Sturmvogel der Revolution

Zum 150. Geburtstag von Maxim Gorki

Von Manfred OrlickRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manfred Orlick

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die große Zeit der russischen Literatur war das 19. Jahrhundert. Dessen erste Hälfte bezeichnete man sogar als „Goldene Ära“, deren zentrale Gestalten das Dreigestirn Alexander Puschkin (1799–1837), Nikolai Gogol (1809–1852) und Michail Lermontow (1814–1841) war. Die zweite Hälfte schenkte der russischen und gleichzeitig der Weltliteratur die großen Romanciers der realistischen Literatur: Fjodor Dostojewski (1821–1881), Lew Tolstoi (1828–1910), Anton Tschechow (1860–1904), Iwan Turgenew (1818–1883) und schließlich Maxim Gorki (1868–1936).

Waren die meisten dieser russischen Schriftsteller adliger Abstammung, so kam Gorki aus ärmlichsten Verhältnissen. Am 16. März (jul.) beziehungsweise 28. März (greg.) 1868 wurde er (eigtl. Alexei Maximowitsch Peschkow) in Nischni Novgorod als Sohn eines Tischlers geboren. Mit elf Jahren war der Junge bereits Waise und wuchs bei seinem Großvater auf, einem despotischen und verarmten Färbereibesitzer und ehemaligen Wolgatreidler. Die Großmutter dagegen übernahm liebevoll die Mutterrolle: Sie machte ihn mit der russischen Volkspoesie (Lieder, Sagen und Märchen) vertraut und weckte in ihm die Liebe zur Literatur. Nach einem zweijährigen Schulbesuch musste sich der junge Alexei, die großväterliche Färberei war bankrott gegangen, mit nur elf Jahren als Gelegenheitsarbeiter durchschlagen, für ein paar Kopeken unter anderem als Laufjunge, Vogelhändler und Rechtsanwaltsgehilfe. 1884 zog der 16-Jährige mit leeren Taschen und den Kopf voller Pläne nach Kasan, um an der dortigen Universität zu studieren. Die Stadt an der Wolga hatte damals immerhin 140.000 Einwohner. Zunächst verdiente er seinen kargen Lebensunterhalt mit Gelegenheitsarbeiten am Kai. Hier am Hafen und in den Elendsquartieren der Stadt lernte er das „Lumpenproleteriat“ kennen, jene Menschen, die ihm später den Stoff für seine Romane und Theaterstücke liefern sollten.

Seine hochfliegenden Pläne vom Studium musste Gorki jedoch frustriert aufgeben. Stattdessen schloss er sich einem geheimen revolutionären „Studienkreis“ an, wo er erstmals mit sozialistischen Ideen in Kontakt kam. In diesem intellektuellen Zirkel war er jedoch ein Außenseiter – „ein Sohn des Volkes“, den man herablassend und gönnerhaft in der Gruppe duldete. Angeregt durch sein neues Umfeld las er viel (Karl Marx, Arthur Schopenhauer, Iwan Turgenjew, Charles Dickens, Honoré de Balzac, Gustave Flaubert und Bret Harte) und eignete sich als Autodidakt ein zwar umfassendes, aber unsystematisches Wissen an. Als die Studenten an der Kasaner Universität streikten (unter ihnen Wladimir Uljanow, später als Lenin bekannt), konnte er das nicht verstehen – hätte er doch alles gegeben, wenn er nur hätte studieren dürfen. Isoliert und schwer depressiv (seine Großmutter war verstorben) unternahm der verwirrte Gorki am 12. Dezember 1887 einen gescheiterten Selbstmordversuch: „Ich sah keinen Sinn darin, das Leben fortzusetzen, es gab so viel Lüge und so viele drückende Sorgen um mich herum“, bekannte er später. Er schoss sich eine Kugel in die Brust, ohne jedoch das Herz zu treffen. Dank seiner robusten Konstitution konnte er nach fünf Tagen aus dem Krankenhaus entlassen werden, musste sich jedoch vor einem Kirchengericht für seine „atheistische Tat“ verantworten. Für sieben Jahre wurde er exkommuniziert. Unter der Lungenverletzung sollte er Zeit seines Lebens leiden.

