Magische Kräfte als Grundlage von Macht?

Karen Gloy sucht die bereichsübergreifende Grundstruktur von Macht und Gewalt in der etymologisch-semantischen Aufklärung dieser beiden Begriffe zu fundieren

Von Gertrud Nunner-WinklerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Gertrud Nunner-Winkler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Philosophin Karen Gloy verfolgt ein anspruchsvolles Projekt. Unter dem fett gesetzten Obertitel Macht und Gewalt listet der Buchumschlag die Vielfalt behandelter Themen auf: Politik – Wissen – Psychologie – Geld – Netzwerke. In der umgangssprachlich diffusen Verwendung, so notiert Gloy einleitend, werden die Begriffe Macht und Gewalt sowie deren positive und negative Aspekte zusammengeworfen. Wissenschaftliche Analysen behandeln jeweils nur Einzelgebiete. Gloy hingegen möchte eine alle Bereiche fundierende ‚Grundstruktur‘ herausarbeiten und zwar durch eine etymologisch-semantische Aufklärung der Begriffe ‚Macht‘ und ‚Gewalt‘. Danach bedeutet Macht ‚Vermögen haben zu etwas‘. Die verwandten Begriffe ‚Maschine‘ und ‚Magie‘ verweisen auf intentional Gemachtes und auf magisch-mythische Vorstellungen der Welt als System miteinander ringender Kräfte. Letztere begründen die Bedeutung von ‚Macht über‘ und von (an Bodenbesitz gebundener) ‚Gewalt‘. Beide Bedeutungen – ‚power to‘ und ‚power over‘ – gehören untrennbar zusammen und beider Grundlage sind magische Kräfte. Die verschiedenen Lebensbereiche sind durch je spezifische Kraftarten bestimmt: der politische Bereich ist durch physische, der Wissensbereich durch intellektuelle Kräfte bestimmt, Psychologie und Religion sind durch psychische Einflüsse, ökonomisch-monetäre Aspekte durch Triebe, soziale Netzwerke durch soziale Beziehungen bestimmt. 

Es folgen Einzelanalysen. Im politischen Bereich werden drei Positionen kontrastiert. Macht gleich Gewalt: In der Antike galt das Recht des Stärkeren (so die realistische Geschichtsschreibung des Thukydides) und zu der rein physischen Gewalt traten noch die Zwänge des gottverhängten Schicksals und der menschlichen Triebe, für die Vernunft nicht als kontrollierende Gegenmacht, sondern als Diener fungierte (so die sophistische Philosophie). Macht und Gewalt: Zu Beginn der Neuzeit entfaltete Machiavelli das – von Gloy favorisierte – Modell einer auf physischer Stärke und guten Gesetzen gegründeten Staatsform. Wegen der Schlechtigkeit der Menschen kann oder muss der Herrscher auch List und Täuschungen einsetzen, um Frieden und Ordnung zu sichern. An die Stelle fatalistischer Schicksalsergebenheit tritt die Tatkraft und Entscheidungsgewalt des Fürsten. Macht oder Gewalt: Hannah Arendt versteht Macht als Fähigkeit, im Einvernehmen mit anderen zu handeln, und Gewalt als Mittel zur Durchsetzung von Zielen. Diese „eigenwillige Konzeption von Macht…, der jede ‚Bisskraft‘ fehlt“, resultiere aus der Vernachlässigung der „etymologisch-semantischen Basis des Machtbegriffs“, wonach Macht nicht nur ‚Vermögen zu‘ sondern (wie Gewalt) auch ‚Herrschaft über‘ bedeute. Die Vorstellung von „Macht als einer Existenzform ohne Gewalt“, die auch ihre „Nachfolger“ Jürgen Habermas und Niklas Luhmann verträten, sei „illusionär und irreal“.

Im Wissensbereich entwickelte zunächst Bacon die Idee planmäßig variierter Versuchsreihen, bei denen der Mensch passiv-rezeptiv wie ein Schüler von der vorgegebenen Natur lernt. Kant konzipiert dann ein aktiv konstruktivistisches Verfahren, wobei der Mensch wie ein Richter der Natur Fragen und vorformulierte Antworten aufnötigt. Heute kann der Mensch Natürliches auch modifizieren und produzieren. Beispiele der Steigerung der Macht über die Natur finden sich in Gentechnologie, Nanotechnologie, in Forschungen zu künstlicher Intelligenz, im Cyberspace-Programm.

Ausgangspunkt der Macht in der Psychologie sind Zauberei und Hexerei. Diese unterstellen die Beeinflussbarkeit von Personen nach dem Ursache-Wirkung-Prinzip, die wir heute in psycho-somatischer Terminologie beschreiben. Die Wirkmächtigkeit von Einbildung und von Gedanken ist belegt durch Placebo-Effekte und durch die Möglichkeit, Willensimpulse an Gehirnströmen abzulesen und in Computerprogramme umzusetzen. Im religiösen Glauben ist der Einfluss der psycho-somatischen Kausalität auf die Physis des Menschen noch erweitert und vertieft. 

Im ökonomisch-monetären Bereich sucht die Autorin die „magische Anziehungskraft“ des an sich völlig wertlosen (Papier-) Geldes historisch zu erklären. Ursprünglich gehörte der Tausch – die Grundlage der späteren Geldwirtschaft – in den sakralen Bereich. Er basierte auf Vertrauen, Verlässlichkeit und Glauben. Diese Treuekomponente – ein Relikt aus dem magisch-mythischen Zeitalter – erklärt das Urvertrauen in das Geld. In der Moderne ist Geld zum säkularisierten allmächtigen Gott avanciert. Als Mittel zur Erfüllung aller Begierden erweckt es unersättliches Streben – es wirkt wie Drogen auf das Belohnungszentrum. Geldgier und Neid sind eine Ausdruckform des genetisch angelegten Triebes nach Höherem, der zugleich als positives Antriebsmoment für die Schaffung von Kultur fungiert. 

