Hochglanzfrauen und Glitzerdamen

Gomringer-Gedichte und Limmer-Illustrationen der letzten Jahre in einem Band

Von Herbert FuchsRSS-Newsfeed neuer Artikel von Herbert Fuchs

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nora Gomringer, Lyrikerin und Rezitatorin, und ihr kongenialer Illustrator Reimar Limmer haben die Lyrikbände Monster Poems (2013), Morbus (2015) und Moden (2017) noch einmal – wegen des großen Erfolgs offensichtlich – zusammen in einem Band veröffentlicht. Das Buch ist aufwendig gestaltet. Auf den ersten Blick erscheint alles glatt und farbig wie in einem Hochglanz-Warenhauskatalog. Erst bei genauerem Lesen und Hinsehen entdeckt man die Zeilen und Texte, die verstören und nachdenklich machen, und die vielen ins Groteske verzerrten Bilder, oft mit Frauengesichtern, die zu einem stereotypen Lächeln erstarrt sind. Gomringers Gedichte und Limmers Illustrationen über Frauen und Männer beunruhigen und wirken nach.

Die Illustrationen, jeweils eine auf der rechten Seite zu einem Gedicht auf der linken, stechen mit ihren grellen Farben und schrillen Darstellungen zuerst ins Auge. Sie könnten alten Filmplakaten, Warenbroschüren oder Werbeprospekten aus den 1950er oder 1960er Jahren entnommen sein. Sie stammen – mit wenigen Ausnahmen – von Reimar Limmer, der seit vielen Jahren mit der Lyrikerin zusammenarbeitet.

Die Titelseite ist typisch für den Band. Aus dem blau gehaltenen, nur angedeuteten Landschaftshintergrund hebt sich, wie von einem Scheinwerfer angestrahlt, der männliche Held, halbnackt, muskelbepackt, mit einer schutzbedürftigen Frau auf seinen Armen ab. Wie von selbst entfaltet sich eine Hollywoodszene vor dem Betrachter: Der Naturbursche rettet die anschmiegsame Jane, oder wie immer sie heißen mag, aus Urwaldgefahren.

Die ironische und satirisch-sarkastische Anspielung auf die Vermarktung von Frauen- und Männerbildern der Leinwandindustrie in Amerika und anderswo ist unübersehbar. Das Buch mit den vielen Hochglanzseiten würde selbst dieser Vermarktungsfalle erliegen, wenn nicht Illustrationen und Texte mit Hilfe ihrer grotesken Formelemente, ihrer präzisen und gleichzeitig poetischen Sprache und der thematischen Zusammenhänge dem entgegenwirkten. Sie stellen bloß, anstatt selbst Klischeebilder zu verbreiten, sie prangern an, anstatt zu bewundern, sie sind kritisch, anstatt Frauen- und Männerbilder einfach zu übernehmen, sie verstören und verunsichern, anstatt die Leserinnen und Leser zu bestärken, sie stellen zwischen den Zeilen Fragen, anstatt mit vorschnellen Antworten zu beruhigen.

Limmers Illustrationen sind mehrdeutig. Da steht eine Frau mit stereotypem Lächeln in Bikini-Pose vor bombardierten Gebäuden; da beugt sich eine junge lächelnde Mutter, unter einem Frühlingszweig mit buntem Vogel, über eine Wiege, aus der ein Krokodilskopf herausschaut; da gibt es einen Swimmingpool, hinter dem ein Riesenfeuer tobt; da bellen zwei böse Hunde mit weit aufgerissenen Mäulern; da gibt es Frauen, die nur aus Figur und einem engsitzenden Kleid bestehen, ohne Kopf, mit Gesichtern und Händen, auf denen Make-up-Spuren das wichtigste zu sein scheinen, oder mit einem Kopf, der aus einem Lippenstift besteht.