1888 verlässt Alexei Kasan, es begannen seine „Wanderjahre“ – mal allein oder in Begleitung. Quer durch Russland, die Ukraine und über den Kaukasus bis nach Tiflis, im Viehwaggon oder mit dem Schiff, meistens jedoch zu Fuß und immer auf Arbeitssuche. Diese Wanderjahre, die immerhin bis 1892 dauerten, waren aber kein Hang zum Vagabundenleben, sondern der Ausdruck seiner Suche nach der eigenen Identität und Bestimmung. Kein anderer russischer Schriftsteller hat seine Heimat und die Menschen so intensiv kennengelernt. In seinen Werken fanden diese Begegnungen später ihren literarischen Niederschlag. Wegen seiner rebellischen Kontakte und des verdächtigen ‚Landstreichertums‘ war die zaristische Polizei längst auf ihn aufmerksam geworden. Auf seiner Wanderschaft entdeckte Alexei auch das Schreiben für sich. So hielt er Erlebnisse und Begegnungen in einem Notizbuch fest. 1892 veröffentlichte er in Tiflis, wo er in einer Werkstatt der Transkaukasischen Eisenbahn Arbeit gefunden hatte, die Erzählung Makar Tschudra – unter dem Pseudonym „Maxim Gorki“ (Gorki = der Bittere), das er von da an verwendete.

Gorki zog 1895 weiter nach Samara. In der Industriestadt an der Wolga, oft als „russisches Chicago“ bezeichnet, vermittelte ihm der Schriftstellers Wladimir Korolenko (1853–1921) eine Anstellung als Journalist bei einer Provinzzeitung. Mit seinen Beiträgen, die oft satirischen Charakter hatten, griff er aktuelle, meist soziale Themen auf. Hier lernte er die 18-jährige Jekatarina Pawlowna Wolzina, die Tochter eines gescheiterten Gutsbesitzers, kennen, die er im August 1896 heiratete. Häufig machte er sich auch Feinde mit seinen kritischen Artikeln, in denen er einen immer schärferen Ton anschlug. Der Journalismus zehrte zunehmend an seiner Gesundheit; Freunde rieten ihm daher, sich mehr der schöngeistigen Literatur zu widmen. Aber der Journalismus war sein Broterwerb: „Ich kann nicht für die Kunst arbeiten, ich muss Geld verdienen.“ Dennoch schrieb Gorki in diesen Jahren zahlreiche Erzählungen, die 1898 in der zweibändigen Sammlung Skizzen und Erzählungen herauskamen. Kritiker und Leser waren gleichermaßen begeistert über die neuen Themen und ihre rebellischen Helden (Kleinbauern, Goldsucher, Nomaden, politisch Verbannte oder Kosaken). Neben Tolstoi, Tschechow (Dostojewski und Turgenjew waren inzwischen verstorben) und der Schule der dekadenten Symbolisten war Gorkis unverschnörkelte, ja deftige Sprache wie ein literarisches Signal – und er selbst ein Naturbursche mit buschigen Schnauzbart. Aber schon in diesen frühen, sogenannten „Barfüßler“-Erzählungen zeigte sich Gorkis Zerrissenheit; inspiriert von der Lektüre Friedrich Nietzsches, beanspruchten sie einerseits die Selbstbehauptung des Menschen, andererseits waren sie von tiefer Religiosität geprägt.

