Neben dem Siegestor

Eine Fabel von Peter Handke

Von Klaus HübnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus Hübner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Man kann zwar nicht wirklich hineinschauen in den Garten direkt am Münchner Siegestor, Schackstraße 1. Aber man kann sehen: Sie steht noch, die mächtige Esche. Peter Handke hat sie Ende Oktober 1989 schreibend umkreist und seinen Text 1990 in Noch einmal für Thukydides veröffentlicht. Der bei Paris lebende Literatur-Nobelpreisträger aus Kärnten wurde kürzlich achtzig Jahre alt, und das war gewiss ein Anlass dafür, seine Kleine Fabel der Esche von München in die noble „Edition Petrarca“ aufzunehmen. Sogar zweimal, denn der den meisten Handke-Lesenden bekannten Druckfassung folgt die handschriftliche Fassung, in gleichem Zeilenfall gedruckt wie das daneben abgebildete Original, das der Autor seinem Freund Hubert Burda zum Geschenk gemacht hat. Dazu gibt es Schwarz-Weiß-Fotos von Isolde Ohlbaum und ein schönes, die Fabel, ihre zeitgenössischen Kontexte und ihr weiteres Schicksal klug erläuterndes Nachwort von Michael Krüger. Im Garten um die Esche herum, so erfährt man so ganz nebenbei, wurde vor 48 Jahren der von Hubert Burda finanzierte Petrarca-Preis ins Leben gerufen. Michael Krüger und Isolde Ohlbaum waren mit dabei, Peter Handke saß 1975 in der ersten Jury. Alles klar?

Als Fabel bezeichnet man gemeinhin eine lehrhafte Erzählung in Vers oder Prosa, in der nicht-menschliche Akteure – meistens Tiere, kann aber auch eine Esche sein – so handeln, als verfügten sie über menschliche Denk- und Verhaltensmuster. Peter Handke, für den der alte Baum plötzlich zum „Ort des Geschehens“ wurde und seine „Einzigartigkeit“ offenbarte, auch weil er sich dem Dichter als „Asylbaum“ präsentierte, hält sich an diese Gattungsvorgabe. Sprachmächtig wie immer schildert er die ihm widerfahrenen „Baum-Ereignisse“, wobei er sich selber und seine „Bildsprünge“ durchaus skeptisch beäugt. Wir begnügen uns mit einem charakteristischen Zitat, das Handke-Fans zur Verzückung und Handke-Verächter zum Wahnsinn bringen wird: „Die Esche war nichts als da, schlicht vorhanden, dabei immer noch etwas Besonderes, und wurde, einfach da, wie sie war, doch tätig – sie erinnerte oder, warum nicht das alte Wort? gemahnte, woran? an nichts Bestimmtes, und zusätzlich lehrte, oder besser, hieß sie mich (ermöglichte mir), was? – die Kopf- und Augenhöhe, mit der ich das Maß zu nehmen hätte an der vor mir sich dehnenden Gegenwart“. Das ist er, der Handke-Sound, und es ist wunderbar, dass es ihn gibt.

Heute werden am Siegestor keine Gebrauchtwagen mehr angeboten wie noch 1989, und die daran interessierten Leute mit ihren „südslawischen Stimmen“ sind verstummt. Dass man, wie Michael Krüger meint, beim Vergleich der handschriftlichen Version mit der Druckfassung nacherleben könne, „wie aus dem lokal begrenzten Siegestor das große München wurde“, ist nicht so ganz nachzuvollziehen. Mittendrin verliert der Dichter einmal sogar die Orientierung – „… nach Osten und weiter nach Österreich“ ist richtig, „… nach Osten zum Hauptbahnhof und weiter nach Österreich“ ist falsch. Von der Esche aus gesehen, natürlich. Das allerdings sollte niemanden davon abhalten, sich dieser wundersam beglückenden Baum-Fabel lesend anzuvertrauen.

Titelbild

Peter Handke: Kleine Fabel der Esche von München.
Mit Fotos von Isolde Ohlbaum und einem Nachwort von Michael Krüger.
Wallstein Verlag, Göttingen 2022.
79 Seiten, 15 Abb. , 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783835352476

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