Ein genaueres, hoffnungsfrohes Bild der Weltgeschichte

David Graeber und David Wengrow vermitteln neue Zugänge aus anthropologischer und archäologischer Sicht

Von Ulrich KlappsteinRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ulrich Klappstein

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

David Wengrow berichtet im Vorwort des Buches Anfänge. Eine neue Geschichte der Menschheit zunächst über die gemeinsam mit dem renommierten, inzwischen aber verstorbenen US-amerikanischen Wissenschaftler David Graeber unternommene Anstrengung, quasi als „Ablenkung“ von den akademischen Pflichten zu arbeiten. Wengrow schreibt, das Buch sei als „Experiment“ begonnen worden, um den „Dialog über die menschliche Geschichte“ wiederzubeleben. Nach Sichtung der umfangreichen, fächerübergreifenden Sekundärliteratur (die im Anhang vollständig aufgeführt wird) und Auswertung des ihnen zugänglichen neuesten archäologischen Quellenmaterials hätte das Duo versucht, eine Synthese der bisherigen Erkenntnisse zusammenzustellen.

Sie suchten dabei neue, überzeugende Antworten auf die immer wiederkehrend aufgeworfene Frage nach der menschlichen Vorgeschichte. Hierbei wollten sie sich nicht zufrieden geben mit Erkenntnissen, die nur auf den „vermutlich aktualisierten Fassungen“ etwa von Jean-Jacques Rousseaus 1754 geschriebener Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen und dem anderen Gründungstext der modernen politischen Theorie beruhen, Thomas Hobbes’ 1651 erschienenem Leviathan. Der 1961 in den USA geborene David Graeber lehrte als Anthropologe am Londoner Goldsmith-College, war Autor mehrerer Weltbestseller und gilt als einer der wichtigsten Vordenker der Occupy-Bewegung. David Wengrow, geboren 1972, leitete Forschungen in Afrika und dem mittleren Osten und unterrichtet nach wie vor am Lehrstuhl für Vergleichende Archäologie an der Universität London. Er ist einer der führenden Vertreter der „World Achaeology“.

Jüngste Forschungsergebnisse machen für das Wissenschaftlerteam eine Neuinterpretation der Geschichte der Entwicklung der Menschheit in den vergangenen 30000 Jahren notwendig, diese müsse sich jedoch von den „vertrauten Narrativen“ unterscheiden. Es sei vielmehr notwendig, den indigenen Kommentatoren und Beobachtern der europäischen Aufklärung eine Stimme zu geben, die nicht dem herkömmlichen „Kanon“ folge. Der Leserschaft werden Schritte zu einem umfassenderen Verständnis und einem „genaueren, hoffnungsfroheren Bild der Weltgeschichte“ geboten. So gelte es, mit der Vorstellung aufzuräumen, „alle Menschen auf der Erde hätten über Hunderttausende von Jahren dieselbe idyllische Form der sozialen Organisation“ gemeinsam erlebt oder angestrebt (Rousseau). Weiterhin betonen die Autoren im Gegensatz zur Theorie von Hobbes die Fähigkeit der menschlichen Spezies, intelligent „mit verschiedenen Formen sozialer Organisation zu experimentieren“.

Sie kritisieren neuere Darstellungen, so die populär gewordenen Bücher von Francis Fukuyama The Origins of Political Order: From Prehuman Times to the French Revolution (2011) oder The World Until Yesterday: What Can We Learn from Traditional Societies? (2012) von Jared Diamond. Diese beruhten „trotz des selbstsicheren Tons auf keinerlei wissenschaftlicher Evidenz”, sie vereinfachten die Sicht auf die gesellschaftlichen Entwicklungsmöglichkeiten „notwendigerweise bis zu einem gewissen Grad“, was zu einer „Verarmung der Geschichte“ und unseres „Möglichkeitssinns“ führe.

In einer oft unakademisch wirkenden Lockerheit, die sich freilich in häufigen Gedankenkaskaden gefällt, legen sie dar, wie sich schon in der Eiszeit „die proteischen Möglichkeiten menschlicher Politik“ entfaltet haben. Denn die jungsteinzeitliche Völker seien – anders als zahlreiche Studien bisher behaupteten – „revolutionär“ mit der Landwirtschaft umgegangen. Und ausgehend von der Entwicklung eurasischer Städte – in Mesopotamien, im Indus-Tal, der Ukraine und in China – habe sich schließlich eine weltweite „Ökologie der Freiheit“ entwickelt. Sie schildern die indigenen Ursprünge des sozialen Wohnungsbaus und räumen mit der Vorstellung auf, dass der moderne Staat „keinen Ursprung hatte“; sie argumentieren, dass vielmehr die Anfänge von Souveränität, Bürokratie und Politik im Laufe der Geschichte recht „bescheiden“ waren.

All das kann auch wegen der zugegebenermaßen manchmal störenden Weitschweifigkeit und den sich oft wiederholenden Argumentationen hier nicht im Einzelnen nacherzählt werden, zu vielfältig, manchmal sogar überbordend ist die Darstellung. Dies scheint auch den Autoren selbst aufgefallen zu sein, worauf die vielen Rückverweise und Kurzzusammenfassungen hindeuten. Hier hätte der Verlag Penguin Random House redaktionell eingreifen müssen, das Gebotene an vielen Stellen straffen müssen, um bei der Leserschaft nicht den Eindruck zu hinterlassen, das wortreich Vorgetragene vielleicht dennoch nicht verstanden zu haben. Es steht zu vermuten, der verbliebene David Wengrow habe nach einer zehnjährigen Arbeit am Manuskript und dem plötzlichen Tod seines Mitautors am 2. September 2020 das gemeinsame Erbe nicht antasten wollen.