Angespornt durch den Erfolg seiner Erzählungen – Gorki konnte seinen Lebensunterhalt nun mit dem Schreiben finanzieren – arbeitete er an seinem ersten Roman Foma Gordejew (1899). Inzwischen war er nach Nischni Novgorod zurückgekehrt und stand wegen „Verbreitung sozialistischen Gedankenguts unter den Arbeitern“ unter Polizeiaufsicht. Während einer Kur 1899 auf Jalta lernte Gorki sein großes Vorbild Tschechow kennen. Beide verband daraufhin ein jahrelanger, bis zum Tod Tschechows andauernder Briefwechsel. Wenig später kam es auch zu ersten Begegnungen mit Tolstoi (in Moskau und auf Tolstois Landgut Jasnaja Poljana), doch der Standesunterschied blieb eine ständige Belastung ihrer Verbindung. Am 4. März 1901 wurde in Petersburg eine große Studentendemonstration brutal niedergeschlagen. Gorki war empört und verfasste sein legendäres Lied vom Sturmvogel:

Über grauer Meeresfläche zieht der Wind schwarze Wolken zusammen. Zwischen Wolken und Meer schießt der Sturmvogel dahin, einem schwarzen Blitze gleich.
Bald mit dem Flügel die Wogen streifend, bald sich pfeilschnell zu den Wolken aufschwingend, kreischt er, und die Wolken hören Lust aus des Vogels kühnem Schrei.
Aus diesem Schrei klingt – Sturmesdurst! Zornesgewalt, lodernde Leidenschaft und Siegeszuversicht hören die Wolken aus diesem Schrei.
[…]
Sturm! Der Sturm bricht los!
So schwebt der kühne Sturmvogel stolz zwischen Blitzen dahin über zornbrüllendem Meer; und es ruft der Siegeskünder:
O daß der Sturm gewaltiger noch erbrause!

Mit dem Lied, das von der russischen Arbeiterbewegung bis zur Oktoberrevolution immer wieder als Kampflied aufgegriffen wurde, wollte Gorki die Unentschlossenen und Ängstlichen wachrütteln. Doch der „Sturmvogel“ wurde in Nischni Novgorod inhaftiert, was heftige Proteste auslöste, selbst von Kulturschaffenden im Ausland. Ohne Gerichtsverfahren wurde Gorki (aus Gesundheitsgründen) auf die Krim verbannt. Die Eisenbahnfahrt gestaltete sich zu einer wahren Triumphfahrt, denn auf vielen Bahnhöfen hatte sich eine große Menschenmenge versammelt.

In den ersten Jahren des neuen Jahrhunderts etablierte sich Gorki mit den beiden gesellschaftskritischen Theaterstücken Die Kleinbürger (1902) und Nachtasyl (1904) auch als Dramatiker. Sicher hatte hier Tschechow mit seinen erfolgreichen Stücken Die Möwe und Die drei Schwestern inspirierend gewirkt. In Die Kleinbürger, eine Abrechnung mit Kleinbürgergeist und Spießbürgertum, stellte Gorki mit dem Lokomotivführer Nil erstmals die kämpferische Arbeiterklasse auf die Bühne. Er verkörperte den „Menschen von morgen“, der an seine zukünftige Chance glaubt. Das Drama Nachtasyl, eigentlich Unten in der Tiefe, begründete Gorkis Weltruhm, vor allem durch die Inszenierung (Regie Richard Vallentin) am Deutschen Theater 1903, bei der unter anderem der junge Max Reinhardt mitgespielt hatte. Nachtasyl wurde von den Kritikern als ein Meisterwerk des Realismus beziehungsweise Naturalismus gepriesen. Das Stück, das keine eigentliche Handlung erkennen lässt, spiegelte das tatsächliche Leben wider, und die Figuren rekrutierten sich aus den untersten Schichten des zaristischen Russlands:

Meine Seele hab ich vertrunken, Alter … Ich bin ein verlorener Mensch … Und warum bin ich verloren? Weil der Glaube an mich selbst mir fehlte … Ich bin fertig …
[…]
Da ist die Wahrheit – da! Keine Arbeit… keine Kraft in den Gliedern – das ist die Wahrheit! Keinen Winkel, in dem man zu Hause ist! Krepieren muß man … das ist sie, deine Wahrheit! Teufel noch eins! Was … was soll sie mir, diese – Wahrheit?!

Nachtasyl sollte das mit Abstand erfolgreichste Werk seines dramatischen Schaffens werden.

