Die totale Wirklichkeit

In seinem posthum erschienenen Romanfragment „Dr. Weiss‘ letzter Auftrag“ wirbelt Lars Gustafsson Zeit und Raum durcheinander

Von Beat MazenauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Beat Mazenauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Doktor Weiss macht sich auf die Suche. Er hat den Auftrag, ein Ding, ein Etwas zu finden, das eine spätgotische Eisenkrone ist oder ein Remedium oder ein letztes Mozartwerk, Köchelverzeichnis 594. Ganz genau weiß es niemand. Bei seiner Suche spielt ein Graf Joseph von Deym eine Rolle oder der Astrophysiker Doktor Alberstein, und nicht zu vergessen der dänische Philosoph Søndertoft und Elisabeth, die so vieles in einem ist. Doktor Weiss bewegt sich in einem Raum zwischen Südengland, Norbotten, Potsdam und Lissabon. So viel scheint einigermaßen klar zu sein. Die Frage ist bloß, wie Personen, Objekte und Orte wirklich miteinander zusammenhängen.

Dr. Weiss‘ letzter Auftrag macht es seinen Lesern und Leserinnen in der Hinsicht nicht leicht. „Hier mahnte alles zur Vorsicht“, heißt es einmal. Das gilt für den Ich-Erzähler Doktor Weiss so gut wie für die Lektüre des schmalen Buches. Nichts ist, wie es ist, geschweige denn, wie es scheint. Das Buch beginnt mit dem „letzten Kapitel“ und schließt mit einem Kapitel, das gerne auch den Anfang machen könnte und zumindest wieder an den Beginn zurückverweist. In diesem narrativen Rondo geraten historische Zeit und topographischer Raum gehörig durcheinander. Doktor Weiss wähnt sich selbst in einem Hilbert-Raum: dem „großen, aufrichtig leeren Gesicht der Welt“, dessen Dimensionen sich stetig potenzieren und den Protagonisten in eine halluzinatorische Welt versetzen, in der in einem „schwindelerregenden Augenblick“ die Zukunft zur Vergangenheit oder die Vergangenheit zur Zukunft wird. „Es faltet die Zeit“, bemerkt Doktor Weiss auf seiner Reise durch Moore, Traumräume und Schluchten ohne Wände, bis ihm nach und nach aufgeht, dass er trotz allem irgendwo ankam: „dass dies ein ganz wirklicher Ort war: Ich meine: Er gehörte zur lokalen Physik“.

Lars Gustafsson hat in seinen Büchern seit jeher eine Faszination für Mathematik und Physik bewiesen. In diesem posthum erschienenen Roman kommt sie potenziert nochmals zu literarischen Ehren. Mehrfach benutzt der Autor das Bild des „Schneiders“ oder Weberknechts, der über die glatte Wasseroberfläche gleitet, ohne Wissen darum, was sich darunter befindet. Genau so ergeht es uns Menschen: „Unsere Oberfläche ist vierdimensional. Die Tiefe unter uns, das unbekannte Tiefe, hat mehrere Dimensionen“. Dieser unglaubliche Raum ist bloß noch mathematisch oder literarisch-fantastisch zu bewältigen. Letzteres unternimmt Gustafsson in diesem Roman – wobei der, wie Michael Krüger im Nachwort schreibt, Fragment geblieben ist: ein Buch der Ideen und der Entwürfe, das sich nur notdürftig zum Ganzen rundet. Allerdings wäre es wohl auch als vollendete Einheit mysteriös zu lesen geblieben. Für die pragmatische Vernunft ist Doktor Weiss‘ Auftrag in dem „rätselhaften Medium“ namens Zeit nicht zu retten.

