Literarische Individual- und Massenpsychologie

Über Mela Hartwigs bedeutenden antifaschistischen Roman „Inferno“

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der wohl bekannteste antifaschistische Roman deutscher Sprache dürfte noch immer Anna Seghers Das siebte Kreuz sein. Irmgard Keuns zumindest ebenso wichtiges Buch Nach Mitternacht, bei dem es sich im Unterschied zu Seghers Werk tatsächlich um einen „Roman aus Hitlerdeutschland“ handelt, konnte da nie mithalten. Und Mela Hartwigs in den Jahren 1946 bis 1948 verfasstes Werk Inferno wurde gar nicht erst veröffentlicht. Vergeblich versuchte sie nach der Fertigstellung einen Verlag zu finden. Nun, mehr als ein Dreivierteljahrhundert nach dem Ende der Nazi-Tyrannei und gut ein halbes nach Hartwigs Tod, gelangt er endlich doch noch an die Öffentlichkeit. Der Dank dafür gebührt dem Literaturverlag Droschl, der zuvor bereits einige von Hartwigs Werken neu oder erstmals aufgelegt hat, darunter etwa ihren noch immer sehr lesenswerten Novellenband Das Verbrechen.

Die Handlung des nun erstmals erschienenen Romans spielt in Wien und reicht von der Zeit unmittelbar nach dem ‚Anschluss‘ Österreichs ans Deutsche Reich bis zum Ende des Nazi-Regimes. Erzählt wird sie aus der Perspektive der zu Handlungsbeginn 18-jährigen Ursula. Genauer gesagt ist es „ihre innerste Welt“ – mithin ihr Innenleben und ihre Empfindungswelt –, in die den Lesenden tiefe Einblicke gewährt werden und aus der heraus die Geschehnisse erzählt werden. Der Roman nimmt also nicht das Große und Ganze in den Blick, sondern bewegt sich innerhalb des recht überschaubaren persönlichen Umfeldes seiner Protagonistin. Tatsächlich aber personifizieren die mit Ausnahme Ursulas namenlosen Figuren allesamt bestimmte Typen und Verhaltensweisen unter der nationalsozialistischen Herrschaft. Sie werden stets in Bezug auf die Protagonistin benannt: ihr Bruder (ein Nationalsozialist vom SA-Typus), ihre Mutter (ebenso ängstlich wie unpolitisch), ihr Vater (ein nicht überzeugter, aber opportunistischer Mitläufer), ihr Freund (ein sich opfernder Widerstandskämpfer) und ihre Freundin (eine aus Liebe zu ihrem jüdischen Mann ins Exil gehende junge Frau). Der Leiter einer Lehranstalt, an der sie sich bewirbt, gleicht einem SS-Ideologen und in dem ebenso unheimlichen wie brutalen „Mann, der alles wusste und noch mehr wissen wollte“ ist die GeStaPo personifiziert. In der von Ursula besuchten Malschule wiederum spiegelt sich die Gesellschaft des Nationalsozialismus, in der Angst und gegenseitiges Misstrauen allgegenwärtig sind, weil ein jeder „Opfer und Henker in einer Person“ ist. So leuchtet Hartwigs Roman einerseits die individuelle Psyche seiner Protagonistin aus, andererseits aber auch die gesellschaftliche Massenpsyche des Faschismus.

Ursula selbst steht dem Regime zunächst instinktiv ablehnend gegenüber, lässt sich aber zunehmend vereinnahmen, bis sie sich in einen jungen Mann verliebt. Bald sieht sie sich gezwungen „zwischen ihm und dem, was sie ihr Glaubensbekenntnis nannte, zu wählen“, „zwischen Liebe und Gesinnung“. Dennoch schwankt sie lange zwischen ihrer Abneigung gegenüber dem NS-Terror und ihren Sympathien für seine Ideologie. Dabei nimmt sie stets die Meinung anderer an. Diese anderen sind ausschließlich Männer, zuvorderst ihr Geliebter. So folgt sie „nicht ihrem eigenen Willen, […] sondern dem Willen des Mannes“. Überhaupt lässt sie sich „von den Weisungen ihres Freundes leiten“. Und schließlich verlangt auch die vor dem Hintergrund der Gesamthandlung somit männlich konnotierte Widerstandsorganisation von ihr „bedingungslosen Gehorsam und persönliche Hingabe“. Sie soll ganz „zum Werkzeug“ werden. Unschwer lässt sich in Ursula zwar nicht eben eine Schwester von Bibiana, der proteischen Protagonistin in Hartwigs Roman Das Weib ist ein Nichts erkennen, aber doch eine Cousine.

Jeder Gedanke, jedes Gefühl verwandelt sich für Ursula zu Farben und Bildern, die mehr sagen als tausend Worte. Eben dies versucht Hartwig in ihrer ganz eigenen Sprache einzufangen, die sich in ihrem Roman keiner Stilrichtung zuordnen lässt. Wenn überhaupt irgendwo, so oszilliert sie zwischen Post- und Neo-Expressionismus. Jedenfalls ist ihr Stil dem infernalischen Geschehen und mehr noch der Innen- und Gefühlswelt Ursulas anempfunden. Gibt sich der Roman zwar zunächst etwas sperrig, so entwickelt er mit der Zeit einen Sog, dessen Bann man sich immer weniger entziehen kann.

An einer Stelle reflektiert er selbst eine Gewissheit seiner Protagonistin. Sie besagt, „daß künstlerische Überzeugungen nicht isoliert bestehen können, sondern daß sie untrennbar sind von der menschlichen Gesinnung und der geistigen Haltung des Künstlers, daß sie mit diesem zu einer Einheit verschmelzen“.

Ähnliche Überlegungen Ursulas sind immer einmal wieder eingeflochten. Oft lassen sie einen intertextuellen Bezug erkennen. Ihre rhetorische Selbstbefragung „wenn du es wirklich nicht wusstest, bist du nicht schuldiger als schuldig?“ etwa spiegelt das Bertolt Brecht zugeschriebene Verdikt über die Angeklagten in den stalinistischen Schauprozessen wieder: „Je unschuldiger sie sind, desto mehr verdienen sie zu sterben.“

Es ist nachgerade unverständlich, weshalb dieses wichtige antifaschistische Werk so lange unveröffentlicht blieb. Vermutlich war er den Verlagen der Nachkriegszeit zu brisant. 1948 wäre er bahnbrechend gewesen. Und noch heute legt er ein wichtiges Zeugnis ab.

Titelbild

Mela Hartwig: Inferno. Roman.
Mit einem Nachwort Vojin Saša Vukadinović.
Literaturverlag Droschl, Graz 2018.
216 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783990590201

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