1905 beteiligte sich Gorki an den Streiks und Protesten vor dem Petersburger „Blutsonntag“ am 9. Januar (22. Januar); daraufhin wurde er bis Ende Februar in der Peter-und-Paul-Festung inhaftiert. Diese Zeit nutzte er, um sein Drama Kinder der Sonne zu schreiben, das noch im selben Jahr zur Uraufführung gelangte. Gorki unterstützte weiterhin die revolutionäre Stimmung im Zarenreich, vor allem durch seine Mitarbeit an der ersten legalen bolschewistischen Zeitschrift Nowaja Shisn (dt. Neues Leben), deren Chefredakteur Lenin war. Als es im Laufe des Jahres zu weiteren revolutionären und blutigen Auseinandersetzungen kam, rieten ihm Freunde, Russland zu verlassen. Außerdem sollte er im Süden Europas seine chronische Tuberkulose ausheilen. Zunächst aber reiste Gorki im Februar 1906 über Finnland, Deutschland und Frankreich in die Vereinigten Staaten von Amerika, wo er anfangs als revolutionärer Vorkämpfer euphorisch begrüßt wurde. Da Gorki jedoch (immer noch verheiratet) mit seiner neuen Lebensgefährtin Marja Andrejewa angereist war, kippte die Stimmung sehr schnell in dem puritanisch gesinnten Land. Mark Twain lehnte deshalb sogar eine Begegnung ab.

Gorki reagierte – wie immer – mit einer literarischen Trotzreaktion und stürzte sich in einem Landhaus nahe der kanadischen Grenze in die Arbeit an seinem neuen, halb dokumentarischen Roman Die Mutter, den er 1906 auf Capri vollendete, wohin er mit Marja weitergereist war. Trotzdem erschien der Roman zuerst in englischer Sprache in dem amerikanischen Appleton’s Magazine (1906/07). 1907 folgte schließlich die russische Ausgabe, allerdings in Berlin. Im Mittelpunkt des Geschehens stehen der klassenbewusste Arbeiter Pawel Wlassow und seine unpolitische Mutter Pelageja Nilowna, die sich von ihrem blinden Gottvertrauen ab- und revolutionären Ideen zuwendet. Die Reaktionen auf den Roman waren sehr ambivalent, die Urteile reichten von Weltliteratur bis Agitprop-Literatur. Die Mutter gilt heute noch als Prototyp des proletarischen Romans und als Geburtsstunde des sozialistischen Realismus. (Für Bertolt Brecht diente der Roman 1931 als Vorlage für sein Stück Die Mutter. Leben der Revolutionärin Pelagea Wlassowa aus Twer mit der Musik von Hanns Eisler.)

Auf Capri entstanden noch die Romane Eine Beichte (1908) und Sommer (1909) sowie das Theaterstück Die Letzten (1907). Gorkis Haus auf der Insel wurde schnell zu einem Exilort für russische Intellektuelle; außerdem gründete er eine Schule für junge Revolutionäre. Bei einem Aufenthalt Lenins geriet er mit diesem in heftige Diskurse über Christentum und Marxismus, denn für Gorki spielte die Religion immer noch eine wichtige Rolle, während Lenin nichts von „religiösem Atheismus“ hielt. Gorki distanzierte sich aber auch von seinen früheren Vorbildern Tolstoi (und dessen Lehre von der Gewaltlosigkeit) und vor allem Dostojewski mit seiner Leidensphilosophie. Plädierte er doch für Optimismus und starke und stolze Menschen. Ein folgenschweres Urteil, denn damit begründete Gorki die bis zum Ende der Stalin-Ära vorherrschende Ablehnung der Werke Dostojewskis.

