Ästhetiken von Kultur, Theater, Literaturhäusern und Literaturtourismus
Neuerscheinungen zum Themenkomplex des kulturellen und ästhetischen Lernens
Von Torsten Mergen
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseAm Beginn stehen fünf Leitfragen: „Wie kommen Ästhetiken in Kindheit und Jugend zur Geltung? Welchen Sinn ordnen Kinder und Jugendliche selbst ihren ästhetischen Präferenzen und Praktiken zu? Welche sozialen Funktionen oder Problematiken sind hinsichtlich ästhetischer Darstellungsweisen und Orientierungen rekonstruierbar? Wie werden pädagogische oder marktwirtschaftliche Angebote und Diskurse von Kindern und Jugendlichen adaptiert, transformiert oder auch ignoriert? Mit welchen Gestaltungsspielräumen, Ermöglichungen oder Zwängen leben Kinder und Jugendliche hinsichtlich ästhetischer Ausdrucks- und Erscheinungsweisen?“ Diese erkenntnisleitenden Fragen finden sich im Vorwort des Sammelbandes Ästhetiken in Kindheit und Jugend. Sozialisation im Spannungsfeld von Kreativität, Konsum und Distinktion, das von den beiden Bildungswissenschaftlern Sebastian Schinkel und Ina Herrmann herausgegeben wurde. Die Fragen bilden zugleich die thematische Klammer der im Folgenden näher betrachteten wissenschaftlichen Studien, die ganz heterogene Perspektiven und Herangehensweisen auf ästhetisch-kulturelle Prozesse sichtbar werden lassen.
Der Sammelband bietet in 18 Beiträgen von 21 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern verschiedener Fachrichtungen anregende Annäherungen an die weite, transdisziplinäre Fragestellung. Basierend auf den Diskussionen einer interdisziplinären Tagung im Jahr 2015 am Kulturwissenschaftlichen Institut Essen befassen sich die Aufsätze mit alltagsästhetischen Phänomenen in Kindheit und Jugend. Sie sind drei Sektionen zugeordnet, die die Multiperspektivität sachlogisch strukturieren: „Dinge, Konsum, Geschmack“, „Mode, Körper und Geschlecht“ sowie „Medien und Kommunikation, Gestaltung und Spiel“. Fünf Beiträge untersuchen in der ersten Sektion zu „Dinge, Konsum, Geschmack“ den soziotechnologischen Wandel der letzten Jahrzehnte und die dadurch evozierten Veränderungen im Bereich der zwischenmenschlichen und psychologischen Verhältnisse. Leitthemen sind die Kommerzialisierung des Alltagslebens und die Rolle von Geschmacksfragen für die Akzentuierung sozialer Ungleichheit. Aus soziologischer Perspektive wird die Sektion mit einem Beitrag zu Wandlungen im Bereich der ästhetischen Praktiken und Präferenzen in der Kindheit eröffnet, was vor allem am Beispiel des alltäglichen Umgangs mit Musik erläutert wird. Der Erziehungswissenschaftler Burkhard Fuhs beleuchtet in einem anderen Beitrag zu „Kindergeschmack. Überlegungen zu Ästhetik und Bildung in der Kindheit“, dass Kindergeschmack als „Teil der Kinderkultur“ gesehen wird, die aber durchaus aus der Erwachsenenwelt maßgebliche Impulse und Beeinflussungen erfährt. Insofern stellt Fuhs vier Faktoren heraus, durch die sich die Bedeutsamkeit des kindlichen Geschmacks erschließen lässt. Geschmack wird erstens als „biografischer Anker“ gesehen: „Im Geschmack als soziale Einschätzung ästhetischer Erfahrungen liegen wichtige Erinnerungen an frühe (positive wie negative) biografische Erfahrungen.“ Zweitens ist Geschmack Teil von Generationserfahrungen, die auf gemeinsamen Geschmacksurteilen beruhen (von Essen über Musik bis zur Mediennutzung). Drittens werden die darauf basierenden Kaufentscheidungen im Kontext der Kaufkultur von Kindern ökonomisch relevant, was viertens zu einem Epiphänomen gesellschaftlichen Wandels wird: „Auch heute lässt sich bei Kindern eine Begeisterung für neue Kulturformate, für interaktive Angebote, für Tablets, Apps und Smartphones finden.“
