Über allem schwebt Aristoteles – oder tierische Alternativen

Jan Glück geht der europäischen Tierepik des Mittelalters auf den Grund

Von Jörg FüllgrabeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jörg Füllgrabe

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Einfluss des tatsächlichen wie des falsch rezipierten Aristoteles auf die europäische(n) Gesellschaftsdeutung(en) kann wohl schwerlich überschätzt werden. Dass die entsprechenden Diskurse in der philosophisch-politischen Sachliteratur stattfanden, ist naheliegend, und eine in diesem Zusammenhang vielfältige Diskussionskultur steht außer Frage. Dass dergleichen allerdings auch in der Tierepik stattfand, verwundert zunächst, wirkt allerdings deutlich weniger erstaunlich, wenn berücksichtigt wird, wie oft Kritik am real existierenden politischen System über den ‚tierischen Umweg‘ geübt wurde beziehungsweise werden musste, um sich der politischen Verfolgung zu entziehen.

Dies und alles, was damit zusammenhängt, bildet das Thema von Jan Glücks Dissertation Animal homificans, die 2020 an der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität abgeschlossen und nun in überarbeiteter Form einem breiteren Publikum zugänglich gemacht wurde. Dass Begrifflichkeiten wie etwa ‚Synergieeffekte‘ zwar erst in jüngerer Zeit en vogue wurden, in ihrer Wirkkraft aber zumindest implizit bereits zuvor eine Rolle in Literatur und Kultur spielten, wird in der vorliegenden Publikation zumindest im weiteren Sinne diskutiert. Der Mensch als Naturwesen ist ein nicht mehr ganz so junges Konzept; es handelt sich um einen Diskursansatz der Philosophie in ihrem Bemühen, die theologische strenge Scheidung zwischen Mensch und Natur – in diesem Falle Tier – als göttlich gegeben und damit absolut zu setzen. Dieses Konzept, der Konnex zwischen Natur und Mensch, hat mittlerweile auch in die Ökologie und damit auch die Politik Einzug gehalten. Dass die Paarung Mensch–Natur beziehungsweise Mensch–Tier bereits in der mittelalterlichen Literatur zum Tragen kam, überrascht nur auf den ersten Blick, es existierte schließlich die bis in die Antike zurückreichende Tradition der Fabel.

Auch in mittelalterlicher Überlieferung steht das Tier ‚seinen Mann‘. Und mehr noch: Dass es offensichtlich Zeiten gab, in denen Tiere im Feld der Politik mindestens so erfolgreich waren wie dortselbst aktive menschliche Vertreter, weckt zuweilen Assoziationsketten bis in die Gegenwart und lässt die Rolle der Tiere innerhalb des demokratischen Rechtsstaats und ihre Bedeutung für diesen neu denken. Von politischen Entscheidungen betroffen sind sie allemal – und als definitiv in die Natur eingebettete Wesen sind sie dieser kaum entfremdet.

Jan Glück hat die Hürden hoch gelegt, denn es „wird in der vorliegenden Studie mit der mittelalterlichen Tierepik eine Erzähltradition untersucht, die in immer neuen Überblendungen von Tierlichem und Menschlichem eigenständige Ansätze zur Vermittlung von Natur und Norm begünstigt und dabei Anthroplogien hervorbringt, die eine spezifisch narrative und erstaunlich offene Reflexion des Politischen anstoßen“. Diese wuchtige Formulierung, die zwar eine Ergebnisdarstellung ist, aber doch auch axiomatisch einherkommt, ist Ergebnis (und Ausgangspunkt?) einer offenbar durchdachten und stringenten Gliederung der Arbeits- und Erkenntnisschritte. Der hier in den Blick genommene Diskurs der Tierepik hinsichtlich politisch relevanter Felder beginnt mit einem Blick auf die lateinische Tierepik und setzt sich mit Blick auf den Roman de Renart und dessen Adaptionen bis zum Libre de les bèsties des Raimundus Lullus fort.

