Literatur und Illustration im Zusammenklang

Die beiden ersten Bände einer Reihe bibliophiler Ausgaben von Werken Gerhart Hauptmanns liegen vor

Von Klaus HammerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus Hammer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

1926 hatte Kurt Tucholsky die Tendenzen der Zeit zum Ausdruck gebracht: „Ein Bild sagt mehr als 1000 Worte“. Auch literarische Werke erschienen nunmehr vorzugsweise in illustrierten Ausgaben, um das Interesse der Leser zu wecken. Dabei geht es bei den Illustrationen nicht so sehr um eine optische Verbildlichung der literarischen Szenerie. Die Blätter sind Illustration und selbständiges Bild zugleich.

An diese Tradition knüpfen die Gerhart-Hauptmann-Gesellschaft und das Gerhart-Hauptmann-Museum in Erkner an und haben mit der Erkneraner Ausgabe eine buchkünstlerisch gestaltete Reihe der Werke Gerhart Hauptmanns mit Illustrationen bedeutender Künstler begonnen. Erschienen sind bisher Fasching mit Zeichnungen von Alfred Kubin und Die Insel der Großen Mutter oder Das Wunder von Île des Dames mitAquarellen von Charlotte E. Pauly, beide Ausgaben mit einem knappen, informativen Nachwort von Stefan Rohlfs, dem Direktor des Gerhart-Hauptmann-Museums in Erkner. Man kann diese Illustrationen als direkte Fortsetzung der Literatur mit anderen Mitteln – mehr noch, als eine autonome „Zweitschöpfung“ aus verwandtem Geist – ansehen.

Individuelle Schicksale, Landschaftseindrücke und Todesmotivik fanden ihren Ausdruck in den 1887 entstandenen Novellen Fasching und Bahnwärter Thiel, die beide in Erkner und Umgebung angesiedelt sind. In Fasching, zuerst 1887 in der Zeitschrift »Siegfried«, dann 1925 in einer Neuausgabe veröffentlicht, erzählt Hauptmann den tragischen Tod der
dreiköpfigen Familie Kielblock. Die Novelle geht zurück auf einen realen Fall, der sich am 13. Februar 1887 ereignet hatte: Bei der nächtlichen Überquerung des zugefrorenen Flakensees am Ortsrand von Erkner war ein Schiffbaumeister mit seiner Familie in der offenen Stelle eines Zuflusses ertrunken. Auch in der Novelle brechen die Kielblock an einer Stelle des Sees ein, in die das Flüsschen Löcknitz mündet und die deshalb nie zufriert. Die Anreicherung der Novelle mit „vor Ort“ notierten Wirklichkeitspartikeln entsprach dem Wunsch des Autors, auf diese Weise vom Detail her eine Summierung
von Wirklichkeit zu erreichen. Hauptmann erprobte in Fasching die Möglichkeiten exakten, minutiös an der empirischen Wirklichkeit geschulten Erzählens und entwickelte Varianten der Naturbeschreibung.

In raffinierten ironischen Brechungen ließ er ein detailfreudiges Bild des robust-lebensfreudigen Segelmachers Kielblock entstehen, der mit seiner Frau Marie der erste und der letzte auf dem dörflichen Tanzboden ist, während ihr Kind, das „Würmchen“, im Tanzsaal auf zwei Stühlen schlafend die Nacht verbringen muss.

Aus regionalem Material holte Hauptmann ungeahnte seelische Energien heraus. Der Dialekt wird als Mittel psychologischer Vertiefung meisterhaft gehandhabt. Die kleinen Leute sind eins mit der Atmosphäre, mit der Landschaft. Hinter dichten Schleiern bleiben die Unerbittlichkeit und Gnadenlosigkeit der menschlichen Existenz sichtbar. Der Leser, vollkommen in das atmosphärische und personale Gewebe der Erzählung eingesponnen, findet sich am Schluss plötzlich als Aufgestörter wieder.

Dazu hat Alfred Kubin eine halluzinatorische Zeichnungsserie geschaffen, die bereits 1923 in der Fasching-Ausgabe des S. Fischer Verlages erschien. In jeder Phase seines künstlerischen Schaffens widmete sich dieser der Buchillustration. Dabei wandte er alle Techniken an, die reine Tuschzeichnung, die Federzeichnung, die Tusch-Federzeichnung und die Technik der Lithographie. Er hat insgesamt 255 Bücher mit 2361 Illustrationen versehen.

