Abteilung „Neue Frau“

Maria Gleit kleidet in „Abteilung Herrenmode“ einen Liebesroman ins Gewand des Zeit- und Wirtschaftsromans

Von Günter HelmesRSS-Newsfeed neuer Artikel von Günter Helmes

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Wiener Verlag Das vergessene Buch hat in den letzten Jahren ganz zu Unrecht vergessene Autorinnen der Moderne um 1930 wie Maria Lazar und Marta Karlweis wieder einem breiteren Lesepublikum nahegebracht. Nun steht mit Maria Gleit (1909-1981) und deren im Frühjahr 1933 erschienenen Erstling Abteilung Herrenmode – „einer der letzten Beiträge zur Neuen Sachlichkeit wie zur Neuen Frau“ (Nachwort) – eine weitere, bislang nur in begrenzten Fachkreisen bekannte Wiederentdeckung an. Die fällt, um das vorwegzunehmen, nicht so spektakulär wie diejenige der beiden Genannten aus. Sie ist aber allein des sensiblen Erzählens von Liebes- und Lebensangelegenheiten und des vielgestaltigen, reportagehaften, häufig die Perspektiven wechselnden Darstellens der Arbeitswelt halber zu begrüßen. Beim Versuch, Erinnerungswürdiges und nach wie vor Lesenswertes ins literarhistorische Bewusstsein zu integrieren, kann es, zumal bei lange Zeit ob ihres Geschlechts systematisch ausgegrenzten Autorinnen, nicht immer nur um Spitzenleistungen gehen.

In seinem ausführlichen, viel Forschungsliteratur verarbeitenden Nachwort – das gefällt durch zeitgeschichtliche Kontextualisierungen zu Themen wie „Warenhaus“, „,Markt‘ und ,Neue Frau‘“ und „Girlkultur“ sowie durch die Nennung zahlreicher literatur- und kulturhistorisch wichtiger Primärtitel, überzeugt hinsichtlich des Romans begrifflich und interpretatorisch aber nur ansatzweise – geht der herausgebende Historiker Vojin Saša Vukadinović ausführlich auf Maria Gleits Leben ein. Beleuchtet werden vor allem die erste Zeit im Nationalsozialismus, Gleits Weg ins und Leben im Exil, zuletzt in den USA, die Rückkehr in die Schweiz nach Kriegsende, das Versiegen ihrer künstlerischen Kraft Anfang der 1950er Jahre, ihr Totgeschwiegen-Werden in der „sozial restaurativen Ära der 1950er Jahre“, ihr Selbstmord am 9. Juli 1981 sowie ihre punktuelle fachinterne Wiederentdeckung seit den 1980er Jahren.

Unterm anderem wird darauf hingewiesen, dass Gleit zunächst „keine konsequente Antifaschistin“ gewesen ist. Es hafte ihrem Handeln „ein opportunistisches Moment“ an, heißt es salvierend und unter Verweis auf das auch von Erich Kästner bekannte Argument, sie sei in Deutschland geblieben, weil sie sich um ihre Mutter habe kümmern müssen. Dass dieses Argument zumindest bei ihr so nicht ‚zieht‘, wird im Fortgang allerdings an der Exilierungs- und weiteren Lebensgeschichte der Mutter deutlich. In den USA dann habe Gleit vor allem „gegen den Nationalsozialismus“ gerichtete Kinder- und Jugendliteratur geschrieben.

In diesen biographischen Zusammenhängen ist auf den die Edition beschließenden „persönliche[n] Rückblick“ von Gleits Sohn Vito Victor zu sprechen zu kommen. Der schreibt aus der Perspektive eines Sohnes, der zu seiner Mutter in einer „komplizierten“ Beziehung stand. Anhand von Gleits Erinnerungen Mein Vater war auch dabei äußert sich Victor zunächst zu den frühen Lebensjahren seiner Mutter. Sein von erheblicher Distanz zeugendes, Hamlet zitierendes Urteil: „Die Dame, wie mich dünkt, gelobt zu viel“. Diese Distanz zur Mutter wird noch deutlicher, wenn Victor zum anderen auf Maria Gleits Erwachsenenjahre zu sprechen kommt. Der von den Mitmenschen meist gering denkenden Mutter sei es wie dem Vater bei aller Schwärmerei für Karl Marx und die „Ermächtigung der Frauen“ im Grunde genommen um die Befriedigung „ihre[r] immensen Egos“ und die „Anerkennung“ als „Intellektuelle“ und nicht um eine „‚bessere‘ Welt“ gegangen, heißt es wenig schmeichelhaft. Andererseits wird Maria Gleits „kaum vorstellbare[] geistige[] Leistungsfähigkeit“ herausgestellt.