Nicht zuletzt kann Ludwig Duncker in seinem Beitrag zur „Kommerzialisierung kindlichen Sammelns“ nachvollziehbar darlegen, inwiefern diese Aufgeschlossenheit für Neues zu einer stetigen Kommerzialisierung von Kindheit geführt hat. Er stellt mehrere empirische Studien zu kindlichen Sammelthemen (Kommerzielles wie Spielzeug, Schmuck oder Fanartikel, aber auch nichtkommerzielle Fundstücke aus der Natur und Abfalldinge) vor und konstatiert: „Vergleicht man die Untersuchungen aus Leipzig und Gießen, so ergibt sich im Jahr 1994 ein kommerzieller Anteil von 49% und im Jahr 2012/13 ein kommerzieller Anteil von knapp 73%. Das bedeutet einen Zuwachs von ca. 47%.“
Die zweite Sektion zu „Körper, Mode und Geschlecht“ betrachtet in fünf Beiträgen Aspekte von Selbstinszenierung, sozialen Klassifizierungen und (Selbst-)Stilisierungen, verbunden mit sozialer Exklusivität und Abgrenzung. Darunter werden mehrere Aufsätze subsumiert, die Schönheitsvorstellungen und Schönheitspraktiken bis hin zu Kleidungs- und Modestilen thematisieren, wie sie sich nicht zuletzt in Beauty- und Fashion-Videos auf der Internet-Plattform YouTube artikulieren.
Die umfangreichste Sektion mit sieben Beiträgen ist den technologisch-kommunikativen sowie medialen Erscheinungsformen von Kindheits- beziehungsweise Jugendästhetiken gewidmet. Es finden sich fundierte Beiträge zur Medienindustrie, Medienrezeption und medialen Ästhetik, ferner zu spezifischen visuellen Medien wie dem Comic und der Entwicklung von Medienverbünden sowie zum Trend zum Visuellen im Bereich Social Media. Die Philosophin Pauline von Bonsdorff untersucht im abschließenden (und einzigen englischsprachigen) Beitrag des lesenswerten Sammelbandes das ästhetische Weltverhältnis in der frühen Kindheit. Dazu fokussiert sie die Ästhetik des alltäglichen kindlichen Spiels und stellt resümierend fest: „the imagined world and what is taken to be the real one stand in a reciprocal relationship and inform each other. The world of play and the everyday world touch: the everyday gives the materials for play and play modulates and transforms the everyday.“
Um interdependente Prozesse geht es auch im Buch Theater zwischen Ich und Welt der Bielefelder Theaterwissenschaftlerin Ingrid Hentschel. Darin finden sich 15 Beiträge, die die Autorin in den vergangenen 25 Jahren – genauer: zwischen 1989 und 2014 – an verschiedenen Stellen bereits publiziert hat und die nun leicht zugänglich vorliegen. Verbindendes Element der Beiträge ist die Leitfrage nach der Verortung der gegenwärtigen Theaterkunst im Leben und Fühlen junger Menschen: „Hat das herkömmliche Theater für Kinder und Jugendliche, verantwortet und gespielt von Erwachsenen und professionellen Schauspielern tatsächlich ausgedient“? Zur Beantwortung dieser Frage richtet sie den „Blick auf gesellschaftliche und kulturelle Veränderungen und die Entwicklung der Theaterkunst mit ihren spezifischen Stücken, Spielweisen und ästhetischen Konzeptionen“.
