Viel Gesinnungsethik statt sozioökonomischer Analyse

Volker M. Heins fordert „Offene Grenzen für alle“

Von Maximilian LippertRSS-Newsfeed neuer Artikel von Maximilian Lippert

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In der Gründungssage Roms zeichnet Romulus mit einer Pflugschar das promerium, die heilige und unüberwindbare Umgrenzung des Palatins, und legt notdürftig eine erste Mauer zur Sicherung des Gebiets an. Sein Bruder Remus springt daraufhin, um Romulus zu verhöhnen, über die noch niedrige Grenzanlage in das Innere der Siedlung. Hierfür wird er auf der Stelle erschlagen und dient fortan als Abschreckung für Missachtungen der Stadtgrenze. Diese kurze Episode aus der römischen Mythologie zeigt exemplarisch das grundlegende menschliche Bedürfnis nach räumlicher Zuordnung und Aneignung sowie nach territorialer Begrenzung und Abgrenzung.

Bordering ist eine menschliche Eigenschaft, um deren Deutungshoheit biologistische, soziobiologische und sozialkonstruktivistische Theorien ringen und welche sich primär in sozialen und kulturellen Trennlinien manifestiert, jedoch aufbauend darauf in politischen Grenzen ihren wohl markantesten materiellen Ausdruck findet. So begleiten verschiedene Territorialitätsmuster mitsamt Grenzen menschliche Gemeinwesen seit der Ur- und Frühgeschichte. Auch das mittelalterliche Mehrebenensystem von Zentralmacht, Landesherrschaft und adliger Grundherrschaft, der frühneuzeitliche Flächenstaat sowie der Nationalstaat des 19. und 20. Jahrhundert besaßen Grenzen, deren Regime situativ variieren konnte und dabei stets der Logik politischer und ökonomischer Interessens- und Kräfteverhältnisse unterlag – nicht zuletzt auch in Bezug auf die Regelung von Personenverkehr und Migration.

Dieser Funktion von Grenzen widmet sich der Politologe Volker M. Heins in seinem Buch mit dem programmatischen Titel Offene Grenzen für alle, attestiert einem solchen Zustand in Anbetracht der seit einigen Jahren lauter werdenden Forderungen nach Wiedererrichtung oder Verstärkung von Grenzanlagen jedoch gleich zu Beginn: „Nichts könnte dem Zeitgeist mehr widersprechen“. Denn nachdem durch den Fall des Eisernen Vorhangs und der zunehmenden europäischen Integration zumindest in den Wohlstandsgesellschaften des globalen Nordens der Anschein erweckt worden war, Grenzen verlören allgemein an Bedeutung, sind diese vor allem in Anbetracht von weltweit anwachsenden Migrationsbewegungen heute wieder in aller Munde, scheiden die Geister und entscheiden Wahlkämpfe. Der 2015 von Ungarn erbaute Zaun an den Grenzen zu Kroatien und Serbien sowie der vom ehemaligen US-Präsidenten Donald Trump projektierte und schließlich nicht vollendete Ausbau der Anlagen an der Grenze zu Mexiko sind nur zwei prominente Beispiele von vielen Grenzverstärkungen weltweit mit dem Ziel einer erhöhten Undurchlässigkeit.

Aufgrund der anhaltenden migrationspolitischen Debatte wähnt Heins die Menschheit aktuell in einer „kritischen Übergangsphase der globalen Migrationsgeschichte“, in welcher es gelte, das Verhältnis zwischen staatlicher Souveränität und menschlicher Mobilität neu auszuhandeln. Vor dem Hintergrund der skizzierten Diskurslage formuliert der Autor sein „leidenschaftliches Plädoyer“ für „offene Grenzen als Perspektive und Leitmotiv jeder Migrationspolitik“. Angesichts eines scheinbar „nicht zu bändigende[n] kollektive[n] Mobilitätsbedarf[s]“ stelle dies nicht mehr und nicht weniger als eine „notwenige Utopie“ dar.

Den Ausgangspunkt von Heins’ Ausführungen bildet die ernüchternde Bestandsaufnahme der gegenwärtigen Ordnung globaler Migrationskontrollen und Einreisebeschränkungen. Während ein kleiner Teil der Menschheit nahezu frei reisen und sich an beliebigen Orten auf der Welt niederlassen kann, sei der andere und wesentlich größere Teil geradezu „zur Sesshaftigkeit verdammt“. Geschlossene Grenzen führen daher nicht nur zu konkretem Leid an den immer zahlreicher werdenden und stärker befestigten Zäunen, sondern seien außerdem nicht ohne grundsätzliche Ungerechtigkeit und eine sie legitimierende Ideologie der Ungleichheit zu haben. Dabei richtet Heins seinen Blick auch in das Innere jener „‚weiße[n] Parallelgesellschaft‘ […], die sich von der übrigen Menschheit abschottet“, wo sich die Abgrenzungen nach außen auch in den Köpfen der Menschen und konkret gegenüber Minderheiten fortsetzen, wodurch schließlich gar die Demokratie selbst in Gefahr gerate.