Der Roman

Erzählt wird die von Unglaubwürdigkeiten, ‚Zufällen‘, Ungereimtheiten, Stereotypen und auch von Kitsch nicht ganz freie Geschichte der zweiundzwanzigjährigen Lotte Stein, die sich, taff wie sie ist, von nichts und niemandem ‚die Butter vom Brot‘ nehmen lässt. Dieses „tapfere und besonnene, [] wissende Mädchen ihrer Zeit“ wurde, folgt man Victor, von der beim Verfassen des Romans gleichaltrigen Maria Gleit dazu auserkoren, für sie „das Gelände zu sondieren.“ „In Wahrheit“, heißt es im Roman denn auch, „wusste Lotte Stein selbst nicht, was sie [in Liebesangelegenheiten] wollte.“ Lotte Stein, zu Romanbeginn in einer persönlichen, für den Roman konstitutiven Krise, die nach „ein paar Monate allein sein und Ruhe haben“ verlangt, bringt es von einer Verkäuferin unter vielen aufgrund ihrer „Standhaftigkeit“, wie der Herausgeber meint, und allerlei Klippen zum Trotz zur Leiterin einer neu zu konzipierenden Abteilung für Herrenmode in einem Prager Warenhaus. Das klingt nach Tellerwäschergeschichte, oder? Oder handelt es sich doch eher um einen in „,realistischer Manier‘“ und mit feministischer „,Optik‘“ (Helmuth Kiesel) geschriebenen, wirklichkeitsnahen Zeitroman? Oder gehen im Roman vielleicht Kolportage, in Szene gesetzte Sozialwissenschaft, Autopsie und „realistische[] Manier“ Hand in Hand? Darauf läuft es wohl hinaus.

Im Nachwort heißt es in diesem Zusammenhang richtigerweise, dass Verkäuferin eine „berufliche[] Existenzweise“ gewesen sei, „die kein Aufwärts kannte“ bzw. „für die meisten Verkäuferinnen schier unmöglich“ gewesen sei. Von daher wird Lottes allen Wahrscheinlichkeiten zuwiderlaufender Aufstieg als „nahezu ironische Wendung“ – schöngeredet? Nicht nachzuvollziehen ist jedenfalls, inwiefern „die Wirklichkeit des Marktes“ mit Lottes Beförderung, die mit guten, junge Verkäuferinnen und Privates betreffenden Vorsätzen einhergeht, „sowohl die trügerischen Versprechen der Massenmedien als auch die traditionellen Vorstellungen von Arbeit und Aufstieg“ korrigieren soll.

Die ebenso fleißige wie intelligente und lebenskluge Lotte Stein, bei den Eltern in proletarisch-kleinbürgerlichen Verhältnissen lebend, aus denen sie unbedingt ‚nach oben hin‘, zur Welt der „Masken“ ausbrechen möchte, arbeitet in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit, Kurzarbeit und sich verschärfender Konkurrenz in Berlin für das Warenhaus „Schack & Co. A.-G.“ In diesem, in dem „Sachlichkeit […] das oberste und zugleich erfolgreichste Gesetz“ ist, arbeitet auch ihr im Privat- wie im Berufsleben integrer, ihr gegenüber aus Verlustängsten heraus „fügsam[er] und demütig[er]“, doch angesichts ihrer Krise von ihr als aufdringlich wahrgenommener Freund Walther Böhmelmann. Der, ein „[n]etter, anständiger und kameradschaftlicher Mensch“ aus einfachem, aber gutem Hause mit entschiedenem Hang zur Romantik, strebt, nachdem er sich gehörig ausgelebt hat, um „Geborgenheit“, „Frieden“ und Sinnstiftung willen nunmehr eine Ehe mit der von ihm geliebten, in Liebesangelegenheiten ebenfalls erfahrenen, doch in dieser „lieblosen und geschäftstüchtigen Welt“ illusionslos gewordenen Lotte an.