Der Band ist in vier Abschnitte gegliedert, die sich zunächst zielgruppenorientiert mit dem Theater für Kinder und dem Jugendtheater beschäftigen, ferner mit dem Verhältnis von Theater und Neuen Medien sowie Fragen der Vermittlung im Kontext von Theaterspielen und Theatersehen beziehungsweise von performativen Formaten, wodurch vorrangig Fragestellungen der Theaterpädagogik tangiert werden. Programmatisch zu lesen ist im ersten Abschnitt der Beitrag „10 Thesen für eine Ästhetik des Spiels“. Die zweite These stellt den Bezug zum Kindertheater her: „Es gibt eine kindliche Sicht der Welt. Die betrifft nicht so sehr das, was gesehen und wahrgenommen wird, als das wie, die Art und Weise, in der die Realität erfahren wird.“ Weiterhin betont Hentschel mit Blick auf spezifische Sozialisationsprozesse: „Das Kind lernt die Wirklichkeit kennen, indem es sie im Spiel reproduziert, sie aneignet. Aber es eignet sie an, indem es sie seinen subjektiven Fähigkeiten und Wünschen gemäß konstruiert und erfindet. Was auch geschehen sein mag, das Kind versucht sich durch das Spiel in die Position eines Subjekts zu bringen.“
Die Beiträge zum Jugendtheater verweisen einerseits auf dessen Genese: Begonnen habe es „mit den Stücken der Roten Grütze und des Grips-Theaters, die in den siebziger Jahren ihre Theaterproduktionen für Kinder durch entsprechend für ein Publikum von Jugendlichen ausgerichtete Stücke ergänzten.“ Anderseits wird themenfokussierend problematisiert, ob das heutige Jugendtheater als Thementheater dem Anspruch auf Aktualität gerecht werde: „Es formuliert alle brisanten Themen der Gesellschaft: Vom Rechtsradikalismus, der Auseinandersetzung mit dem Dritten Reich bis hin zu Fragen der Ausländerintegration bzw. Problemen des Fremdenhasses […]. Warum aber – diese Frage muss erlaubt sein – sind das alles Themen für Jugendliche?“
Im dritten Abschnitt finden sich differenzierte Betrachtungen zu der Problemstellung, wie Medien und Digitalisierung die Möglichkeiten des Theaters weiten respektive beschränken. Die Autorin konstatiert unter anderem eine „offensichtliche Verunsicherung durch die neuen Technologien und ihre möglichen Auswirkungen auf unsere Lebenswelt“, wobei es durchaus Schnittmengen zwischen dem Theater und den virtuellen Welten gebe.
Der vierte Abschnitt widmet sich der Frage, inwiefern das Theater als Lernort und Ort der kulturell-ästhetischen Bildung verstanden und instrumentalisiert werden kann. Mehrere Texte haben dialektischen Charakter, sie zeigen sowohl Chancen als auch Grenzen des theaterpädagogischen Engagements auf. So hebt Hentschel beispielsweise hervor:
Wir sollten, wenn wir das Theater als Lernort begreifen wollen, es im wahren Sinne des Wortes als anthropologischen Ort begreifen, in dem der lebendige Mensch das Zentrum bildet. […] So wie das Theater sich zwischen den beiden Polen Zuschauer und Bühne, Phantasie und Realität, Kunst und Leben, Erkenntnis und Erlebnis bewegt, so auch zwischen Sinn und Sinnlichkeit.
Alle Beiträge verweisen exemplarisch auf zahlreiche Theaterproduktionen und sind hochgradig problemorientiert, wobei der Band prägnante und bisweilen explizit kritische Analysen zur gegenwärtigen Kulturentwicklung, zur genuinen Ästhetik sowie zu Theater und Spiel enthält.
Einem Teilaspekt des zeitgenössischen Kinder- und Jugendtheaters gewidmet ist die Studie Produktionsräume im zeitgenössischen Kinder- und Jugendtheater von Caroline Heinemann. Hervorgegangen aus dem Promotionskolleg „Produktionsräume ästhetischer Praxis“, untersucht sie in ihrer Dissertation die Adressatenorientierung des Theaters für Kinder und Jugendliche an ausgewählten Beispielen und arbeitet schlüssig heraus, „auf welche Weise die Publikumsspezifik praktiziert wird“. In der Arbeit thematisiert Heinemann den Begriff „Produktionsraum“, um zu zeigen, wie die kindlich-jugendlichen Zuschauer ins Zentrum der Theaterproduktion gerückt werden. Anhand ausgewählter Theaterinszenierungen werden somit zentrale Aspekte der gegenwärtigen Theaterproduktion analysiert. So ist das zweite Kapitel der Studie den aktuell zu findenden Produktionsmodellen von Kinder- und Jugendtheater in Deutschland gewidmet, wobei vorrangig deutlich wird, welche Spezifika jeweils die Programmatik, die ästhetische Konzeption und die Gestaltung des Theaterraums aufweisen:
Das Modell des „Staatstheaters für Kinder“ wird am Beispiel des „Theaters an der Parkaue“ in Berlin und das Kinder- und Jugendtheater als vierte Sparte anhand des „Jungen Schauspielhauses“ am „Deutschen Schauspielhaus Hamburg“ untersucht. Die Produktionsmodelle der freien Szene sind mit drei Beispielen vertreten, wobei das „Grips Theater“ in Berlin aufgrund seiner Größe und historischen Sonderrolle in den Blick genommen wird. Das „Helios Theater“ in Hamm wird exemplarisch als kleineres, freies Theaterhaus, das außerhalb der Kulturmetropolen angesiedelt ist, untersucht und das „Theater Kormoran“ als Beispiel für eine junge, freie Gruppe ohne festen Produktions- und Spielort herangezogen.