Nach einem knappen Vorwort, das weniger das Thema als dessen Umsetzung ausweist, werden weitere Axiome und Arbeitsschritte dargelegt. Diese sind – wie auch die „Schlussgedanken“ – von der lateinischen Nummerierung ausgenommen, die den Themen respektive Untersuchungsblöcken des Hauptteils vorbehalten bleibt. Die Frage, ob das etwas zu bedeuten hat und wenn ja, was, ist allerdings nicht zu beantworten. Mit einem philosophiegeschichtlichen Präludium werden Gedanken und Ergebnisse zum Bereich des Verhältnisses zwischen Natur und Mensch vorgestellt. Dabei taucht an prominenter Stelle der Name David Hume auf, womit auch eine wissens- und wissenschaftsgeschichtliche Dimension eröffnet wird.

Wichtiger als der Bezug auf Hume ist dem Verfasser allerdings die durch Johannes von Salisbury in seinem Policraticus vorgenommene Adaption von Platons Politeia und hier insbesondere die Einbeziehung der Natur einerseits im Sinne eines allgemeinen Urgrundes des Seins (und damit auch politischen Handelns), andererseits als normspendende Matrix, aus der sich ideale Politik herleiten lässt. Dementsprechend endet der einleitende Teil auch mit einer Definition der Umsetzung und Anwendung politischer Parameter in der Tierepik und weist mit den Worten des Verfassers „Entwürfe sozialer und politischer Ordnung im tierepischen Erzählen“ nach.

Im ersten Hauptkapitel wird das „tierepische Erzählverfahren“ untersucht. Hierbei werden Brechungen der Erwartungshaltungen an die mittelalterliche Historiographie ebenso zum Thema gemacht wie auch die Konstellation von Macht und Machtmissbrauch anhand gefälschter Urkunden sowie von Füchsen geheilter Löwenkönige in den Blick genommen werden. Dabei wird „exzentrischen Bahnen zwischen erzählter Welt und Wirklichkeit“ gefolgt, die – vor allem im Hinblick auf die politische Wirklichkeit – mitunter gar nicht so exzentrisch erscheinen.

Ein Belegtext für diese nachgerade wirklich-unwirkliche Konstellation ist die Fabula de aegro leone, in der Jan Glück die Verselbstständigung der erzählten Welt durch „eine Verdichtung paradigmatischer und einen Ausbau syntagmatischer Strukturen“ erreicht sieht. Im Weiteren werden Aspekte und Strukturen der Ecbasis captivi (eines „Tierepos ohne Tiere“, wie Glück die entsprechende Literatur paraphrasiert) in die Überlegungen mit aufgenommen. Die innertextlichen Entwicklungen machten demgemäß einen Übergang vom tierischen Fühlen, also einer allenfalls rudimentär ausgeprägten Möglichkeit der (Selbst-)Reflexion zum tierischen Denken aus, womit eine valide Analogie zu menschlichen Denk- und Handlungsmustern gegeben sei. Und auch im Grundsätzlichen macht der Autor eine quasi (literatur-)evolutionäre Tendenz aus, in der sich neue Denkstrukturen Bahn brechen.

Die „Aporien des Politischen“ werden vornehmlich aus einer füchsischen Perspektive betrachtet und dementsprechend abgehandelt. Gleich ob Reinhart oder Renart, der Fuchs ist im engeren Sinne das Zoon politikon par excellence. Dass diesem Tier ganz allgemein das Attribut der Klugheit, die über die instrumentelle Schlauheit bis hin zur Verschlagenheit reicht, zuerkannt wird, ist grundsätzlich auf die Beobachtung des Verhaltens von Füchsen zurückzuführen, das bereits in der Antike als gewissermaßen personalisierte und personalisierende Eigenschaft Eingang in die literarische Tradition fand. Sind demnach Fuchs, Wolf, Löwe und andere Tiere menschlich? Womöglich sogar menschlicher als die ‚echten‘ Menschen?