Als das russische Zarenhaus 1913 sein 300-jähriges Bestehen feierte, konnte Gorki im Zuge einer umfassenden Amnestie nach Russland zurückkehren. Bereits bei seiner Grenzüberschreitung wurde er wieder überwacht, trotzdem nahm er sofort erneuten Kontakt zu revolutionären Kreisen auf. In den ersten Jahren nach seiner Rückkehr arbeitete Gorki vor allem an seinen autobiografischen Schriften, mit denen er schon auf Capri begonnen hatte: Meine Kindheit (1913/14) und Unter fremden Menschen (1915/16). (1923 folgte noch Meine Universitäten.) Vor allem der erste Band der eindrucksvollen Trilogie wurde von der Kritik als Werk des „neuen Gorki“ begrüßt, der nun scheinbar alle Propaganda hinter sich gelassen hatte. Allein diese ehrlichen Autobiografien, in denen es weniger um persönliche Reflexionen, sondern um Milieu- und Menschenschilderungen geht, garantieren bis heute Gorkis Platz in der Weltliteratur:

Aber die Wahrheit steht über dem Erbarmen, und ich erzähle schließlich nicht von mir, sondern von jenem engen, stickigen Kreis unheimlicher Eindrücke, in dem der einfache russische Mensch lebte und – bis auf den heutigen Tag – lebt.

Hatte Gorki die Februarrevolution 1917 noch als spontanes Ereignis begrüßt, verfolgte er die bolschewistische Machtübernahme durch die Oktoberrevolution mit großer Skepsis. Für ihn kam diese Umwälzung etliche Jahre zu früh – das russische Volk war für Freiheit und Demokratie noch nicht reif. Gorki war zutiefst besorgt, er unterließ es sogar, seine Mitgliedschaft in der Kommunistischen Partei zu erneuern. In seinen Unzeitgemäßen Gedanken (in Anlehnung an Nietzsches Unzeitgemäße Betrachtungen) verglich er die Oktoberrevolution mit „einem Pogrom der Habgier, des Hasses und der Rache“. Er hatte in den revolutionären Unruhen immer den Menschen gesehen und wurde sogar der Anwalt der Opfer. Wie nicht anders zu erwarten, musste es zu einer zweiten Kontroverse mit Lenin kommen. Das Verhältnis der beiden war ein äußerst zwiespältiges, das bis heute von Historikern und Literaturwissenschaftlern kontrovers diskutiert wird. Einerseits war Gorki Lenins „Lieblingsautor“, andererseits warf er dem „Buchmenschen“ völligen „Charaktermangel“ in politischen Fragen vor. Gorki wiederum sprach „vom verderblichen Gift der Macht“ – doch bei Lenins Tod 1924 soll er in Tränen ausgebrochen sein.

In der Presse kam es bereits zu Angriffen auf seine Person und seine Zeitschrift Neues Leben wurde im Laufe des Jahres 1918 verboten. Dem Autor, bereits vor Jahren von der Zensur betroffen, hatte man jetzt wieder einen Maulkorb verpasst. Wurde Gorki, der bis dahin die Diktatur verurteilt hatte, zum Pragmatiker und Opportunist? Jedenfalls kam es zur Versöhnung zwischen Gorki und Lenin, der ihm aber nahelegte, seine erneut ausgebrochene Tuberkulose in einem ausländischen Sanatorium auszukurieren. Der notorische „Unruhestifter“ verließ (oder musste verlassen) Russland im Oktober 1921. Für ihn begann ein zweites Exil mit Aufenthalten im Schwarzwald, in Berlin, an der Ostsee und schließlich noch in Marienbad und Prag. Da seine Deutschland-Aufenthalte von der Sowjetischen Handelsmission finanziert wurden, war seine Person den russischen Emigranten in Deutschland suspekt. Aus der russischen Heimat kamen ebenfalls beunruhigende Nachrichten: Die Sowjetbehörden hatten einen „Index verbotener Bücher“ aufgestellt, die aus den Bibliotheken zu entfernen waren (dazu gehörten Platon, Immanuel Kant, Arthur Schopenhauer, Friedrich Nietzsche, Lew Tolstoi, Nikolai Leskow und andere). Gorki war maßlos enttäuscht und gab seine Pläne für eine baldige Heimkehr auf. Auch nach Lenins Tod (21. Januar 1924) kehrte Gorki nicht in die Sowjetunion zurück; er misstraute Lenins Nachfolger Stalin. Vielmehr wollte er in seinem geliebten Italien sesshaft werden, wo allerdings 1922 Mussolini die Macht ergriffen hatte. Hier, im italienischen Sorrento, beendete er den Roman Das Werk der Artamonows und begann sein umfangreiches Werk Klim Samgins Leben. In dieser vierbändigen Chronik der Jahre 1880 bis 1918 wollte er das Leben der russischen Gesellschaft vor der Oktoberrevolution umfassend darstellen. Es blieb jedoch unvollendet.

