Realpolitiker und Visionär

Zum Tod von Michail Gorbatschow (1931-2022)

Von Volker StrebelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Volker Strebel

„Der größte Fehler des KGB in seiner ganzen Geschichte war es, Gorbatschow falsch einzuschätzen“ – dieser Seufzer, der dem früheren KGB-Chef Wladimir Krjutschkow zugeschrieben wird, bringt den Verdruss einer allmächtigen Nomenklatura zum Ausdruck. Schließlich hatte Michail Gorbatschow 1985 das Amt des Generalsekretärs der Kommunistischen Partei als Hoffnungsträger angetreten, das vollkommen erstarrte und verkrustete Land zu reformieren. Mit seinem Rücktritt als Präsident der Sowjetunion besiegelte er im Dezember 1991 faktisch deren Auflösung.

Dabei steht das Lebenswerk Michail Gorbatschows dafür ein, dass es sich bei ihm nicht um einen Politiker wohlfeiler Worte handelte. Die von seiner Reformpolitik geprägten Begriffe „Perestroika“ (Umbau) und „Glasnost“ (Offenheit) schufen die Grundlagen dafür, dass konkrete Abrüstungslösungen zwischen den beiden Supermächte USA und Sowjetunion vereinbart wurden und zum Ende des Kalten Krieges führten. Weitere Beweise einer politischen Glaubwürdigkeit der neuen sowjetischen Politik waren zudem durch die Heimkehr des verbannten Regimekritikers und Nobelpreisträgers Andrej Sacharow nach Moskau, aber auch den Rückzug der Roten Armee aus Afghanistan gegeben. Zurecht hatte Michail Gorbatschow für sein bahnbrechendes politisches Handeln 1990 den Friedensnobelpreis erhalten.

Die deutsche Wiedervereinigung sowie der sich andeutende Zerfall der Sowjetunion hatten Gorbatschows politisches Geschick und sein optimistisches Temperament schier unzumutbaren Spannungen ausgesetzt. Zunehmend geriet Gorbatschow als Auslöser neuer Politik letztlich zu ihrem prominentesten Opfer. Unabhängigkeitsbestrebungen im Baltikum und Georgien hatten sogar Todesopfer gefordert. In einem Gespräch mit dem SPIEGEL im Jahr 2011 hatte Michail Gorbatschow Einblick in sein damaliges Handeln gewährt: „Mein Credo war, Blutvergießen zu vermeiden. Es floss aber leider doch Blut“.

Nach dem Zerfall der Sowjetunion hielt Gorbatschow als umtriebiger Mentor seiner politischen Stiftung fortan Vorträge in aller Welt, meldete sich zu aktuellen Problemen mit Artikeln zu Wort und veröffentlichte eine Vielzahl von Büchern.

Vehement widersprach Gorbatschow als unmittelbar beteiligter Akteur der komplizierten Verhandlungen bezüglich einer deutschen Wiedervereinigung der Mär, dass damals eine zugesicherte Übereinkunft getroffen wurde, die NATO im Gegenzug nicht zu erweitern. Da zu diesem Zeitpunkt der Warschauer Pakt noch Bestand hatte, entbehrten derlei Überlegungen jeglicher Grundlage. Zudem wäre das von Gorbatschow propagierte „Neue Denken“ unentschuldbar konterkariert, wenn die Sicherheitspolitik der ostmitteleuropäischen Länder zwischen Washington und Moskau verhandelt worden wären.

Dennoch hat sich Gorbatschow in späteren Jahren zuweilen in den ideologischen Fußangeln sowjetisch-großrussischer Schablonen verhakt, wie seine Reaktionen auf die völkerrechtswidrige Okkupation der Insel Krim und Klagen über eine vorgebliche NATO-Osterweiterung offenbaren.

Der Angriffskrieg auf die Ukraine im Februar 2022 hat auf brutale wie schmerzhafte Weise gezeigt, dass im öffentlichen Diskurs Russlands bis in die heutige Zeit hinein das Bewusstsein fehlt, die souveräne Unabhängigkeit der baltischen und mitteleuropäischen Länder anzuerkennen.

Obwohl die Sowjetunion dank Michail Gorbatschow erstmals einen international gefeierten Eintritt in die zivilisierte Welt vollzogen hatte, wird er in seiner Heimat oft genug als Verräter gehandelt. Da im Land keine Vergangenheitsbewältigung stattgefunden hat, konnte die stalinistische Lesart eines von Feinden umstellten Landes von vorgeblichen Patrioten übernommen werden. Statt altehrwürdiger russischer Werte bestimmt heute eine korrumpierte Kaste, die sich anmaßt, im Namen eines ganzen Volkes zum Wohl des Landes zu handeln, die Geschicke. Und in der heutigen Welt existiert gegenüber Russland wieder jene charakteristische Mischung zwischen Mitleid mit den Menschen im Land und Verachtung einer unangemessenen Machtpolitik, wie sie bereits in den Jahrzehnten vor Gorbatschows Führung kennzeichnend war.

Michail Gorbatschows historische Verdienste um die Freiheit Europas werden bleiben. Für seine Heimat hat er grundlegende Fundamente gesetzt, die einst in einem freien und demokratischen Russland gewürdigt werden.

Am 30. August 2022 ist Michail Gorbatschow nach langer, schwerer Krankheit in einem Moskauer Klinikum verstorben. Auf seinen Wunsch hin wird er auf dem Neujungfrauenfriedhof neben seiner Frau Raissa begraben, mit der ihn eine lebenslang enge Beziehung verband.