Wenn einer in Bildern denkt wie Kubin, so verlangt das die Dämonisierung des Erscheinungsbildes der Natur durch die Fühlfähigkeit der menschlichen Psyche und das Ahnungsvermögen des Unbewussten. Die Optik des Künstlers ist die des „zweiten Gesichtes“. Eine zweite Wirklichkeit wird erspäht, in der sich der eigentliche Vorgang des Lebens abspielt und den Kubin mit durchlebt und spiegelt, in der sich der eigentliche Vorgang des Lebens abspielt und den dieser mit durchlebt und spiegelt. Die Empfindlichkeit für die dunkle Zone, die nächtliche Helle speist sich aus der aus der Bereitschaft der Zeit für das
Zwielichtige und Doppelsinnige, die die Traum- und Maskenmaler Odilon Redon, James Ensor und eben auch Alfred Kubin hervorbrachte. Das Panische und Psychische offenbart sich hinter dem Sichtbaren als Vision. Es sind Bilder der Larven, Masken, Gesichte, des Halluzinatorischen, die in dieser Welt wie Wirklichkeit erscheinen. Eine umtreibende, kreisende, irre Bewegung führt den Duktus seiner Hand.

Das Mutterrecht des Schweizer Altertumsforschers Johann Jakob Bachofen, das als Ursprung moderner Theorien des Matriarchats gilt, aber auch die abermalige Lektüre von Daniel Defoes Robinson Crusoe haben Hauptmann die Anregung gegeben, den utopischen Roman Die Insel der Großen Mutter zu schreiben, der eigentlich eine Satire auf die Utopie ist. Den Roman, soll Hauptmann gesagt haben, verdanke er auch den „vielen schönen, oft ganz nackten Frauenkörpern“, die er jahrelang bei seinen Sommeraufenthalten auf der Insel Hiddensee beobachtet habe. Mit seinem matriarchalischen Inselstaat suchte er in spielerischer, heiter-ironischer Weise ein Gegenbild der Zivilisation der Gegenwart zu entwerfen.

Was erfahren wir in Hauptmanns Roman? Im Unterschied zum Robinson Crusoe geraten hier hundert europäische „Damen der gehobenen Gesellschaft“ in Seenot und können sich in Booten zusammen mit einem zwölfjährigen Jungen – Phaon – und einer umfangreichen Ausrüstung auf den „heiligen Boden“ einer paradiesisch anmutenden Insel retten. Sie gründen eine Frauenrepublik und wählen als Präsidentin die resolute Berliner Kunstmalerin Anni Prächtel, der ein Komitee von Führungskräften zur Seite steht. Es entwickelt sich ein matriarchalischer Kult mit Miss Laurence Hobbema als Hohepriesterin. Als nach etwa einem Jahr Babette Lindemann schwanger wird, ist zuerst das Rätselraten groß, denn es gibt ja keine Männer auf der Insel. Babette behauptet, dass sie das Kind vom Schlangengott Mukalinda empfangen habe:

Ich weiß nicht, habe ich nun im Fluss gebadet oder nur gedacht, ich wollte die angespeicherte Sonnenglut des Tages hineinschütten. Ob träumend, ob wachend, mich umspülte die Flut, und da war es, wo Mukalinda in Jünglingsgestalt mich bei der Hand fasste. Aber wie stark war diese Hand, obgleich er scheinbar noch ein Knabe war. Und wie furchtbar seine Gewalt, als ich, ich weiß nicht, wie dahin gekommen, ohne mich regen, ohne atmen, ohne schreien zu können, wieder im Zelt auf meinem Bette lag. Ich stöhnte: Gnade! […] Da brach er mit mir durch sieben Himmel. Und im siebten war ein purpurnes, blumenbedecktes Pfühl aufgetan, und dort eben hat die mystische Hochzeit stattgefunden.

Der Mutterkult nimmt dieses Ereignis als Anlass, die neue Religion weiterzuentwickeln. Im Tempel des Kultes können jetzt die Damen sehnsuchtsvoll erwarten, im Tempelschlaf von Mukalinda begattet zu werden. Immer mehr Kinder werden geboren, darunter auch eine große Zahl von Jungen, und diese werden auf das andere Ende der Insel ins Wildermannland verbannt. Phaon, der zu einem gutaussehenden Jüngling herangewachsen ist, kümmert sich rührend um sie. Während die Mütter in die Mythologie zurückgefallen sind – in Matriarchat und unbefleckte Empfängnis –, entwickeln die jungen Männer, hermetisch abgeriegelt, auf Île des Dames eine eigene Kultur, die viel eher einer expansiven konservativen Kultur der westlichen Welt gleicht.

Zum fünfundsiebzigsten Geburtstag der Präsidentin will eine Abordnung aus Mannland an der Frauenweihe teilnehmen, doch die orthodoxe Frauenfraktion setzt sich wieder einmal durch und weist das Ansinnen zurück. Durch die Zurückweisung seiner Geschlechtsgenossen scheint Mukalinda beleidigt zu sein, denn er stellt nun seine nächtlichen Tempelbesuche ein. Die Geburtenrate sinkt rapide und erreicht schließlich den Nullpunkt. Eine Horde begattungswilliger junger Mädchen macht sich auf und davon zu den jungen Männern, was in einer unaussprechlichen Orgie kulminiert. Werden in diesem orgiastischen Finale die Heilserwartungen der Zeit persifliert? Phaon verlässt mit der jungen Dagmar-Diodota in einem Boot die Insel, auf zu neuen Ufern. Der Gott hat sein Reich verlassen und das Matriarchat sein Ende erreicht.