Das Zwischenergebnis von Heinemann lässt aufhorchen, denn sie belegt eine dezidiert publikumsspezifische Herangehensweise aller Theaterstätten, wobei es deutliche Differenzierungen zwischen staatlichen und freien Bühnen gibt. Alle Institutionen nehmen einen Bildungsauftrag wahr, wobei Vermittlungsarbeit „zunehmend als Kunstform begriffen und stetig weiterentwickelt wird“.
Das umfangreiche dritte Kapitel untersucht ausgewählte Aufführungen für Kinder zwischen zwei und zehn Jahren und entwickelt auf dieser Basis eine Typologie von Produktionsräumen im zeitgenössischen Kindertheater (Kindertheater im großen Saal, Kindertheater als theatrale Installation und Kindertheater am theaterfremdem Alltagsort). Es finden sich deskriptive, analysierende und interpretierende Ausführungen zu Inszenierungen beziehungsweise theatralen Installationen wie „Reckless. Steinernes Fleisch“, „Krabat“, „Johnny Hübner greift ein“ oder „Kalejdoskop“.
Im abschließenden vierten Kapitel, dem „Gesamtresümee“, postuliert die Autorin die hervorgehobene Bedeutung des Spielortes und hält fest, „dass die Vielfalt der Spielorte mit einer Vielfalt der künstlerischen Ausdrucksmittel und Formen verbunden ist.“ Mit Fokus auf die Zielgruppe Kinder beziehungsweise Jugendliche kann Heinemann in ihrer sehr analytisch angelegten und um begriffliche Präzision bemühten Studie zeigen, „dass die Theatermacher von einer Lust am Mitspiel der jungen Zuschauer ausgehen und immer wieder Situationen herstellen, in denen sich die Zuschauer verbal oder auch physisch handelnd am theatralen Geschehen beteiligen können“.
Weniger kinder- und jugendzentriert, dafür umso alltagsästhetischer angelegt ist die Studie mit dem Titel Begehbare Literatur von Raphaela Knipp, die sich dem wachsenden Markt des Literaturtourismus annimmt. Verstanden als „Rezeptionspraktik im Umgang mit literarischen Texten“ widmet sie sich in ihrer Siegener Dissertation einem bislang kaum bearbeitetem Forschungsgebiet, das sie folgendermaßen umschreibt: „Den Literaturtourismus zu untersuchen, bedeutet also vor allem auch, sich mit (Alltags)Praktiken von ‚gewöhnlichen‘ Lesern im Umgang mit Literatur jenseits ihrer Festschreibung durch literaturtheoretische Lese- und Lesermodelle zu befassen.“ Dazu geht sie von der These aus, dass literarische Texte den Lesern spezifische „geographische Imaginationen“ anbieten, die durch literaturtouristische Angebote aufgegriffen werden. Drei Leitfragen prägen die konzise Studie: Zunächst interessiert sich Knipp für die literarische Darstellung von Handlungsräumen und Schauplätzen, die Interesse an einer Realbegegnung im Leser evozieren. Sodann geht es ihr um die Instrumente und Strategien zur Konstruktion von „literaturtouristischen Erlebnisräumen“ und schließlich wendet sie sich den praktischen Effekten von Literaturreisen auf die Leser zu: „Worin besteht der ‚Mehrwert‘ der Ortserfahrung gegenüber der ‚bloßen‘ Imagination beim Lesen?“
Nach einer Reflexion und Diskussion des Forschungsstandes und der Klärung der analytischen Kernbegriffe schildert sie komprimiert die Geschichte des Literaturtourismus im europäischen Kontext, vor allem als Leserreise in Form einer „Grand Tour“. Den Schwerpunkt der Studie bilden drei Fallstudien: zu Ulysses von James Joyce im Stadtraum von Dublin, zu den Buddenbrooks. Verfall einer Familie mit Fokus auf das Buddenbrookhaus in Lübeck und zum „Eifel-Krimi“ als Exempel für den ländlichen Raum, wobei die Autorin jeweils literaturgeographische und -topografische Lesarten vorstellt und diese dann durch realtopografische Ortserkundungen spiegelt. Methodisch basiert die Studie somit auf einer ethnographisch-praxeologischen Rezeptionsforschung. Darunter versteht Knipp Verfahren von teilnehmender Beobachtung „im Rahmen von literaturtouristischen Stadtrundgängen oder musealen Aufbereitungen literarischer