Gleichmütige Chronistin Oberschwabens
Zum Tod der Schriftstellerin Maria Beig
Von Anton Philipp Knittel
Spät kam sie zur Literatur: 62 Jahre alt war Maria Beig, als 1982 im Sigmaringer Thorbecke Verlag ihr erster Roman Rabenkrächzen erschien. Martin Walser, der „Seelsorger der Seinen“, wie der ehemalige Chefarzt der Konstanzer Radiologie, der Schriftsteller, Maler und Theologe Andreas Beck, den Patron der so dichten oberschwäbischen Literaturszene einmal genannt hat, wurde zum großen Förderer der frühpensionierten Hauswirtschafts- und Handarbeitslehrerin. 1980 entdeckt beim Literarischen Forum Oberschwaben in Wangen, beförderte Walser das Debüt der gleichermaßen schüchtern-zurückhaltend wie sanftmütig-herzlich auftretenden kleinen Frau, die zu einer der ganz Großen der regionalen Literaturszene werden sollte. Walser schrieb zum Debüt Beigs eine hymnische Erste Notiz, zunächst abgedruckt in ALLMENDE. Eine alemannische Zeitschrift, die 1983 auch in der rasch folgenden Taschenbuchausgabe im Suhrkamp-Verlag als Nachwort erschienen ist.
„Nichts auf der Welt“, so Walser über Rabenkrächzen,
scheint zwei Sätze wert zu sein. Aber einen Satz ist alles wert. Nichts ist so gering, dass es nicht gesagt werden kann. Aber so gesagt, ist es nicht mehr gering. Geschichtsschreibung aus einer Zeit, in der man nur aufschrieb, was man selber erfahren hat. Chronikstil also. […] Gleichmut ist die größte Tugend dieser Autorin. Gleichmütig sagt sie das Größte und das Kleinste, das Entsetzlichste und das Lieblichste her. Das Entsetzliche überwiegt. Ihr ist alles so gegenwärtig, dass sie es nur nennen muss. […] Das ist vielleicht das Wirkungsgeheimnis dieser Bücher: man hört keinem Individuum zu, keiner Person, sondern einer Stimme. Aber diese Stimme wurde nirgends gebildet als in der Not dieses Jahrhunderts. Dadurch ist sie so stark geworden
schließt Walser seine Erste Notiz, der noch zwei weitere folgen sollten, nämlich zu Beigs Roman Hochzeitslose (1983 bei Thorbecke erschienen, 1985 auch als Taschenbuch bei Suhrkamp) und Hermine. Ein Tierleben (1984 bei Thorbecke erschienen, 1986 ebenfalls als Taschenbuch bei Suhrkamp).
Der Erfolg als Schriftstellerin – unter anderem wurde sie mit dem Alemannischen Literaturpreis (1983), dem Literaturpreis der Stadt Stuttgart (1997) und dem Johann-Peter-Hebel-Preis (2004) ausgezeichnet – war Beig gewiss nicht in die Wiege gelegt. 1920, als eines von 13 Kindern auf einem Bauernhof in Senglingen, bei Tettnang am Bodensee geboren, unterrichtet sie rund 35 Jahre als Lehrerin an verschiedenen Schulen zwischen Schwäbischer Alb und Bodensee. Mehr oder weniger ausgebrannt, lässt sie sich pensionieren und beginnt – quasi als Selbsttherapie heimlich am Küchentisch, um gegen eine Depression anzugehen – mit dem Schreiben.
Sie weiß, wovon sie erzählt, und muss wenig erfinden. In einem Nachruf des Tübinger Verlags Klöpfer & Meyer, in dem 2010 die fünfbändige Gesamtausgabe ihrer Werke, herausgegeben von Peter Blickle und Franz Hoben, erschienen ist, heißt es treffend:
Maria Beig erzählte im kargen und damit umso treffenderen Ton vom Beziehungsgeflecht in dörflichen Gemeinschaften, den gegenseitigen Abhängigkeiten und beklemmenden Verschränkungen. Ihre nüchternen Erzählungen sparten Grausamkeiten und Brutalitäten nicht aus, die ihr Jahrhundert in das Dorf- und Familienleben brachte und diese mittlerweile verschwundene Lebenswelt prägten. Maria Beig berichtete schonungslos von einem Dasein, in dem schwere und harte Arbeit, Unfälle und öffentliche Stigmatisierungen (etwa als „Hochzeitslose“, die nichts gegolten haben) zum Alltag gehörten. Ihr Lebenswerk lässt Frauen vom Land zu Wort kommen, die es im Leben immer schwer hatten – mit den Männern, mit der Liebe, mit dem Leben. Maria Beig machte zeitlebens mit ihrem Schreiben das Unglück nicht größer und das Glück nicht geringer, rückte immer aber die Menschen und Tiere auf dem Lande in den Blickpunkt.
Maria Beig war bereits 89 Jahre alt, als 2009 bei Klöpfer & Meyer ihre Autobiografie Ein Lebensweg erschienen ist, ihr zweifelsohne mutigstes Buch, gewiss ein Stück Befreiungsliteratur, in dem sie auch vom Schicksal ihres unehelichen Sohnes berichtet.
Im Alter von 97 Jahren ist Beig, die gleichmütige Chronistin Oberschwabens, am 3. September in Friedrichshafen am Bodensee verstorben. Doch es bleibt, und das ist ein schöner Trost, was ihr oberschwäbischer Schriftstellerkollege Arnold Stadler anlässlich ihres 75. Geburtstages in der von Oswald Burger bei Thorbecke herausgegebenen Festschrift Was zählt. Blicke auf Maria Beig so formuliert hat: „Maria Beigs Bücher waren und sind auch für mich ein Anstoß wie für alle Leser, die nie geschrieben haben und nun aufgehoben sind, gut aufgehoben. Ein Anstoß, ein Schmerz, eine Freude. […] Ich danke für den Anstoß und die Bewegung, den Schmerz und die Freude, für diese Einfachheit und ihre Klarheit, für diese Welt und ihre Wahrheit.“