Chor der Widersprüche und Selbsttäuschungen

Die Risse im Gewebe der Post-Corona-Gesellschaft: Anna Katharina Hahn hat einen weiteren zeitdiagnostischen Stuttgart-Roman vorgelegt

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Stuttgart im Herbst 2022: Die Pandemie ist endlich vorbei, auch wenn in der Zacke, der historischen Zahnradbahn, noch Maskenpflicht herrscht. Alles ist wieder normal – so scheint es zumindest. Denn unter der Oberfläche des sozialen Feingewebes tun sich längst subtile Risse auf. Eine neue Gereiztheit macht sich breit, Freundschaften stehen überraschend auf dem Prüfstand, und vor lauter wiedererwachtem Lebenshunger werden eheliche Warnhinweise ebenso übersehen wie beunruhigende Veränderungen bei alten Freunden.

Um all das geht es in Der Chor, Anna Katharina Hahns neuem Stuttgart-Roman. Nach eher durchwachsenen literarischen Ausflügen nach Spanien (Das Kleid meiner Mutter, 2016) und in die USA (Aus und davon, 2020) knüpft die 53-jährige Autorin damit wieder an ihre früheren Romanerfolge an. Denn wie in Kürzere Tage (2009) oder Am Schwarzen Berg (2012) sondiert Hahn auch in Der Chor mittels präziser Milieustudien geradezu seismographisch gesellschaftliche Befindlichkeiten. Im Besonderen die des wohlhabenden schwäbischen Bürgertums mit all seinen Selbsttäuschungen und Widersprüchen.

Wie der Titel schon verrät, hat sich die Autorin für ihre neue soziale Erkundungsmission eine besonders ergiebige Sammelstätte dieses Milieus vorgenommen: einen Laienchor. Unter den gut situierten Frauen, die sich allwöchentlich im Gemeindehaus bei den „Cantarinen“ treffen, herrscht nach all den frustrierenden Treffen im Park oder auf Zoom eine neue Aufbruchsstimmung. Dazu trägt auch die neue Leiterin aus Estland bei, deren einfühlsame Art alle zu schätzen wissen, einschließlich Hahns Protagonistin Alice. Die verheiratete Mittvierzigerin ist stolz auf den gemeinsam mit ihrem Mann, Steuerberater von Beruf, erreichten Lebensstandard.

Insgeheim hält sich die nach außen hin toughe und kontrollierte Managerin allerdings nur noch durch das Aufsagen von Mantras mental über Wasser; abends rettet sie sich erschöpft an die Seite ihres seit dem Lockdown nur noch von Fastfood ernährenden Gatten wie auf ein „freundliches Floß“. Und ignoriert dabei den langsamen Tod, den ihre Ehe gerade stirbt, gefördert auch durch eine erfolglose Kinderwunschbehandlung. Für die Protagonistin, die heimlich vom Ausbruch aus ihren beruflichen und familiären Verpflichtungen träumt, ist der Chor ein zweites Zuhause, trotz ihres Ärgers über die Arztgattin Marie, in ihren Augen eine Drama-Queen, die ihr kürzlich aus heiterem Himmel die Freundschaft quittiert hat.

Doch neuerdings lockt der Chor Außenseiter an. Etwa Cora, eine vom Leben gezeichnete Putzfrau, die für Alice zu den Cantarinen passt „wie ein Pferdeappel in den Eierkorb“. Alice’ Abneigung gründet auch darin, dass Cora da herkommt, von wo sie selbst einst mit ihrer Mutter, auch sie eine Putzfrau, geflohen ist, nämlich aus dem Land, „wo die penetranten Blüten des billigen Weichspülers blühen“. Gekonnt zeigt Hahn an Alice’ Beispiel die Widersprüche, in die sich eine soziale Aufsteigerin bei dem vergeblichen Versuch verstrickt, den erreichten Status zu zeigen, ohne arrogant zu wirken.

Feindesland, denkt Alice, ich bin in Feindesland geraten, und umfasst ihr Etui. Sein Leder ist weich und lavendelblau, auf der Schließe zeigt sich diskret, aber unverkennbar das Designerlogo. Die Kioskfrau weiß nicht, dass sie Prozente bei ihrem Arbeitgeber bekommt. Nie würde sie sonst so viel für eine Geldbörse ausgeben. Oder doch? Um allen zu zeigen, dass sie es kann? Dass sie es geschafft hat? Am liebsten möchte Alice dieser anderen mit ihren herabhängenden Mundwinkeln entgegenhalten: Ich bin eine von euch! Ich bin Lilli aus Moabit, Kaltmamsells Tochter!

Von einem anderen Neuzugang kann Alice dagegen gar nicht genug bekommen: Sophie ist eine 18-jährige Germanistikstudentin, die in ihrer Verhuschtheit für Alice etwas „Kaninchenhaftes“ ausstrahlt – und so ganz anders ist als Sophies schräge Mitbewohnerin Talitha, die sich mit ihren Dreadlocks und Piercings über die furchtsame „Baby-Soph“ amüsiert und fröhlich Seedbombs aus der Zacke wirft.

Sophie dagegen ruft bei Alice so sehr mütterliche Instinkte wach, dass sie zur Rettung einer Seminararbeit sogar bereit ist, mit der Studentin spontan nach Paris zu fahren (wo seltsamerweise prompt Talitha wieder auftaucht). Beim eher peinlichen Versuch, über Sophie die Lebenslust ihrer eigenen Jugend wiederzufinden, ist Alice dabei sogar bereit, ihre beste Freundin aus dem Chor im Stich zu lassen: Lena, bis vor kurzem eine rüstige Rentnerin, die nun nach einem Hüftbruch überraschend zum Pflegefall geworden ist.

In einer geschmeidigen Prosa geschrieben wird Alice’ und Sophies Paris-Ausflug zum Katalysator für eine fatale Ereignisfolge, an deren Ende zwei Ehen zerstört sind, eine Frau fälschlicherweise wegen Mordes gesucht wird, sich die Cantarinen von einer der ihren verabschieden müssen, aber auch die psychischen Probleme sichtbar werden, die die Pandemie gerade bei jungen Menschen gezeitigt hat. Geschickt bricht die Autorin dabei den dominierenden Realismus ihres Romans in Form dazwischengeschalteter Geschichten, die die Vorgeschichten ihrer weiblichen Protagonisten in Märchenform verdichten. Nur schade, dass die Männerfiguren dagegen durch die Bank weg klischeebehaftete Leerstellen bleiben. Dennoch: Mit Der Chor hat Anna Katharina Hahn erneut einen scharfsichtigen Gesellschaftsroman vorgelegt.

Titelbild

Anna Katharina Hahn: Der Chor. Roman.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2024.
282 Seiten , 25,00 EUR.
ISBN-13: 9783518431603

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