Die Illustrationen verstören. Sie präsentieren Frauen als Werbeprospekt-Erscheinungen, mit eingefrorenem Allerweltslächeln, immer wieder reduziert auf Körperteile, als Werbeträgerinnen für Warenhausprodukte. Männer erscheinen in Haltungen, die den Männlichkeitswahn aus Stärke und Allmacht bloßstellen. Limmers Menschen sind künstliche Menschen in einer künstlichen oder unmenschlichen Umgebung. Selbsterkenntnis, Wahrheit und letztlich die Wirklichkeit sind ihnen längst abhandengekommen. Sie sind Scheinmenschen in einer Scheinwelt.

Limmer gelingt es, die Wahrheit und die oft grausame Wirklichkeit hinter der Glätte und der bunten Oberfläche zu zeigen. Die schönen Posen sollen die Wahrheit nicht verbergen. Sie zeigt sich in den aufgerissenen Mündern oder verzerrten Gesichtern. Sie verbirgt sich als Schrecknis hinter den Hochglanzfassaden der Glitzerfrauen und Muskelmänner. Das Groteske der Illustrationen Limmers liegt in der überdeutlichen Ausstellung des Scheins, in der überdeutlichen Verdrängung der Wahrheit, letztlich in der überdeutlichen Darstellung der Menschen.

Die Bedrohungen und Verzerrungen des alltäglichen Lebens der Bilder werden in Gomringers Gedichten in Sprache „übersetzt“. Illustrationen und Texte bilden eine Einheit. Das eine ist jedoch nicht einfach die Verdoppelung des anderen, sondern dessen künstlerische Fortführung und grotesk-ironische Verfremdung. Erst zusammen entfalten die Gedichte und Illustrationen in Monster, Morbus, Moden ihre ganze sprachliche und bildliche Kraft und Stärke. Sie bereiten ein Vergnügen, bei dem auch ein Erschrecken über die Monstermomente im Leser selbst nicht ausbleibt.

Ein Gedicht, Nashi betitelt, preist das Fett als „staunenswerten Freund, / der auch aus süßem Zustand sich uns zuzuneigen weiß“. Das letzte Wort des Gedichts „Körper-Apfelbirnenwelten“ verweist auf den Titel „Nashi“, was auf Japanisch Birne bedeutet. Aber Nashi meint natürlich auch das Naschen von Süßigkeiten. Limmer hat dazu ein Bild mit einer Überfülle verlockender Speisen gemalt, mit kleinen Männern und Frauen bestückt. Nicht die Menschen verschlingen das Essen, sondern sie werden von den Essenangeboten schier erdrückt. Gedicht und Bild behandeln das Thema so, dass jede Lust auf üppige Mahlzeiten erstickt wird.

Ein anderer Text mit der Überschrift Haus besteht vor allem aus Zeilen mit einem Wort. Sie führen den Leser über eine Auffahrt in ein Haus hinein, durch Zimmer, über eine Treppe nach oben bis auf den „Dachboden“ mit einer geheimnisvollen Kiste. Dort bricht der Text den Gang durch das Haus ab. Die Schlusszeile steht ganz unten am Rand der Seite: „Im Keller andere, wartend.“ Ein Gedicht mit wenigen Worten, in einfacher Machart, wie es scheint, aber ein Text, der ein Geheimnis birgt, das den Leser verunsichert. Die Zeile „schiefes Bild an der Wand“ fällt durch ihre Länge aus dem Kontext heraus und deutet an, dass einiges, wenn nicht alles, in dem Haus aus dem Lot geraten ist. Und die Schlusszeile könnte einem Gruselroman oder einem Hitchcockfilm entstammen. Gomringer ist da voll in ihrem Element, ganz große Sprachartistin, ein wenig augenzwinkernd natürlich und sicherlich ein wenig in sich hinein lächelnd.

Limmer reagiert kongenial auf das Textangebot. Oder ist der Text die Umsetzung des Limmerbilds in Sprache? Seine Illustration zeigt ein großes Holzhaus, umhüllt von Dunkelheit, scheunenähnlich, verfallen, mit herunterhängenden Brettern, gespenstisch und mysteriös. Ein übergroßer heller Mond zieht die Blicke auf sich. Aber er bringt kein Licht in das Dunkel; er erhellt nichts. Das Haus gibt sein Geheimnis nicht preis.

