Optimalwohlökonomie statt Globitalismus

Theresa Hannig debütiert mit dem dystopischen Roman „Die Optimierer“

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Die perfekte Gesellschaft – oder der größte Alptraum?“ fragt der Bastei-Lübbe Verlag auf dem werbenden Einband eines seiner Science-Fiction-Romane. Es handelt sich allerdings nicht etwa um Aldous Huxleys Klassiker Brave New World aus dem Jahr 1932, sondern um Die Optimierer, den soeben erschienen Debütroman von Theresa Hannig. Die Frage auf dem Einband stellt sich bei beiden Romanen nicht wirklich. Vielmehr handelt es sich jeweils um ‚perfekte‘ Gesellschaften, die sich als Hölle auf Erden erweisen, wie das lektüreerfahrene Publikum aufgrund der jeweiligen Titel sogleich erahnt. Liest man Hannigs Dystopie, fallen weitere Gemeinsamkeiten mit Klassikern des Genres ins Auge. Ihr Protagonist Samson Freitag, als „Lebensberater“ ein Vertreter des Systems, etwa gerät ebenso in dessen Mühlen wie schon der Police Commissioner der „Precrime“-Abteilung John Anderton in Philipp K. Dicks Kurzgeschichte The Minority Report, der in Verdacht gerät, künftig ein Verbrechen zu begehen.

Hannigs Roman spielt in der Bundesrepublik Europa des Jahres 2052, genauer gesagt in München. Der „Globitalismus“ und die „perverse, unnatürliche Wachstumsgesellschaft“ mit ihrem „unnötigen Leistungszwang“ sind passé. Stattdessen herrscht die „Optimalwohlökonomie“. Denn „laut Artikel 2, Absatz 3, Grundgesetz, hat jeder Bürger das Recht, den Anspruch und die Pflicht auf einen Platz in der Gesellschaft, der seinen Fähigkeiten entspricht und seinen Neigungen gerecht wird.“ Offensichtlich handelt es sich um einen Zusatz zu dem entsprechenden Paragraphen des heutigen bundesdeutschen Grundgesetzes, das offenbar als Grundlage für dasjenige der Bundesrepublik Europa diente. Allerdings entspricht er nicht dessen Geist, sondern vielmehr der Maxime „jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen!“, die sich den Vätern des Marxismus zufolge die künftige sozialistische Gesellschaft „auf ihre Fahne schreiben“ werde. Wenn das bundeseuropäische System des Romans zugleich anstrebt, dass „jeder an seinem Platz“ ankommt, so erinnert das nicht von ungefähr an die bekanntlich auf antike Gerechtigkeitsvorstellungen etwa bei Platon zurückgehende und von den Nazis als Schriftzug über dem Eingang eines KZs missbrauchte Maxime „Jedem das seine“. Damit sind linker und rechter Totalitarismus des politischen Systems der Bundesrepublik Europa zu einer Einheit verschmolzen. Sein Fortbestand wird nicht zuletzt durch ein Überwachungssystem gewährleistet, das George Orwells „Großen Bruder“ vor Neid erblassen lassen würde.

Die Handlung des Romans setzt kurz vor einer Wahl ein, bei der die auf „Stabilität und Kontinuität“ setzende „Regierungskoalition aus Sozialisten und Grünen“ vermutlich abgewählt werden wird. Immerhin konkurrieren etliche weitere Parteien mit ihnen: die Internationalisten, die Liberalen, die Atheisten und die Konservativen Familien. Außerdem stellen sich die unlängst gegründeten Optimierer mit ihrem Vorsitzenden Erkan Böser erstmals zur Wahl, denen durchaus ein zweistelliges Ergebnis zugetraut wird. Doch auch ohne die neue Partei scheint die „Solidargemeinschaft“ reibungslos, ja geradezu optimal zu funktionieren.