Naturreligiösiät und Erosmystik bestimmen die heitere Ironie des Romanes. Dieser besitzt parodistische Züge, der matriarchalische Inselstaat „Mütterland“ muss sich schließlich dem „Mannland“ bzw. dem geschlechtlichen Eros beugen. Kommt hier auch der Sarkasmus Hauptmanns gegenüber den Emanzipationsbestrebungen der Frau in den 1920er Jahren zum Ausdruck? Emanzipierte Frauen, die politisierten, erfreuten sich nicht gerade seiner Sympathie. Auf alle Fälle scheint er mit dem ideologischen Fanatismus sein Spiel zu treiben. Ironischerweise lässt er gerade den tabuisierten erotischen Trieb der jungen Generation, der schließlich auch die Mütter erfasst, die Grenzen aufbrechen und die ganze Insel in ein orgiastisches Finale untergehen.

Charlotte E. Pauly fertigte schon 1946 Illustrationen zu Hauptmanns Roman Insel der Großen Mutter an, die sie dem Schriftsteller, seit 1933 in dessen Nachbarschaft lebend und mit ihm und seiner Frau Margarete befreundet, auch zeigte. Nach Hauptmanns Tod am 6. Juni 1946 konnte sie mit dem Sonderzug, der den Leichnam des Dichters in die Sowjetische Besatzungszone überführte, aus dem polnisch gewordenen Agnetendorf ausreisen und ließ sich im Ostberliner Stadtteil Friedrichshagen nieder. Die Aquarelle sind erst vor kurzem – im Frühjahr 2020 - veröffentlicht worden. Mit leisen Berührungen streichelt Pauly die derbe Haut der Realität beiseite und macht in den Szenerien ein Licht sichtbar, das halb von außen auf sie zu fallen, halb aus ihnen selbst zu kommen scheint: Das Boot der Schiffbrüchigen, die Südsee-Insel, die regierenden Frauen, der Ruf des Gottes Mukalinda, Iphis begegnet Phaon, die heiligen Mütter im Streit um das Schicksal der Knaben, der Sturm auf Mutterland, der Abschied von der brennenden Insel, die Fahrt zu neuen Ufern. Aquarellfarben, licht und fließend.

Die Malerin bildet Natur und Wirklichkeit nicht ab, abstrahiert sie auch nicht, sondern beschwört ihre eigene Wirklichkeit aus den rhythmischen Grundstrukturen des Raumes, dem traumartig schwebenden Charakter der Bildzeichen im Bildraum, in dem sie auftauchen, sich verändern, in andere Bildzeichen übergehen. Die Gestalten ihrer Bildwelt beherrschen alle Skalen der Empfindung und Stimmung, von melancholischer Traurigkeit bis zur unbeschwerten Heiterkeit. Bilder im Spannungsverhältnis von Ironie und Sentimentalität. Die wenigen Elementarfarben – Blau, Zinnoberrot, Gelb, Grün, Schwarz – sind sparsam eingesetzt, beziehungsweise machen Misch- und Zwischentönen Platz.

Nicht Darstellung, sondern Ausdeutung ist Prinzip der die Bände begleitenden Illustrationen, nicht liebevolles Ausmalen einzelner Vorgänge, sondern Verdichtung zahlreicher szenischer Elemente der Literatur zum Sinnbild. Die Künstler lassen ihren Empfindungen und Visionen freien Lauf, wobei Kubin eine lineare Sprache bevorzugt, während sie bei Pauly tonig und reich an luminaristischen Werten ist.

Im Herbst 2021 wird die Erkneraner Ausgabe fortgesetzt mit der Erzählung Der Ketzer von Soana (1918) und den Radierungen von Hans Meid (1926).

Titelbild

Gerhart Hauptmann: Fasching.
Mit Zeichnungen von Alfred Kubin. Mit einem Nachwort von Stefan Rohlfs.
Quintus-Verlag, Berlin 2020.
55 Seiten, 10,00 EUR.
ISBN-13: 9783947215607

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Titelbild

Gerhart Hauptmann: Die Insel der Großen Mutter oder Das Wunder von Île des Dames. Eine Geschichte aus dem utopischen Archipelagus.
Mit Aquarellen von Charlotte E. Pauly. Mit einem Nachwort von Stefan Rohlfs.
Quintus-Verlag, Berlin 2020.
359 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783947215911

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