Die Arbeit an diesem Text und seine angeschlagene Gesundheit dienten Gorki als Vorwand, die Rückkehr immer wieder hinauszuzögern. Im Sommer 1928 kehrte er schließlich in die Sowjetunion zurück – anlässlich seines 60. Geburtstags hatte ihn Stalin mit großer Geste zur Galionsfigur der russischen Protestliteratur, ja zum „Klassiker des sozialistischen Realismus“ erklärt. Gorki wurden alle möglichen Ehrungen zuteil – vom Leninorden bis zum Mitglied des Zentralkomitees der KPdSU. 1932 wurde seine Geburtsstadt Nischni Nowgorod in Gorki umbenannt (1990 bekam sie wieder ihren alten Namen) und 1934 wurde er zum Präsidenten des eben erst gegründeten Sowjetischen Schriftstellerverbandes gewählt. Stalin brauchte Gorki als Volkstribun und Sprachrohr für seine eigene Popularität.

Auf Reisen durch das Land (stets unter Bewachung) bestaunte Gorki die sozialistischen Fortschritte und die großen Industrieprojekte. Selbst ein Arbeitslager besuchte er und lobte es in seinem Bericht als gute Umerziehungseinrichtung. Gorki wurde mit seiner Beliebtheit im In- und Ausland gnadenlos benutzt. In seinen frühen Jahren hatte er noch den Grundsatz vertreten: „In Russland darf ein Schriftsteller nie ein Freund der russischen Regierung sein“, nun ließ er sich von der Sowjetführung instrumentalisieren. Nach ruhelosen Jahrzehnten des ständigen Unterwegsseins, der häufigen Wohnwechsel, der Gefängnis- und Kuraufenthalte, der Verbannungen und der Exiljahre war es vielleicht ein Gefühl von Angekommensein, von Heimat, das ihn blind und widerspruchslos machte. Gefangen zwischen Gewissen und Loyalität scheiterte er. Und dann diese Enttäuschung: Nach Auseinandersetzungen mit Stalin durfte er seit 1931 das Land nicht mehr verlassen. Trotzdem wagte er es, Stalins Personenkult zu kritisieren, obwohl er selbst zur sozialistischen Ikone hochstilisiert wurde. Am Ende soll Gorki es abgelehnt haben, eine (sicher verklärende) Biografie über Stalin zu schreiben. Gorki war wohl auch ein einflussreicher Opponent gegen den Terror im Land. Tatsache ist jedenfalls, dass Stalins „Große Säuberung“ erst nach Gorkis Tod einsetzte. Maxim Gorki starb am 18. Juni 1936 in Moskau. Zwei Tage später wurde die Urne mit seiner Asche in einer feierlichen Trauerzeremonie, an der 800.000 Menschen teilnahmen, in die Kremlmauer eingelassen. Um seine Todesursache rankten sich jahrelang Gerüchte; heute geht man allerdings von einem natürlichen Tod aus.