Zwar besteht keine ökonomische Notwenigkeit mehr zu arbeiten, die meisten Menschen gehen aber dennoch einer Beschäftigung nach. Wer dies nicht möchte oder sich nicht dazu eignet, geht in „Kontemplation“, wird also rundum versorgt. Dennoch gibt es ein Wohlstandsgefälle, ja sogar so etwas wie eine Armutsgrenze. Wer sich nicht gerade in ihrer Nähe bewegt, ist mit einer „Kommunikationslinse“ im Auge ausgestattet, bei der es sich um eine Weiterentwicklung der interaktiven Brillen handelt. Durch eine leichte Augenbewegung lässt sich eine virtuelle Realität über die eigentliche legen. So kann sie etwa als Navi fungieren oder virtuelle Druckknöpfe in einem Aufzug zeigen. Außerdem verbindet das Hightech-Gerät die Menschen mit einem Netz, das ständig alle anfallenden Informationen verarbeitet, auf welche die LinsenträgerInnen „in Echtzeit unbegrenzten Zugriff“ haben. Überhaupt können sie unmittelbar auf „alle Inhalte, Programme und Rechenleistungen“ des Netzes zugreifen. Da zugleich jede Lebensäußerung von ihnen aufgezeichnet und eingespeist wird, gibt es natürlich keine Privatsphäre mehr. So können LebensberaterInnen etwa in sekundenschnelle Dossiers ihrer Klientel vor ihrem Auge erscheinen lassen und so neben Gesundheits- und Familiendaten etwa Sozialpunktestand, Konsumverhalten, soziales Umfeld, etwa auch deren sexuelle Aktivitäten einsehen. Besagte Sozialpunkte bestimmen über Beförderungen und Bürgerrechte und erinnern so fatal an die jüngsten staatlichen Vorhaben der Volksrepublik China.

All dies klingt nicht übermäßig originell. Vielmehr liegt eine weitere Dystopie sattsam bekannter Machart vor. Doch weder dies noch die eingangs genannten Parallelitäten zu diversen Klassikern bedeutet, dass man das Buch ungelesen beiseite legen sollte. Denn die Debütantin Theresa Hannig hält einige interessante Ideen bereit, die für den Plot gar nicht weiter von Bedeutung sind. So werden fragliche Sachverhalte in der Bundesrepublik Europa etwa nicht mehr verifiziert, sondern „wikifiziert“. Aufgrund solcher Einfälle bietet der Roman durchaus ein gewisses Lesevergnügen. Auch lässt die Autorin ihre Geschichte mit einer überraschenden Wendung enden, die in ein Happy End mündet – wenn es denn eines ist.

Hannig erzählt flüssig und ohne ausgefallene Metaphern, so dass sich ihr Buch unangestrengt lesen lässt. Einen besonderen ästhetischen Genuss darf man daher von der Lektüre nicht erwarten. Erfreulicher Weise unterliegt sie aber auch nicht dem Irrtum, ihrem Publikum alles erläutern zu müssen, sondern lässt etwa die Verhaltensweisen der Figuren für sich sprechen. Die allgemeine Verblödung, welche die allgegenwärtig abrufbaren Informationen des Netzes nach sich ziehen, wird etwa dadurch versinnbildlicht, dass die Leute allerorts mit den Händen virtuelle und somit für andere unsichtbare ‚Touchpads‘ bedienen, was sie aussehen lässt, als versuchten sie „mit den Fingern zu zählen, ohne zu wissen, wie man von der Eins zu der Fünf kam“.

Einige Male allerdings breitet Hannig dann doch allzu detailliert diverse Erläuterungen zum Geschehen oder den Hintergründen des Plots aus. Wenn der Protagonist einem jungen Klienten in spe über einige Seiten hinweg eine „Geschichtsstunde“ über die letzten Jahrzehnte erteil, richtet sich das allzu offensichtlich an die Lesenden. Recht plakativ fällt auch ein Streitgespräch mit seiner Mutter aus. Auch ansonsten ist der Roman nicht frei von Schwächen. Die vielleicht wichtigste ist, dass einen das Schicksal des Protagonisten gleichgültig lässt und sein ebenso grundlegender wie abrupter Gesinnungswechsel recht unglaubwürdig bleibt. Alle anderen Figuren sind überhaupt nur mit ein paar lieblosen Strichen hingeworfen.

Wer sich an derlei nicht stört, wird mit Hannigs Roman einige kurzweilige Stunden verbringen. So lässt er sich zwar nicht rundum empfehlen. Ganz und gar von seiner Lektüre abraten mag man allerdings auch nicht. Hannig hat sicher kein Meisterwerk vorgelegt, wohl aber ein recht passables Debüt. Das gelingt nicht allen.

Titelbild

Theresa Hannig: Die Optimierer. Roman.
Bastei Lübbe, Köln 2017.
304 Seiten, 10,00 EUR.
ISBN-13: 9783404208876

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