Orte […] sowie Interviews mit Literaturreisenden als auch mit lokalen Akteuren“. Der Erkenntniswert der Arbeit, die neben einer methodologischen Innovation – der Skizzierung einer praxeologischen Literatur- und Rezeptionsforschung – auch thematisch weitgehend Neuland betritt, besteht vor allem aus zwei Beobachtungen zur Alltagsästhetik: Einerseits zeigt und belegt die Autorin empirisch, dass es sich „bei Begehungen der Orte durch Literaturtouristen sowie den dabei stattfindenden (Wieder-)Aneignungen literarischer Texte aber auch um ästhetisch-kreative Praktiken [handelt], die den Blick auf das Gelesene neu bzw. anders perspektivieren können.“ Anderseits liefert sie ein schlüssiges Erklärungsmodell für einen Rezeptionsprozess von Literatur, indem sie darauf verweist, „dass die Praktik gerade in dem Verhältnis von Medium (Text) und Imagination begründet liegt.“ Auch bei Reisen zu realen Schauplätzen fiktiver Literatur muss der Besucher das Gelesene imaginieren, es kommt durch das Ortserlebnis zu einer „Form der Aneignung, die mit der Differenz von Realität und Fiktion, von An- und Abwesenheit spielerisch-produktiv umgeht.“
Eine weitere aktuelle Studie verdient im Kontext von Alltagsästhetik und Sozialisation beziehungsweise Enkulturation besondere Aufmerksamkeit: Susann Sophie Schmitt hat sich differenziert und akribisch mit der Vermittlung und Präsentation von Literatur in Literaturhäusern auseinandergesetzt und dabei erstmals die kinder- und jugendliterarischen Aktivitäten ausgewählter Literaturhäuser im deutschsprachigen Raum untersucht. Ihre Dissertation Nachwuchs für die Literatur, entstanden an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main, beruht vor allem auf qualitativen Interviews mit Programmverantwortlichen in den entsprechenden Bildungsstätten sowie auf Auswertungen von Angebotsprogrammen. Schmitt betont in ihrer kenntnis- und materialreichen Darstellung, dass Literaturhäuser „zum Zeitpunkt ihrer Gründung dem wachsenden Bedürfnis einer literaturaffinen gesellschaftlichen Gruppe nach[kommen], einen Ort für das Aufeinandertreffen und vor allem das persönliche Gespräch mit zeitgenössischen Autoren, aber auch anderen Literaturinteressierten vorzufinden.“ Historisch sieht sie die Institutionen in einer Traditionslinie mit den Lesegesellschaften und literarischen Salons des 18. und 19. Jahrhunderts, wobei sie herausarbeitet, dass sich die Literaturvermittlung im 20. Jahrhundert institutionalisiert und verstetigt habe: „Die Zeit zwischen dem Ende der 80er und dem Anfang der 90er Jahre kann als eine des ‚Aufbruchs‘ betrachtet werden“, was auch mit Konzepten von Stadtmarketing und Kulturtourismus verbunden gewesen sei. 1986 ist beispielsweise das erste Literaturhaus in Berlin gegründet worden, dem sich bald andere Städte anschlossen. Das ist nach 2000 verknüpft mit der Idee, auch Kindern und Jugendlichen verstärkt die Teilhabe an Literatur respektive Kultur zu ermöglichen. Das dafür gefundene Label „Junges Literaturhaus“ ist erstmals 2007 in Köln etabliert worden, was zu zahlreichen Folgeangeboten führte. Dafür benötigten die entsprechenden Literaturhäuser spezifische Veranstaltungsformate wie Autorenlesungen, Schreibwerkstätten, Ausstellungen sowie Pervasive Games, also multimediale Partizipationsmöglichkeiten mit Spielcharakter. Wichtige Forschungsgegenstände bilden insofern die Aktivitäten des sogenannten Netzwerks der Literaturhäuser, die eigene Formate für die diversen Zielgruppen kreiert haben. Literaturhäuser in Frankfurt, München, Berlin, Köln, Stuttgart, Hamburg, Rostock, Leipzig, Salzburg, Graz und Zürich sowie Angebote in Wiesbaden und Kiel werden deskriptiv vorgestellt und die jeweiligen Programme sowie Angebotsstrukturen empirisch ausgewertet hinsichtlich der Rahmenbedingungen, der anvisierten Zielgruppen und der finanziellen Rahmenbedingungen.