Der französische Schriftsteller André Gide, der an der Trauerfeier auf dem Roten Platz teilgenommen hatte, schloss seine Trauerrede mit den Worten: „Maxim Gorki gehört jetzt der Geschichte. Er nimmt seinen Platz neben den Größten ein.“ Zumindest bis in die 1920er Jahre schuf er ein zeitloses Werk von weltliterarischem Rang. So wurde Gorki viermal für den Literaturnobelpreis nominiert, unter anderen hatte Romain Rolland Gorkis Namen bei der Schwedischen Akademie ins Spiel gebracht. Aber das Nobelkomitee befand stets, dass „das anarchistische und oft ganz ungehobelte Werk Gorkis in keiner Weise geeignet ist, mit dem Nobelpreis gewürdigt zu werden.“ Oder anders ausgedrückt: Man konnte oder wollte den Preis nicht an einen Kommunisten wie Gorki verleihen. Nachdem zu Beginn des 20. Jahrhunderts bereits Lew Tolstoi und Anton Tschechow nicht berücksichtigt wurden, war es schließlich der Exilant Iwan Bunin, der als erster russischsprachiger Autor 1933 mit dem Nobelpreis geehrt wurde. Für Gorki, der mit Bunin bis 1918 in freundschaftlichem Kontakt stand und dessen Werk er stets bewunderte, sicher eine Enttäuschung.

Die „Tragik“ des Maxim Gorki gehört zu den viel diskutierten Themen der russischen Literatur. Er war wohl eher ein Sozialromantiker als ein theoretisch geschulter Sozialist. Sein Verhältnis zu den Mächtigen nach der Revolution in Russland ist voller Widersprüche – ein Grund dafür, dass er im Westen häufig auf „Stalins Vorzeigeschriftsteller“ reduziert wurde. Erst nach dem Ende der Sowjetunion und der ideologischen Ost-West-Konfrontation wandelte sich der Blick und die Bewertungsmaßstäbe auf die Sowjetliteratur. So bemüht man sich auch um eine Annäherung an Gorki, vor allem an dessen Sozialkritik und Sozialutopie. Die Zurückhaltung (oder Ignoranz) der deutschen Verlage (auch der ostdeutschen) im Fall Gorki ist aber weiterhin beschämend. Selbst seine frühen Erzählungen und Dramen sowie seine autobiografischen Schriften, die längst zum Kanon der „großen Literatur“ zählen, vermisst man seit Jahrzehnten in den Verlagsprogrammen. Zu seinem 150. Geburtstag erscheint einzig im Aufbau Verlag mit Jahrmarkt in Holtwa ein Auswahlband seiner frühen Erzählungen in einer Neuübersetzung von Ganna-Maria Braungardt. In einem kurzen Geleitwort Gorki und ich bedauert die junge deutsche Schriftstellerin Olga Grjasnowa (geb. 1984) auch folgerichtig, dass „die Erinnerung an ihn überschrieben“ wird, doch „vielleicht wäre es nun endlich an der Zeit, sich neu mit seinem Werk auseinanderzusetzen.“ Übrigens: Die Ausgabe der Gesammelten Werke von Gorki liegt bereits über 40 Jahre (ebenfalls im Aufbau Verlag erschienen) zurück – da war Grjasnowa noch gar nicht geboren. Komplettiert wird die Aufbau-Jubiläumsausgabe durch das Nachwort Maxim Gorki – Licht und Schatten des Ruhms der Literaturwissenschaftlerin Christa Ebert, in dem sie die Widersprüche in Gorkis Leben und Streben näher beleuchtet.

Die beiden Gorki-Biografien des norwegischen Literaturhistorikers Geir Kjetsaa Maxim Gorki – Eine Biographie (Claassen Verlag 1996) und des französischen Schriftstellers Henri Troyat Gorki. Sturmvogel der Revolution. Eine Biographie (Piper Verlag 1987) sollen hier nicht unerwähnt bleiben. Beide sind fundiert, mit differenzierten Analysen und nicht auf der Suche nach sensationellen Enthüllungen. Erwähnenswert auch der Blog Der unbekannte Gorki, in dem der slawische Philologe Armin Knigge seit 2006 regelmäßig neuere Forschungserkenntnisse über Gorki zusammenträgt.

Titelbild

Maxim Gorki: Jahrmarkt in Holtwa. Meistererzählungen.
Mit einem Geleitwort von Olga Grjasnowa und einem Nachwort von Christa Ebert.
Übersetzt aus dem Russischen von Ganna-Maria Braungardt.
Aufbau Verlag, Berlin 2018.
288 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783351037086

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