Trotz der Gewissheit des eigenen Verfalls Ängste überwinden

Matthias Göritz ruft mit dem Gedichtband „Spools“ zum Leben auf

Von Thorsten SchulteRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thorsten Schulte

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der neue Gedichtband des Lyrikers, Theaterautors und Übersetzers Matthias Göritz trägt den Titel Spools – übersetzt „Spulen“. Spulen sind jene Bauelemente, die in Stromkreisen Magnetfelder erzeugen können. In ihnen entsteht Spannung. Spannung ist für unsere Gesellschaft archetypisch geworden. Wissen ist heute schneller verfügbar als je zuvor. Informationen prasseln auf uns ein. Alles muss immer effektiver werden. Innovationen beschleunigen Produktionsprozesse, bis ein Virus die Welt zum Innehalten zwingt. Die Corona-Krise hat Lieferketten unterbrochen. Produktionsbänder stehen still. Autos können ohne Chips nicht gebaut werden. Auf dem Weg aus Lockdowns und Stille fehlt es plötzlich an Stahl und sogar an Papier. Ältere fühlen sich an die DDR mit ihrem Dauermangel und Verfall erinnert. Die Pandemie hat Pausen erzwungen und fordert weiter Geduld. Neue Langsamkeit und täglich neue Todeszahlen machen nachdenklich. Die eigene Endlichkeit ist schwer zu verkraften. Vergessen zu werden sei für alle das Schlimmste, wird in den Gedichten von Matthias Göritz sinniert. Das Ich betrachtet alte Fotos. Es hat Angst, für immer unvollendet zu bleiben und zu früh zu sterben.

Das lyrische Ich zitiert aus Früher Mittag von Ingeborg Bachmann, welches die schmerzhaften Auswirkungen der faschistischen Vergangenheit Deutschlands auf die gesellschaftliche Wirklichkeit zu Beginn der 1950er Jahre thematisiert. Bachmanns Gedicht ist verbunden mit einer stillen Hoffnung, man möge die mit althergebrachten Normen und Symbolen und der unbewältigten Vergangenheit verbundenen Gefahren erkennen, damit sich das Blatt für alle zum Guten wenden kann. Das Gedicht führt in eine offene Zukunft. Offen scheint auch der Umgang mit diesen Zeilen bei Matthias Göritz. Hier liest das lyrische Ich in Helsinki Bachmanns Verse und findet keinen Halt, keine Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Die Zeilen seien vergangen, das lyrische Ich sei noch da. Lakonisch stellt es fest: „Ich sitze noch/ lese/ schreibe/ verzweifelt/ ein Zwischengedicht“. Was wirke wie Hoffnung, sei „oft ein Zeichen der Zeit“. Es halte, müde vom Zweifeln, an verkehrten Versen fest. Später schreibt es: „Ich habe aufgegeben/ etwas Besonderes zu sein“.

Spools sind auch Tonbandspulen. Dem Gedichtband vorangestellt ist ein Zitat aus Das letzte Band, jenem Stück von Samuel Beckett, in dem ein alter Mann Ausschnitten seiner tagebuchähnlichen Aufzeichnung lauscht, die er vor vielen Jahren auf Band gesprochen hatte. Er sucht nach einem glücklichen Moment, findet ihn – eine Erinnerung an Liebesglück –, spult zurück und hört ihn wieder und wieder. Seine Stimme erscheint ihm fremd. Es ist eine tote Erinnerung; es ist eine verlorene Identität. Der Mann bleibt enttäuscht und voller Selbstironie allein zurück. Sofort verlässt das lyrische Ich in den Gedichten von Matthias Göritz seine Träume. Der Untertitel des Bandes lautet Reisen ins Perfekt der Träume – Reisen dorthin, wo Träume gewesen waren und vom Leben eingeholt wurden. Denn irgendwann wird jedem gewahr, dass die Zeit schneller verrinnt als man es sich in der Jugend vorstellen kann. Die Knochen spüren bald, dass das Altern einsetzt. Matthias Göritz erinnert in seinen Versen an die Rockband Eels, „Beautiful freak“, an schreckliche Tristesse, die Endlichkeit und die Abgründe des Lebens.

Ernst ist der Ton dieser Gedichte, die einem Spooler gleich Probleme sammeln. Ein Spooler ist ein Systemprogramm. Es speichert noch zu erledigende Druckaufträge zwischen. Der Spooler sammelt sie, um sie Schritt für Schritt zu verarbeiten. Doch dazu kommt es nicht. Denn das lyrische Ich will trotz der Gewissheit des eigenen Verfalls einen Schnitt, einen Neustart, eine „Neugeburt“. Es befindet sich auf der Suche nach etwas, das wertvoll ist. Eine tiefe Sehnsucht nach Skandinavien streift durch die Zeilen. Das Ich träumt sich nach Finnland. Es will das Leben fühlen – Graugänsen zusehen, einatmen und baden: „Das ist nicht viel/ aber schön“. Und schließlich wird zusammengefasst: „Manchmal hat man mehr Angst als/ gut ist“. Das Leben beginnt dort, wo die Angst endet. Das Ich will seine Probleme und Ängste ablegen, es will aus der Stapelverarbeitung entfliehen und bezieht den Leser dabei mit ein: „Wir beide sind auf dem Weg/ heraus aus diesem Gedicht“. Vielleicht auch auf dem Weg heraus aus der Pandemie, heraus aus der Lethargie und belastenden Stille – auch wenn Göritz diese Zeilen möglicherweise nicht mit konkretem Geschehen verbunden sehen will, sondern einen grundsätzlichen Bruch mit dem Orchester der Assoziationen, der erlernten und lähmenden Ängste, die er immer wieder erwähnt, anstrebt.

Der Leser soll sich freidrehen. In einer Zeit der Digitalisierung, des Klimawandels und der Corona-Krise hat der Mensch häufig mehr Angst um die Welt als um sich selbst, ist aus den Zeilen zu lesen. Es ist Zeit, sich auch selbst wieder zu finden, auch soziale Bedürfnisse zu akzeptieren und das Leben zu leben, obschon gewaltige Aufgaben die Zukunft der Menschheit prägen. „wir sind auf dem langen weg zu uns/ selbst“, sagt das lyrische Ich. Die Natur, die Musik und der Schlaf bilden Pfade, die gegangen werden sollen. Man solle die Sopranistin Kirsten Flagstad in ihren Wagner-Interpretationen hören. Man sollte wieder träumen. Vom „Perfekt der Träume“ gelangt es im letzten Gedicht zur Erkenntnis: „Schlaf ist/ eine gewaltige Kunst“. Diese lange Kurve von der Verzweiflung zur Zuversicht gelingt Matthias Göritz meisterhaft.

Titelbild

Matthias Göritz: Spools. Gedichte.
Wallstein Verlag, Göttingen 2021.
76 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783835350717

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