Böhmelmann sagt das Nachwort „kleinbürgerliche[] Vorstellungen von Liebe und Arbeit“ nach. Irritierenderweise, sind dies doch genau jene Vorstellungen, die der Roman selbst e negativo anhand von in privaten wie beruflichen Belangen Negativfiguren stark macht – zu nennen ist insbesondere der Personalchef Dr. Saffian, ein (nach Heftromanart Ende gut alles gut) schließlich zur Strecke gebrachter Ausbund an Verstellung, sadistischer Eitelkeit, verlogener Selbstgefälligkeit und hemmungsloser, erpresserischer Übergriffigkeit, dem viel Erzählraum eingeräumt wird. Es sind aber auch die Vorstellungen, die die als „Neue Frau“ akklamierte Lotte Stein letztendlich emphatisch teilt, indem sie sie – nach privaten Turbulenzen in Sachen Liebe – mit aller Entschiedenheit zu ihrer Handlungsmaxime macht. Lotte Stein also bei Lichte besehen eine Kleinbürgerin?

Zu Romanbeginn wird der selbstherrliche Besitzer des Warenhauses Dr. Schack, ein rücksichtsloser „unermüdlicher Menschenexperimentator“, nach sechsmonatiger „Überseereise“ zurückerwartet – Abteilung Herrenmode ließe sich auch im Kontext des zeitgenössischen Großthemas „Amerikanismus“ diskutieren, zumal es heißt, im Warenhaus werde „modern und amerikanisch […] ausgepresst“. Angst und Nervosität beherrschen die Szene, die Außenstehende als ein „modernes Gefängnis“ wahrnehmen würden, „in dem jeder Insasse sein Todesurteil erwartet[].“

Aber auch ohne Dr. Schack geht es im Warenhaus alles andere als kommod zu. Unter den Verkäuferinnen und ihren Vorgesetzten – allesamt „Menschenmaterial“ – herrschen, sieht man von Lotte und Walter ab, Neid, Misstrauen, Niedertracht, Klatsch und hämische Konkurrenz. Von Kollegialität, gar Solidarität kann keine Rede sein, zumal nicht zwischen Alt und Jung, zumal nicht in Zeiten, in denen man sich dem Roman nach „gar nicht wehren“ kann und „die […] mit uns machen“ können, „was sie wollen“. Permanente Übergriffe auf die weiblichen Angestellten gehören zum Arbeitsalltag und führen wie im Falle der blutjungen, von Dr. Saffian verführten Annemarie Meier zu Schwangerschaft, Beziehungschaos und Fehlgeburt.

Weil er, um zu Dr. Schack zurückzukehren, die „Freudlosigkeit des rationell ausgebeuteten Menschen unserer Tage erkannt“ hat und „ausnutzen“ will, fordert er eine neue Verkaufsstrategie für die dümpelnde, kaum mehr konkurrenzfähige Abteilung Herrenmode seines Warenhauses. Diese neue Strategie sieht – Stichwort: Amerikanismus – u. a. sogenannte „Verkaufgirls“ vor, die „anziehendsten und schönsten Verkäuferinnen“ des Hauses, „dass es für jeden Käufer ein Vergnügen sein muss, von jedem der Verkaufgirls bedient zu werden“. Um diese Strategie, deren Realisierung und die „Girls“ dreht sich dann im Folgenden vieles.