Der 1936 im mittelschwedischen Västerås geborene und 2016 in Stockholm verstorbene Lars Gustafsson war ein ungeheuer produktiver Autor. Sein Werk versammelt Gedichte, Prosa und Essay in großer Zahl, es umfasst im besten Sinn anmutige Heimatromane, autofiktionale und philosophische Prosa sowie Sciencefiction-Geschichten. Wie sehr das alles miteinander zusammenhängt, beweist dieses letzte schmale Buch. Bei genauem Hinsehen hat Gustafsson darin mehrfach Hinweise und Anspielungen auf das eigene Werk gesetzt, so zum Beispiel mit den „nassen Wollsachen“, deren Geruch „die ohnmächtige, tiefe, rasende Wut“ begleitet, als der Dorflehrer einst eine richtige Frage nur mit einer Ohrfeige zu beantworten wusste. Die Stelle lehnt sich offenkundig an den Roman Wollsachen von 1974 an. Auch der Philosoph Søndertoft hatte bereits 2009 einen Auftritt in Frau Sorgedahls schöne weiße Arme. Und wenn der Ich-Erzähler in Dr. Weiss‘ letzter Auftrag auf dem Fahrrad gen Norden radelt, über eine erschreckend riesenhafte Fundsache räsoniert und dazu ausruft: „Nichts kann brutaler sein als ein Faktum“ – dann erinnert die Szene unweigerlich an Gustafssons Roman Der Mann auf dem blauen Fahrrad, ein gewitztes Vaterporträt, in dem sich die Sätze finden: „Dieses Leben war nicht sein Leben. Aber er hatte kein anderes. Es gibt nichts Brutaleres als ein Faktum.“

Speziell aber die Essaysammlung Utopien, die 1969 und auf Deutsch 1970 erschien, beschreibt Motive, Themen und Verfahren, die Dr. Weiss‘ letzter Auftrag intensiv umspielt. Im Titelessay Utopien heißt es: „Wir sind also auf ein Gebiet geraten, wo die Unterscheidbarkeit zwischen dem Phantastischen und dem Wahrscheinlichen uns im Stich lässt“. Vergleichbares erlebt Doktor Weiss am eigenen Leib: „Für uns, die wir die Fähigkeit haben, den engen Käfig des Augenblicks zu überschreiten, ist es keine ungewöhnliche Erfahrung, nicht zu wissen, ob wir in einer relativen Zukunft oder eine relativen Vergangenheit gelandet sind.“ Für dieses zeitliche Amalgam findet sich im Utopien-Band ein treffender Begriff: „totale Wirklichkeit“. Mit Rückgriff auf den belgischen Philosophen Andries Mac Leod lässt er sich als „Inbegriff aller Geschehnisse zu allen Zeiten“ definieren. Lars Gustafsson ergänzt dazu: „In jeder sinnvollen Bedeutung des Wortes wirklich ist also jeder Zeitpunkt genauso wirklich wie derjenige, den ich unter Berufung auf mein eigenes Bewusstsein zu einem beliebigen Zeitpunkt, der gegenwärtig ist, jetzt nenne.“

In solchen, bereits 50 Jahre vorher notierten Überlegungen wurzelt Dr. Weiss‘ letzter Auftrag und schafft abschließend ein Kontinuum der grenzüberschreitenden Diskontinuität auch innerhalb des Werkes von Lars Gustafsson. Der letzte, Fragment gebliebene Roman nimmt noch einmal die poetologischen und philosophischen Positionen der frühen Jahre auf und wirbelt mit ihnen Wirklichkeit und Traum, Bewusstsein und Halluzination gehörig durcheinander. Wo die Handlung förmlich auseinanderfällt, liegen die Anreize für die Lektüre eher in den philosophischen und werkgeschichtlichen Verknüpfungen, die von Gustafsson – wie bei ihm üblich – stilistisch akkurat und mit Witz literarisch transzendiert werden. Ein „Triumph meiner Phantasie“ eben, wie Doktor Weiss stellvertretend für den Autor enthusiastisch ausruft.

Titelbild

Lars Gustafsson: Dr. Weiss’ letzter Auftrag. Roman.
Aus dem Schwedischen von Verena Reichel.
Wallstein Verlag, Göttingen 2020.
146 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783835336049

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