Die beiden Forscher laden die Leserinnen und Leser zu einer neuen Sichtweise ein, „durch die unsere Vorfahren ihre volle Menschlichkeit zurückerhalten“. Ihr Vorhaben gelingt ihnen besonders in den beiden Kapiteln über „Imaginäre Städte“ und „Warum der Staat keinen Ursprung hatte“, auch wenn sie ihre Ergebnisse in einer manchmal überpointiert erscheinenden Art und Weise vorbringen. Am besten gefiel dem Rezensenten jedoch das Kapitel „Sündhafte Freiheit. Indigene Kritik und Fortschrittsmythos“, das mit vielen, in früheren Missionars-und Reiseberichten geäußerten Sichtweisen über die indigenen Gesellschaften Nord- und Südamerikas aufräumt. Nachverfolgen kann man dies anhand der ausführlichen Zitate aus den (in Deutschland noch unveröffentlichten) Korrespondenzen des Paters Jerome Lalement aus dem Jahr 1644, der die zahlreichen Jesuitenberichte, die das alte Europa damals erreichten, konterkariert hat. Auch die umfangreichen Zitate aus den leider bis jetzt nicht auf Deutsch erschienenen Büchern des Barons von Lahontan (1666–1716) vermitteln einen unmittelbaren Eindruck vom Gegensatz der Herrschaftsmeinungen der kolonialen Europäer und den frappanten Auffassungen einiger Repräsentanten der indigenen Gruppen, als deren prominentestes Sprachrohr der Häuptling des Volkes der Wendat gelten kann, ein gelehrter Staatsmann namens Konidaronk (1649–1701). Diese Passagen bei Graeber/Wengrow dürften zu den gelungensten Abschnitten des Buchs gehören und unterstützen die beiden Autoren in ihrer Widerlegung der allgemein verbreiteten Ansicht, die indigenen Gesellschaften seien unmündig und nicht in der Lage gewesen, „weder individuell noch unmittelbar für sich selbst“ zu handeln. Auch räumen sie mit dem Vorurteil auf, nur moderne postaufklärerische Menschen hätten die Fähigkeit, „bewusst in die Geschichte einzugreifen und ihren Lauf zu verändern“.

Dagegen – so legen es Graeber/Wengrow überzeugend dar – müsse man auch den Menschen früherer Epochen die Fähigkeiten zuschreiben, „reflektierte soziale Projekte“ zu unternehmen. Auch in Gesellschaften „nicht-moderner Menschen“ sei die dazu nötige soziale Komplexität nachweisbar, wohingegen die bisherige Anthropologie weitgehend in ahistorischen Begrifflichkeiten verharre, so als ob prähistorische Gesellschaften „in ewiger Gegenwart“ lebten. Auch die Sozialwissenschaften hätten hauptsächlich untersucht, „wie unfrei Menschen sind“ und nachzuweisen versucht, dass frühere Gesellschaften nicht in der Lage gewesen seien, ihr eigenes Schicksal zu prägen oder sogar „Freiheit um der Freiheit willen“ anzustreben.

Letztlich gelingt den beiden Autoren der Nachweis, dass die Menschheitsgeschichte ein Labor gefüllt mit Wissen von Techniken bereitgestellt hat, das aber nicht unbedingt zum Einsatz kommen konnte. „Unsere Spezies wirkt in den bisherigen Darstellungen vor allem als weniger reflektiert, weniger kreativ und weniger frei, als sie tatsächlich ist“. Die Anthropologie und die angrenzenden Wissenschaften hätten es versäumt, so die beiden Autoren, den Blick auf andere Formen sozialer Existenzen zu werfen, so dass „manche heute der Ansicht sind, diese besondere Art von Freiheit könne nie existiert haben oder sei wenigstens im größten Teil der Menschheitsgeschichte nicht wahrgenommen worden“. Allerdings konzedieren sie am Ende ihres Werks, dass auch sie keine endgültigen Antworten geben könnten; trotz des auf über 500 Seiten ausgebreiteten, vielschichtigen Materials blieben am Ende nur „ein paar provisorische Vermutungen“ übrig. Ihr Fazit lautet:

Beim Schreiben dieses Buches haben wir uns um ein Gleichgewicht bemüht. Hätten wir versucht, sämtliche Interpretationen des von uns behandelten Materials wiederzugeben oder zu widerlegen, wäre dieses Buch zwei- oder dreimal so umfangreich geworden. […] Tatsächlich haben wir schon einen ersten Schritt gemacht.

So kann – trotz der beklagten Weitschweifigkeiten und manchmal störenden Wiederholungen – eine Leseempfehlung gegeben werden, die „Anfänge der Geschichte der Menschheit […] ganz anders und neu zu denken“, wie die Verlagswerbung auf dem Buchumschlag verheißt.

Titelbild

David Graeber / David Wengrow: Anfänge. Eine neue Geschichte der Menschheit.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2022.
672 Seiten, 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783608985085

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