Am „Sehnsuchtstropf“
Martin Walsers wundersame Legende „Mädchenleben“
Von Anton Philipp Knittel
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseMan könnte den alten Volkswagen-Slogan auf Martin Walser, den ewig aktuellen und letzten Großschriftsteller seiner Art, abwandeln in: Er schreibt und schreibt und schreibt … Und mit jedem Werk, das Walser seit über sechs Jahrzehnten in bewundernswerter Produktivität und Regelmäßigkeit vorlegt, wird deutlich, wie sehr er dabei Leben in Literatur verwandelt, wie untrennbar Literatur und Leben – besonders in seinem Fall – verbunden sind, und das immer auch, als ein weiterer Aufweis an Kreativität, auf verschiedenen Ebenen. Und mit jedem Werk unterstreicht er einmal mehr: Er ist – „Heilandzack“ nochmal, würden die Zürns seines Œuvres sagen – als „Seel-Sorger der Seinen“, so der Arzt, Maler, Schriftsteller und Theologe Andreas Beck mit Blick auf seine Leserschaft wie auch auf die von Walser unterstützten zahlreichen Autorinnen und Autoren, vor allem ein Liebes-Lebens-Lesensbegeisterter und -begeisternder. Und als solcher ist Martin Walser auch ein „Seel-Sorger“ seiner Figuren: „ich bin nicht ich. / Ich ist nur ein Wort. / Ich bin doch kein Wort. / Ich bin lieber, was ich wäre, wenn ich nicht ich zu sein hätte. / Also, was bitte, wäre ich lieber als ich? / Alles andere als ich.“
So beginnt Walser vor einigen Monaten seinen Roman Gar alles oder Briefe an eine unbekannte Geliebte. Diesem E-Mail-Briefroman folgte kurze Zeit später sein poetischer Spätdienst. Und nun legt Walser, der im März 2020 seinen 93. Geburtstag feiern kann, den neuen Prosatext Mädchenleben oder Die Heiligsprechung vor, einen längst gesponnenen Faden dabei wieder aufnehmend und weiterknüpfend. Denn erste Spuren der Geschichte finden sich bereits in Tagebucheintragungen des Jahres 1961. Und Ende der 1970er Jahre folgt noch der Vermerk: „Mädchenleben als Manuskript hinterlassen und eine Veröffentlichung empfehlen, wenn die Jüngste der Betroffenen 50 ist: 2016. Also doch gleich als Veröffentlichungsjahr: 2017. Angenehm für alle.“
Die rund 90 Seiten umfassende Legende, so die Gattungsbezeichnung im Untertitel, beginnt mit den Sätzen: „Ein Mädchen ist verschwunden. Ich spüre, dass man mich verdächtigt, deshalb bin auch ich verschwunden und schreibe jetzt, was ich weiß, um zu beweisen, dass nicht ich es war, der am Verschwinden des Mädchens schuld ist. Auf jeden Fall nicht mehr als jeder andere.“
Der, der dies notiert, ist der Ich-Erzähler mit dem sprechenden Namen Anton Schweiger, Lehrer für Deutsch und Erdkunde und Untermieter im Hause der Familie Zürn. Zu einer möglichen Verwandtschaft von Ludwig Zürn, „unter anderem Immobilienhändler“, und seiner Frau und den beiden Töchtern Karla und Gerlinde, die sich den Namen Sirte gibt, zu den anderen Zürns aus Walsers Werk – insbesondere zu den beiden Vettern Xaver und Gottlieb – gibt Mädchenleben keine Auskunft.
Zwei Mal war Sirte, die jüngere der beiden Zürn-Töchter, bereits verschwunden, als sei es ein Testlauf für das endgültige Verschwinden. Doch jedes Mal ist sie wieder aufgetaucht. Die zu Beginn des Textes 13-jährige Sirte ist anders als andere Kinder. So versucht sie sich im Sand einzugraben. Sie will gerne fliegen, weshalb ihre Zimmerfenster vergittert werden. Oder sie schaukelt auch anders als die Nachbarskinder, indem sie „auf dem höchsten Punkt verweilt“. Und: „Wenn es stürmte, rannte Sirte in den See und wollte nicht mehr heraus, und wenn sie herauskam, redete sie und war nicht zu unterbrechen, und zwar redete sie da laut und bestimmt und schnell.“
Medizinische Expertisen werden eingeholt. Sie reichen von einem „falsch behandelten Schneidezahn“ bis zu einer „schizophrenen Psychose“ oder einer „Anorexia mentalis et nervosa“. Doch davon will Ludwig Zürn nichts wissen. Im Gegenteil: Er, der nicht nur hin und wieder überfallartig seine Frau schlägt, sie auch vergewaltigt oder sich selbst Kuhfladen ins Gesicht reibt, strebt eine Heiligsprechung seiner Tochter an. Leicht gewinnt er dafür seinen Untermieter Anton Schweiger, der von Sirte mehr als fasziniert ist: „Zu gestehen habe ich, dass ich nach diesem Mädchen eine Sehnsucht habe, wie nach nichts sonst“, notiert er einmal. Umso willkommener empfängt Schweiger Sirtes Briefe und Tagebucheintragungen.
Reicht für die Heiligsprechung zunächst nicht, dass Sirte ihrem gezähmten Raben den fehlerfreien Gesang von „Großer Gott wir loben Dich“ beibringt oder einen ihr von Jesus vermeintlich angesteckten Fingerring vorzeigt, so scheint ein von Sirte bewirktes Wunder die Erfolgsaussichten für Schweiger, der sich dem „Prozess“ der Heiligsprechung annimmt, deutlich zu erhöhen. Denn Sirte lässt sich stellvertretend einige Zeit vom Alkoholiker Ludwig Proll anstelle von dessen Frau schlagen. Ein Martyrium, das Proll jedoch nicht länger aushält; seine sadistischen Quälereien wie auch seine Trinkerei stellt er deshalb ein. Auch für Anton Schweiger ist dies eine „Vertreibung ins Paradies“, bis zum Ende der Geschichte dieser kleinen Heiligen nur noch ihr Satz übrigbleibt: „Ich bin ein Fleck, der trocknet. Ich werde gewesen sein“.
Bis es soweit ist, finden sich in dieser wundersamen Legende einmal mehr so funkelnd-schöne Walser-typische Sätze wie „Wünsche, nicht zu sein. Ich blühe vor Schmerz“; „Kunst ist dazu da, alles schöner zu machen, als es ist“; „durch diese Abstandsgewinnung gestehe ich alles, was ich doch eben durch diese Abstammungsgewinnung verbergen will“ oder „Ich habe mich nicht schöner gemacht, als ich bin. Ich habe mich schöner gemacht, als man sein kann“; „Der Schmerz ist ein Schrank, in den ich gesperrt bin“; „Ich kann allen etwas vormachen, nur mir selber nicht“; „Sehnsucht ist da, bevor sie ein Ziel hat“. Und viele andere mehr. Solche Sätze vermögen es, die Leserinnen und Leser für die Legende über dieses sonderbare Mädchenleben einzunehmen.
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