Methodisch greift die Studie auf leitfadengestützte Interviews und Methoden der qualitativen Inhaltsanalyse sowie die Grounded Theory zurück. Einige Ergebnisse der detailreichen Studie lassen Spezifisches erkennen, etwa wenn Schmitt konstatiert: „Während sich die Erwachsenenprogramme der Häuser sehr viel stärker an Zahlen messen lassen müssen, scheint es im kinder- und jugendliterarischen Bereich eine Tendenz hin zu kleinen und dafür effektiv gestalteten Werkstattformaten zu geben, bei denen im Schnitt mit 15 Schülerinnen und Schülern gearbeitet wird.“ Ferner stellt sie in ihrer Arbeit ausgewählte Kinder- und Jugendprogrammformen der sogenannten jungen Literaturhäuser vor, unter anderem Schreib- und Textwerkstätten oder Bilderbuchkinos. Aber auch Probleme und Perspektiven eines spezifisch adressierten Programms für Kinder und Jugendliche werden ausführlich thematisiert: Einerseits stellt Schmitt eine „relativ geringe Anzahl kinder- und jugendspezifischer Veranstaltungen je Haus“ als Beleg für eine randständige Position der Kinder- und Jugendliteratur im Literaturbetrieb fest, anderseits werden Abstimmungs- und Koordinationsprobleme beziehungsweise organisatorische Herausforderungen im Umgang mit Schulen deutlich. Darüber hinaus zeigt die Autorin, dass die Institution Literaturhaus „nicht primär darauf abzielt, Kinder- und Jugendliche zu besseren Lesern zu machen, sondern vielmehr ihre Motivation, die Genuss- und Rezeptionsfähigkeit beim Lesen zu steigern.“ Aus der Angebotsstruktur und Auswertung der Interviews leitet Schmitt abschließend drei Typen von jungen Literaturhäusern, die sich durch eine gewisse Homogenität auszeichnen, ab: Es existieren gegenwärtig spezifische Angebote in Form von eingetragenen Körperschaften, ferner als längerfristig angelegtes „nachhaltiges Projekt“ und drittens als prägnante, zielgruppenorientierte Programmform. Mit all diesen Maßnahmen gelinge es den Literaturhäusern sukzessive, Angebote für Kinder und Jugendliche vorzuhalten beziehungsweise diese spezifisch zu adressieren, auch durch Berücksichtigung von intentionaler Kinder- und Jugendliteratur. Das abschließende Fazit der Forscherin verweist auf weiterhin bestehende Desiderate:
Im Zusammenhang mit Fragen nach der anvisierten Zielgruppe, Kooperationspartnern beziehungsweise Drittmittelgebern und den Kommunikationskanälen, mit denen man ein junges Publikum zu erreichen gedenkt, haben sich innerhalb des Netzwerks der (Jungen) Literatur teilweise zwar gute Ansätze herausgebildet, von einer einheitlichen Umsetzung beziehungsweise einer gemeinsamen Zielsetzung sind die Häuser jedoch weit entfernt.
Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die fünf betrachteten Bücher methodisch vielfältig und äußerst heterogen Prozesse, Phänomene und Institutionen der kulturellen Bildung fokussieren. Dabei reicht die Spannbreite von institutionalisierten Einrichtungen wie Literaturhäusern und Staatstheatern bis hin zu freien Formen wie Laientheatern oder touristischen Reisen. Deutlich wird jedoch in allen Bänden, dass – mit den Worten von Sebastian Schinkel und Ina Herrmann – ein Spannungsverhältnis besteht zwischen „ästhetischer Orientierungssuche und erfahrungsbasierter Routinisierung“. Das kann man auch den gewählten Untersuchungsperspektiven entnehmen, die – tendenziell empirisch arbeitend – sowohl Angebots- als auch Nutzerperspektiven einnehmen, wodurch facettenreiche Einblicke in ästhetische Gestaltungs- und Rezeptionsformen möglich werden.
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