Im Vordergrund stehen aber die turbulente Liaison, die die zwischen Lust, Vernunft und Verantwortung „hin und her gerissen[e]“, vor allem ältere Männer betörende Lotte Stein mit Hans Kreuznacher, dem Juniorchef der Zulieferfirma „Kreuznacher & Schulz“ eingeht, sowie die Auseinandersetzungen mit und das Auf und Ab in der Beziehung zu Walter Böhmelmann. Dabei ist die Laison mit Kreuznacher jun., zu dem Lotte von „Liebe“ wie von einem „Unglück“ getroffen ist, dem aber alles nur ein „Sport“ und sie in Grunde genommen „gleichgültig“ ist, in ein wirtschaftliches Kalkül der Firma „Kreuznacher & Schulz“ eingebunden. Die will die erfolgreiche Verkaufsstrategie Dr. Schacks auch an andere Warenhäuser und „Spezialgeschäfte“ vermitteln – „Eins von den Schackmädels [Lotte nämlich] angeln und zur Einrichtung ähnlicher Abteilungen mitnehmen“ und unter „Geschäftsspesen“ abbuchen, heißt es aus dem Mund von Kreuznacher sen. –, um sich „neue Absatzmöglichkeiten“ zu eröffnen.

Dennoch kann nur schwerlich davon die Rede sein, dass Abteilung Herrenmode „die Frage danach“ stelle, „wer gesellschaftlich die Hosen anhat“, und versuche, diese Frage „als Sonde in die Innenwelt eines Marktes zu beantworten“ (Nachwort). Mit Abteilung Herrenmode führt Gleit auch nicht „auf ihre Weise die Auseinandersetzung um die Warenförmigkeit und das emanzipatorische Potenzial weiblicher Angestellter fort“. Lotte Stein hat ja beispielsweise gegen die „Verkaufgirls“ als solche, das heißt gegen Erotisierung und damit „Warenförmigkeit“ allenfalls einzuwenden, dass „auf die niedrigsten Instinkte der Menschen spekuliert“ wird. Sturm läuft sie aber nur gegen damit verbundene „Abenteuer“ und Sexualisierung in welcher Form auch immer. Im Übrigen ist sie „der Ansicht, dass man jede Möglichkeit benutzen muss, um herauszukommen. Um – etwas zu werden.“

Und ja, „Gleit war“ – der Oberfläche nach – „in ökonomischer Hinsicht augenscheinlich gut informiert über das, was sie beschrieb.“ Ihr Wissen war aber seit Siegfried Kracauers Studie Die Angestellten (1930), weiteren soziologischen Studien und diversen literarischen Thematisierungen – das Nachwort führt sie alle an – Gemeingut und, den jungen Rezensenten Wolfgang Koeppen zusammenfassend, in „standardisierte Erzählweisen“ übergegangen. Gleit trägt hinlänglich Bekanntes zusammen, entdeckt aber nicht selbst. Zudem hat sie keine tieferen Einsichten in wirtschaftliches und damit in kollektives wie individuelles Geschehen bzw. Handeln, erkennbar u. a. daran, dass auf der Leitungsebene charakterlich bzw. moralisch argumentiert wird, während fast alle Untergebenen als Ergebnis eines Wirtschaftssystems begriffen werden: „[E]s war, als dringe das Geschäft dieses großen Kapitalisten Schack bis ins Herz seiner Angestellten vor, selbst im engsten menschlichen Liebesgefühl und Kontakt vermochten sie es nicht, sich von seinen Methoden zu befreien“. Ihr emanzipatorisches ‚Programm’ läuft auf Charakterbildung und nicht auf gesellschaftliche bzw. Systemveränderungen hinaus. Wie sagt sie doch zum Schluss: „[W]ir stehen nun einmal im Wirbel dieser unseligen Zeit, […] wir dürfen […] nicht davonlaufen.“

„Ich würde gerne erfahren, wie Sie dieses nun wiederentdeckte Buch aufnehmen werden, und was es Ihnen nach der Lektüre bedeuten wird“, beschließt Vito Victor seinen „persönliche[n] Rückblick“. Ob Sie ihm via Verlag schreiben werden?

Titelbild

Maria Gleit: Abteilung Herrenmode. Roman eines Warenhausmädels.
Das vergessene Buch – DVB Verlag, Wien 2023.
384 Seiten, 26,00 EUR.
ISBN-13: 9783903244337

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