Jan Glück liest dies einerseits aus den Texten heraus. Er weist die entsprechenden Konstellationen nach, übersieht dabei allerdings, dass sich laikale und klerikale Vorstellungen diametral gegenüberstehen. Belegt in der Schöpfungsgeschichte steht der Mensch über dem Tier, die (krypto-)pagane oder doch zumindest laikale Tradition kennt diese Scheu nicht. Hier kann das Tier zum Menschen werden und dabei die positiven wie negativen Eigenschaften menschlicher Gemeinschaften durchleben beziehungsweise darstellen. Dass die in vorliegendem Zusammenhang relevante Botschaft keineswegs optimistisch stimmt, macht sie leider nicht unwahrer. Im scheiternden Zusammenspiel von Löwenherrscher, füchsischem Berater, rebellischen Ameisen und anderen Tieren erweist sich der Sturz des tyrannischen Herrschers als Pyrrhussieg: Schlechte Herrschaft erscheint erträglicher als politisches Chaos.

Auch die „Autorisierung des Politischen“, der dritte Abschnitt des Buches, bietet letztlich wenig Anlass zur Freude. Vieles von dem, was der Verfasser bereits vorher angesprochen hat, wird nochmals durchdekliniert, Fuchs und Löwe bleiben als Referenztiere erhalten, und nicht erst allmählich wird klar, warum die implizit in den Raum gestellte Beispielhaftigkeit des politischen Agierens dieser ‚menschlichen Tiere‘ oder vielleicht auch ‚tierischen Menschen‘ nicht von der Hand zu weisen ist. Die in den Texten vorgenommenen Überblendungen von Tierischem und Menschlichem ist zielführend und Camouflage zugleich; fehlgeleitete Ambitionen, Naivität und Selbstüberschätzung im tierepischen Reigen sind nicht zufällig Parallelen zu den menschlichen Gesellschaften.

Als Klimax der für die Untersuchungen herangezogenen Texte wird das Libre de les bèsties von Lullus ins Feld geführt. Im Vergleich mit den bereits zuvor in den Blick genommenen älteren Texten werden nochmals die verschiedenen Parameter sowie Eindeutigkeiten und Widersprüche näher betrachtet. Glück geht sogar so weit, dass er den Postfundamentalismus Oliver Marcharts bereits bei Lullus quasi prädestiniert sieht. Ähnlich wie später Marchart postulierte demnach schon Lullus, „dass es keine Begründung des Politischen von außen geben kann und dass die Begründungen politischer Ordnung im politischen Diskurs selbst kontingent sind“.

Dies bekräftigt der Verfasser nochmals in seinem knappen Résumé, das noch einmal wesentliche Stationen der Argumentationen kurz umreißt und auf die ‚postfundamentlistische’ Auflösung abzielt. Denn „Lulls Formulierung, der Mensch sei ein animal homificans, entfaltet […] vor dem Hintergrund der Tradition tierepischer Reflexionen des Politischen ihre ganze innovative Kraft“; und „hinsichtlich seiner Reflexionen über die Normativität von Natur und die Autorisierung des Politischen lässt tierepisches Erzählen sich […] als alternativer, volkssprachlicher Diskurs politischer Anthropologie des 12. und 13. Jahrhunderts profilieren“.

Ob dies – und insbesondere das explizite Abheben des Verfassers auf den Quasi-Postfundamentalismus des iberischen Denkers – tatsächlich das alternativlose Ergebnis der Thematisierung jener Tierepik sein muss, mögen Leserinnen und Leser entscheiden. In jedem Fall bietet die vorliegende Publikation die Gelegenheit zu anregender Lektüre, die aus weit zurückliegenden Zeiten einen überraschend aktuellen Spiegel vorhält. Wer sich für das Wechselspiel Tier–Mensch sowie Politik interessiert, wird das vorliegende Buch gerne zur Hand nehmen und neben dem immer wieder aufscheinenden Unterhaltungswert am Gebaren der tiermenschlichen Archetypen aus den argumentativen Schlussfolgerungen auch intellektuellen Nutzen ziehen. Nicht zuletzt ist auch der Preis für dieses solide Druckwerk, gerade im Vergleich mit ähnlichen Publikationen, durchaus akzeptabel.

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Jan Glück: Animal homificans. Normativität von Natur und Autorisierung des Politischen in der europäischen Tierepik des Mittelalters.
Universitätsverlag Winter, Heidelberg 2021.
259 Seiten, 48,00 EUR.
ISBN-13: 9783825348182

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