Abschließend geht es um die Macht sozialer Netzwerke. Zunehmend schwindet die ursprüngliche Hoffnung, in sozialen Netzwerken würden egalitäre Informationsausbreitung, Transparenz und gleichberechtigte Partizipationsmöglichkeiten verwirklicht: Plattformen spezialisieren sich, die Datenfülle wird übermächtig, die Anonymität fördert die Verbreitung von Fake News und macht „die Unterscheidung von Wahrheit und Lüge obsolet“. Im Internet zeigen sich Macht (Größe, Reichweite, Schnelligkeit) und Ohnmacht (die Überfülle ungefilterter Daten, Fake News, Intransparenz, Manipulation). 

Das Buch enthält interessante Ausführungen. Instruktiv etwa sind Darstellung und Diskussion der politischen Positionen von Thukydides und Machiavelli, der wissenschaftstheoretischen Überlegungen von Bacon, der neueren Forschungen zur künstlichen Intelligenz. Überraschend – teilweise auch anregend – sind die Rückbezüge psychologischer Befunde zu magisch-mythischem Denken. Gleichwohl habe ich erhebliche Probleme mit der verfolgten Theoriestrategie – mit dem Versuch, soziale Phänomene durch eine etymologisch-semantische Analyse der Grundbegriffe aufzuklären. Alltagsweltlich ergibt sich die Bedeutung von Begriffen aus ihrer Verwendungsweise und umgangssprachlich werden Herrschaft und (physische) Gewalt klar unterschieden. In wissenschaftlichen Kontexten werden Begriffe festgelegt. Die Definitionen folgen bestimmten Kriterien. Max Weber etwa nennt Eindeutigkeit, Zweckmäßigkeit, Kulturbedeutung, i.e. Bezug auf zentrale Wertideen der Kultur und realhistorische Wirksamkeit. Die Kenntnis früherer Wortbedeutungen ist wichtig für die Entschlüsselung überlieferter Quellen; auch sensibilisiert sie für die Wahrnehmung geschichtlicher Veränderungen. Keineswegs aber sichert sie – wie Gloy unterstellt – ein vertieftes Verständnis heutiger Institutionen. An Gloys vernichtender Arendt- und abwertender Weber-Kritik sei der Einwand verdeutlicht. Die etymologische Affinität der Begriffe Macht und Gewalt spricht nicht gegen die terminologische Unterscheidung von Macht als (auch konsensorientierter) Durchsetzungsfähigkeit und Gewalt als Einsatz (auch) physischer Zwangsmittel. Eine solche Trennung ist im Englischen auch sprachlich vollzogen (power versus violence). Sie impliziert Webers Frage nach der Basis von Folgebereitschaft, die eben nicht allein auf (der Androhung von) physischer Gewalt gründet. So wird eine Analyse demokratisch rechtsstaatlich verfasster Gemeinwesen möglich wie sie etwa Habermas vorgelegt hat. Er schreibt der ‚kommunikativen Macht‘ gewaltloser Konsensbildung eine (zumindest schwach) motivierende Kraft zu, wobei es aber institutioneller Absicherungen bedarf und Gewalt als Ausfallbürgschaft fungiert. Entscheidend bei Arendt, Habermas, Weber ist der Bezug auf Legitimität – eine Kategorie, die bei Gloy überhaupt nicht auftaucht. Das Ausblenden der normativen Dimension (oder deren Reduktion auf Legalität bei Machiavelli) passt zu ihren immer wieder anklingenden eher deterministischen Menschenbildannahmen. Ungeachtet des einleitenden Verweises auf Intentionalität als Komponente des Machtbegriffs versteht sie Macht eher als Kräftesystem. So fokussiert sie in den Einzelanalysen primär auf bestimmende Einflüsse – auf Schicksal und Gelegenheitsstrukturen als Gegenkräfte zu der an militärische Stärke gebundenen Herrschaftsgewalt des Fürsten im politischen Bereich, auf unbewusste magische Vorstellungen und genetisch verankerte Triebe im psychologischen und ökonomischen Bereich. Normen und Wertorientierungen würdigt Gloy nicht als eigenständige Einflussfaktoren. Da überraschen dann auch ihre überzogen relativistischen Schlussfolgerungen wenig: Dank Cyberspace-Programmen mutiere Fiktion zur Wahrheit, mit der Verbreitung von Fake News hebe sich „die Differenz zwischen Lüge und Wahrheit“ auf, und mit Geld könne man „Wissenschaftler kaufen“.

Gloy glaubt durch die Rekonstruktion des ursprünglichen Bedeutungsgehalts der Begriffe eine bereichsübergreifende Grundstruktur von Macht und Gewalt zu gewinnen. Das erinnert an den Versuch des Wiener Kreises, eine einheitliche Wissenschaftssprache als Grundlage einer Einheitswissenschaft zu entwickeln. Dieser Versuch scheiterte. Erst recht kann man heute – angesichts der zunehmenden Ausdifferenzierung wissenschaftlicher Disziplinen – Erkenntnisfortschritt nur erwarten, wenn die aus den jeweils geltenden Theoriegebäuden abgeleiteten Konstrukte auf die je verfolgten konkreten Fragestellungen und spezifischen Messverfahren abgestimmt sind.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Kein Bild

Karen Gloy: Macht und Gewalt. Politik – Wissen – Psychologie – Geld – Netzwerke.
Königshausen & Neumann, Würzburg 2020.
230 Seiten , 29,80 EUR.
ISBN-13: 9783826070099

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch