Auf den Holzwegen des wirklichen Lebens

Michael Hampe vermischt „Die Wildnis, Die Seele, Das Nichts“ zu einem apokalyptischen philosophischen Roman

Von Nora EckertRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nora Eckert

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Was ist ein philosophischer Roman? Auf jeden Fall ein Roman mit Anmerkungsapparat und einer langen Literaturliste, deren Empfehlungen in diesem Fall von Hans Blumenberg bis Ludwig Wittgenstein reichen. Der Berufsphilosoph Michael Hampe war also ganz in seinem Metier unterwegs, als er mal eben drei bedenkenswerte philosophische Essays, einen Sanguiniker (oder sollte ich besser sagen Phlegmatiker?), einen toten Dichter und ein wie auch immer beschaffenes „weibliches“ Ding, das als künstliche Intelligenz auftritt, an vier Wintertagen in einer eingeschneiten Züricher Villa erzählerisch zusammenbrachte.

Die Geschichte handelt in einer nicht mehr allzu fernen Zukunft, nämlich vom 22. bis zum 25. Dezember 2039, und sie lässt uns hoffen, es möge trotz Klimawandel in unseren Breiten noch frostige Schneewinter und weiße Weihnachten geben. Ob wir das Fest des Friedens allerdings noch feiern wollen, darf bezweifelt werden, denn es herrscht Krieg zwischen zwei großen verfeindeten Weltblöcken, einem asiatischen und einem nicht-asiatischen. Offenbar haben wir da nicht viel Auswahl auf der Welt. Von der globalen Zerstörung bekommen wir Leser kaum etwas mit, nur hie und da ein paar Hinweise auf das, was sich gerade außerhalb der mollig warmen vier Wände jener Züricher Villa abspielt. Jedoch beschert sie dem Roman ein ebenso überraschendes wie plötzliches Ende, für das freilich nach fast 400 Seiten Text dann doch allerhöchste Zeit ist. Für eine literarische Pointe die Welt gleich in Schutt und Asche zu legen, mag übertrieben erscheinen. Ganz abgesehen davon, dass sich damit die Frage nach dem wirklichen Leben auch ein für allemal erledigt. Denn wo es kein lebenswertes Leben mehr gibt, stellt sich allenfalls die Überlebensfrage – und der Letzte in der Apokalypse schaltet das Licht aus.

Doch der Reihe nach: Der Sanguiniker heißt Aaron Fisch, ist durch eine Erbschaft aller Existenznöte enthoben und wurde Verleger von Lyrik- und Kunstbänden aus purer Leidenschaft. Wir erfahren von seinem Projekt einer Dichter-Biografie, die dem verstorbenen Freund und Lyriker Moritz Brandt gewidmet ist. Aaron bewohnt ein Haus in Zürich, das er kaum noch verlässt, ausgenommen die Besuche beim Bäcker um die Ecke, der noch Brötchen verkauft, wie Aaron verwundert feststellt. Zu gefährlich ist die Welt draußen geworden. Beizeiten hatte sich Aaron ein Lebensmittellager im Keller angelegt, als seine Mitmenschen das noch belächelten. Ohne auf sein leibliches Wohl verzichten zu müssen, lebt er nun wie ein „Höhlenbär“, nur komfortabler dank einer nach wie vor funktionierenden Energieversorgung. Was uns staunen macht, da es für die jetzt schon gefürchteten Cyberattacken kaum lohnendere Ziele geben dürfte als genau jene urbanen Versorgungsnetze. Und so kann Aaron „Kälte, Gemeinheit, Dummheit und Gefahr“ draußen vor der Tür lassen und drinnen „Wärme, Bilder, Gedichte und Nahrungsmittel“ goutieren.

Aaron verbringt seine Tage und Abende diskutierend mit etwas, das mit reichlich künstlicher Intelligenz ausgestattet ist. Dieses nicht näher beschriebene Ding demonstriert in den philosophischen Diskursen jedenfalls „weibliche“ Überlegenheit. Sein riesiger Speicher bringt unentwegt Wissen hervor und sprudelt nur so vor analytischen Argumentationen. Es liefert aus weitverzweigten Archiven unter anderem die von Moritz Brandt stammenden drei Essays. Das Etwas trägt den Namen Kagami und bietet „eine weibliche Benutzeroberfläche“, so die Selbstauskunft, doch darunter gehe es ziemlich kompliziert zu. „So wie bei euch“, erklärt Kagami. Nur eines kennt sie nicht: Libido, weshalb sie auch keine Gefühlsaufwallungen wie ihr Gesprächspartner zu bewältigen hat, sondern nur logische Herausforderungen kennt. Womit wir sehen, Gefühle und Logik gehen eigene Wege. Außerdem sehen wir, dass so ein Etwas zwar geschlechtslos, nicht aber ohne Geschlechtsidentität existiert. Der Autor hat mal eben, wahrscheinlich ohne es zu bemerken, eine Entkopplung von Geschlecht und Identität eingeführt, eine in jedem Fall zukunftsweisende Tat. Weniger gelungen, zumindest aus feministischer Sicht, dass die weibliche Kagami die stets dienstbereite Dienerin des behäbigen Mannes ist. Hier herrscht wieder die alte Genderordnung. Nun gut, wenigstens versieht Aaron, der leidlich begabte Hobbykoch, den Küchendienst selbst und den Abwasch ohnehin die Spülmaschine.

Der philosophische Roman nennt die Themen der drei zentralen Essays in seinem Titel, nämlich Wildnis, Seele und Nichts, um die herum sich ziemlich elaboriert wirkende Gespräche zwischen Aaron und Kagami gruppieren. Außer schlafen, duschen, frühstücken und der Essenszubereitung geschieht so gut wie nichts, was man eine Handlung nennen könnte. Aber es geht ja darum, philosophische Probleme zu wälzen. Es geht um die Frage des wirklichen Lebens. Was ist das wirkliche Leben und wo ist es zu finden?

Damit befinden wir uns mitten in Moritz Brandts Gedankenwelt eines ewigen Selbstzweiflers und Eigenbrötlers. Ich denke, also bin ich, hat uns der Philosoph Descartes vor vierhundert Jahren wissen lassen, was uns zu dem Schluss bringen könnte, leben heißt denken. Aber verpasse ich nicht das Leben, wenn ich nur denke? Zumal das wirkliche Leben, das wir uns wahrlich nicht im Sessel sitzend und sinnierend oder am Klapprechner schreibend oder mit einer künstlichen Intelligenz fachsimpelnd vorstellen. Ist das Wirkliche, also Wahre, für uns nicht immer eine Art Event?

Wo also findet das Event des wirklichen Lebens statt? In der Wildnis, wie uns Naturromantiker glauben machen wollen? In einem ich- respektive selbstlosen Leben, wovon Buddhisten überzeugt sind, letztlich also in der Seele? In der Intuition, die das Nichts in der Reproduktionsverweigerung als Anti-Natalimus predigt? Das wirkliche Leben in der Wildnis zu suchen, ist die Jagd nach einer Chimäre, als gäbe es in uns ein ursprüngliches Selbstsein. Nicht weniger zweifelhaft die Entsagungsbotschaft, die Aufgabe des Willens und ebenso zweifelhaft das genaue Gegenteil im Triumph des Willens, der mindestens einen Mount Everest bezwingen muss, um zum vermeintlichen Selbst zu finden. Die Suche nach dem wirklichen Leben, das wird schnell klar, erzählt auch von der Besessenheit des Menschen. Dabei ist die Wahrheit so naheliegend wie simpel: Jedes Leben ist wirklich, ein unwirkliches Leben gibt es nicht.

Die drei Essays rücken noch etwas anderes in den Blick, nämlich wie sehr die verschiedenen Wege auf der Suche nach dem wirklichen Leben dieses selbst im Grunde auslöschen. Ob es der Tod ist, der in der Wildnis auf uns lauert, ob es der Verlust des Ichs und seiner Individualität ist, das ins Nirwana abdriftet, oder ob es die Weigerung sich fortzupflanzen ist als „Leid-Vermeidungsstrategie“, die die Menschheit insgesamt für überflüssig hält, gleich ob es dieses oder jenes sein soll, irgendein Tod bildet dabei immer den Schlusspunkt.

Wir landen, so viel Diskursschleifen wir im Roman lesend auch drehen, zuverlässig bei einigen banalen Wahrheiten, nämlich bei der Einzigkeit des Ichs und seiner Endlichkeit. Weshalb wir immer alone together sind, um es mit dem Titel einer wundervollen Jazzmusik zu umschreiben, und am Ende immer zu Staub werden. Irgendwann wird die Menschheit schließlich als Ganzes aufhören zu existieren, dafür verbürgen sich die Kosmologen. Dann ist die Frage nach dem Sinn des Lebens endgültig beantwortet. Auch das banal wie alle einfachen Wahrheiten: Der Sinn des Lebens ist, gelebt zu haben. Ja, das ist tautologisch, hat aber den großen Vorteil, dass es stimmt. Michael Hampes philosophischer Roman, der mit den Erinnerungen an einen toten Dichter beginnt und mit dem Sterben, der Vernichtung des Lebens endet, dieser Roman sagt es zwar nicht so, aber ich glaube ihn so verstanden zu haben: Wir sind immer im wirklichen Leben und das Sterben gehört dazu.

Titelbild

Michael Hampe: Die Wildnis, die Seele, das Nichts. Über das wirkliche Leben.
Carl Hanser Verlag, München 2020.
304 Seiten , 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783446265776

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