von Abendkleidern:

Die alten Damen tragen am Abend die seltsamsten Kleider. Und das Gesicht malen sie sich über und über rosa und gelb an. Von stillen Spatzen verwandeln sie sich in farbenprächtige Pfauen und Fasane. Rundherum erregen sie keinerlei Staunen. Das englische Volk kennt übrigens kein Staunen. Nie dreht auf der Straße jemand den Kopf um, um seinen Nächsten zu betrachten.

Die Cafés seien trist, überall herrsche Melancholie. Ginzburg vermutet, dies liege an der „Trostlosigkeit der gesellschaftlichen Beziehungen“ überhaupt:

Jeder Ort, an dem die Engländer zusammentreffen, um sich zu unterhalten, verbreitet Melancholie. Es gibt in der Tat nichts Traurigeres auf der Welt als eine englische Unterhaltung, bei der immer sorgsam darauf geachtet wird, nichts Wesentliches zu berühren, sondern an der Oberfläche zu bleiben. Um seinen Nächsten nicht dadurch zu verletzen, daß man in seine Intimsphäre eindringt, die heilig ist, dreht sich die englische Unterhaltung um für alle äußerst langweilige Themen, wenn sie nur gefahrlos sind. […] Die englische Melancholie steckt uns prompt an. Es ist eine Melancholie wie die von Schafen, erstaunt, eine Art leere Bestürzung, an deren Oberfläche die Gespräche über das Wetter, über die Jahreszeiten, über all die Dinge herum flattern, über die man lange sprechen kann, ohne in die Tiefe zu gehen, ohne zu verletzen und verletzt zu werden, ein langes, leichtes Mückengesumm.

Die innere Traurigkeit ist auch ein Erbe des Krieges. Wer die Gräuel überlebte, werde nie mehr inneren Frieden, nie Gelassenheit und Ruhe finden. Wer die „Wirklichkeit von ihrer finstersten Seite kennengelernt“ habe, sei – zusammenfassend formuliert – gezeichnet bis ans Ende seiner Tage. Sie lebe in einer „vergifteten Epoche“, in der das „Laster des Schweigens“ allgegenwärtig sei: „Das Schweigen mäht jeden Tag seine Opfer nieder. Das Schweigen ist eine tödliche Krankheit. […] Das Schweigen kann zu einer Form von verschlossenem, ungeheuerlichem, teuflischem Unglücklichsein führen: die Tage der Jugend welk, das Brot bitter machen.“

Ginzburg berichtet von tiefen Verletzungen, die unsichtbar sind, von Versehrungen der Seele, die bleiben. Gibt es Hoffnungszeichen? Zumindest Vorschläge für die Erziehung hält die Autorin bereit. Sie empfiehlt die „kleinen Tugenden“, die ein wenig gegen Schicksalsschläge schützen könnten: „Nicht Sparsamkeit, sondern Freigebigkeit gegenüber Geld; nicht Vorsicht, sondern Mut und Verachtung der Gefahr; nicht Schlauheit, sondern Freimütigkeit und Wahrheitsliebe; nicht Diplomatie, sondern Liebe zum Nächsten und Selbstlosigkeit; nicht das Streben nach Erfolg, sondern das Streben nach Sein und Wissen.“ Es folgt ein Satz, dem gewiss niemand, der diese tieftraurigen Essays gelesen hat, widersprechen möchte: „Was uns bei der Erziehung am Herzen liegen muß, ist, daß unsere Kinder nie die Liebe zum Leben verlieren.“

Natalia Ginzburg hat die Bitternisse und Resignation oft angedeutet, zuweilen ausführlich und auch typisiert beschrieben. Dieses schmale Buch spiegelt episodisch wie essayistisch die innere Traurigkeit einer großen Schriftstellerin, die in den dunklen Zeiten des 20. Jahrhunderts mitten in Europa ihr Leben zugebracht, viel Leid gesehen und erfahren hat. Hoffnung schenken könnte aber die Aussicht auf die „richtige Person“, der Menschen trotz aller Düsternisse zu begegnen scheinen. Vielleicht mag die eine oder der andere ja auch, anders als Natalia Ginzburg dies beschreibt, die Wesentlichkeit dieser Begegnung erkennen und dankbar annehmen – zur richtigen Zeit. Das gelingt natürlich nur zu zweit. Ganz unmöglich ist das vielleicht nicht.  

Titelbild

Natalia Ginzburg: Die kleinen Tugenden.
Aus dem Italienischen von Maja Pflug.
Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2020.
160 Seiten , 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783803113504

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