Das Buch ist ein kleines Gesamtkunstwerk. Es besteht aus Text und Bild – und ein Drittes kommt hinzu: der Vortrag von 35 ausgewählten Gedichten durch Nora Gomringer selbst auf einer beigefügten CD. Erst wenn man liest, schaut und der Stimme der Autorin zuhört, kann der Band Monster, Morbus, Moden seine volle Stärke und Wirkung entfalten und seine Qualitäten ausspielen. Erst dann erlebt der Leser, wie unterhaltsam das Lesen ist und man gleichzeitig über Zeilen und Bilder erschrickt, wie Text und Bilder und Stimme immer wieder verstören, wie sich kleine Abgründe hinter den plakativen Abbildungen auftun, wie Ironie und Sarkasmus zwischen den Zeilen nachdenklich machen und wie eng Illustrationen und Texte ineinandergreifen und miteinander verwoben sind.

Nora Gomringer ist eine begnadete Vorleserin ihrer Gedichte. Sie hat das während ihrer vielen Live-Auftritte vor Publikum und auf früheren CDs bewiesen. Erst kürzlich hat sie Dorothy Parker-Gedichte, begleitet vom Jazz-Drummer Philipp Scholz, gesungen: ein „musikalischer Vortrag“ vom Feinsten.

Ihre Rezitationskunst beweist sie eindrucksvoll beim ersten Text des Bandes, der die Überschrift Monster & Mädchen trägt. Mit ruhiger, fast leiser Stimme, aber voller innerer Bewegung, trägt sie den Text vor. Er beginnt mit der Zeile „ich bin das Mädchen“ und gipfelt gleich darauf in dem schrecklichen Vorwurf an ein Du: „du sortiertest mich / es blieb mir nichts / nichts blieb mir“. Im zweiten Teil wiederholen sich einige Zeilen des Anfangs, jetzt aber alles in der Vergangenheitsform, also als Tatsache präsentiert. Das Ende löst die Überschrift ein: „so spricht das Monster // das Monster bin ich“. Es ist ein Text über das Erschrecken eines Kindes, eines Mädchens, am Leben, ein Text über Missbrauch und Lieblosigkeit. Limmers Illustration zeigt einen wuscheligen Kinderkopf, das Gesicht halb verdeckt durch die Hände, als wollten diese – vergeblich – den Schrecken der Welt abhalten. Die Dunkelheit um das Gesicht herum verstärkt das Moment des Bedrohlich-Gewaltsamen. Rettung für das Mädchen gibt es nicht.

Eines der eindrucksvollsten Gedichte des Buches greift auf eine wahre Begebenheit der jüngeren Vergangenheit zurück: auf den Fall Elisabeth Fritzl. Sie war 24 Jahre lang von ihrem Vater eingesperrt und tausende Male missbraucht worden. Erst 2008 kam sie durch Zufall frei. Kann ein solcher monströser Fall für ein Gedicht taugen? Gomringer zeigt, dass das geht, wenn die Künstlerin sensibel ist und über die sprachlichen Mittel der poetischen Umsetzung des realen Falls in ein Gedicht verfügt. Die Autorin macht daraus einen tieftraurigen Text, der das Leben – aus der Sicht der missbrauchten Tochter – auf die Zukunft und auf einen anderen Ort verschiebt und mit dem Spiegelmotiv spielt. Limmers Illustration greift dieses Motiv auf: Aus einem zerbrochenen Spiegel blickt dem Leser ein beschädigtes, aber würdevolles Frauengesicht entgegen. Es steht dem Buch gut, dass Gedichte und Illustrationen zwischen aufmüpfigen und schrillen Tönen und ruhigen Momenten wechseln.

Hinweis: Zu den Einzelveröffentlichungen Monster Poems und Moden sind bei Literaturkritik bereits ausführliche Einzelbesprechungen erschienen.

Titelbild

Nora Gomringer: Monster / Morbus / Moden.
Mit Illustrationen von Reimer Limmer.
Verlag Voland & Quist, Berlin 2019.
176 Seiten, 26,00 EUR.
ISBN-13: 9783863912451

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