Neben dem Verweis auf die oft beschworene „wirtschaftliche und demographische Notwendigkeit von Einwanderung“ in die alternden Gesellschaften westlicher Industriestaaten argumentiert Heins vor allem ethisch und anthropologisch. Mit dem englischen Philosophen Thomas Hobbes nimmt der Autor ein elementares Recht des Menschen auf Bewegungsfreiheit an, das „tief in der Natur verankert“ sei und seinem Träger nicht genommen werden dürfe, solange dieser nicht die Rechte eines anderen einschränkt. Die geistige Tradition, in welche er sich stellt, hebt Heins auch an anderen Stellen hervor, beruft sich auf die „natürliche Freiheit und Gleichheit aller“ sowie „universalistische Normen“, betont dabei besonders die „individuellen Freiheitsrechte[]“. Von hier aus entwickelt er drei zentrale Thesen, deren erste besagt, dass es allen Menschen erlaubt sein müsse, den sie umgebenden gesellschaftlich produzierten Zuständen zu entfliehen, „um ein anderes, besseres […] Leben zu beginnen“. Die zweite These lautet, dass Menschen dieses natürliche Recht auf Bewegungsfreiheit nicht nur besitzen, sondern dass ihnen prinzipiell auch „an diesem Recht gelegen ist“. Sie seien daher bereit, sich das Recht im Zweifelsfall auch gegen Staaten zu erkämpfen, wie verschiedene Beispiele aus der Menschheitsgeschichte zeigen. Aus diesem Grund sei eher die Vorstellung, Einwanderung beliebig steuern oder stoppen zu können, illusorisch, die Utopie offener Grenzen hingegen geradezu realistisch. Und schließlich geht es in der dritten These um jenen Zusammenhang von der Verwirklichung umfassender globaler Bewegungsfreiheit und der Zukunft der Demokratie. Indem demokratische Verfassungen sich bei der Gewährung von Grundrechten nicht nur auf den Staatsbürger, sondern auch stets auf den Menschen als solchen beziehen, seien sie mit geschlossenen Grenzen unvereinbar. Die Idee exklusiver Gesellschaften sei somit ein „im Kern faschistischer Mythos“, dem die Utopie offener Grenzen wie eine Art „notwendige[r] Schutzimpfung“ beizukommen habe.

Indem Heins Mobilität als menschliches Grundbedürfnis beschreibt, folgt er dem Narrativ einer seit gut zwei Jahrzehnten boomenden Migrationsforschung. Dieses spiegelt indes nicht die Erkenntnis wider, dass Sesshaftigkeit ab der Entwicklung des Ackerbaus ebenso zur menschlichen Normalität zählt wie räumliche Bewegung, und repräsentiert häufig vielmehr den eigenen Blick auf die Gesellschaft als die Wirklichkeit der allermeisten Menschen. So betreffen grenzüberschreitende Wanderungen pro Jahr schließlich weit weniger als ein Prozent der Weltbevölkerung. Mobilität, die Heins zu den „fundamentalen menschlichen Bedürfnissen“ zählt, ist in der Regel eher Ausdruck eines strukturellen Mangels am Ort, das Ergebnis von in vielfältiger Weise stattfindender Zerstörung der Subsistenz und wesentlich seltener des individuellen Verlangens, „den Ort zu wechseln, in die Ferne zu schweifen, andere Gegenden zu erkunden und sich bei Gefallen dort niederzulassen“, wie der Autor romantisierend formuliert. Auch an anderen Stellen warten verwirrende historische Argumentationen auf, etwa wenn es heißt, die heutige globale Migrationsordnung wäre von „Menschen in Europa und anderen Teilen der Welt vor 150 oder 200 Jahren als eine Form der Freiheitsberaubung verstanden“ worden. Dabei entstanden in Europa teilweise bereits im 17. Jahrhundert staatliche Passsysteme, welche neben Inlandsreisen außerdem die Einreise von Ausländern aus sicherheits- sowie die Ausreise von Inländern aus wirtschaftspolitischen Gründen reglementieren konnten. Und auch als Mitte des 19. Jahrhundert die Reisefreiheit in den ersten Verfassungen niedergeschrieben wurde und sich schnell supranationale Reiseräume bildeten, ergab sich daraus noch lange kein Recht auf dauerhaften Aufenthalt.

Heins nährt sich dem Problemkomplex von verschiedenen Seiten, betrachtet unterschiedliche Praktiken wie Abschieben oder Schleusen, setzt sich mit den Narrativen der Migrationskritiker auseinander und lässt außerdem Migranten, die er selbst getroffen hat, zu Wort kommen. Die zahlreichen anschaulichen Beispiele, eine große Informationsfülle und interessante historische Exkurse sorgen für eine abwechslungsreiche Lektüre. Eine strukturell-sozioökonomische Untersuchung des Problems wird indes kaum gewagt, obwohl doch die Chance auf ein besseres Leben zumeist mit der Möglichkeit, Arbeit zu finden, verbunden ist. So lässt sich Migration auch als ein unmittelbar mit der kapitalistischen Produktionsweise verbundener Tatbestand beschreiben, der dazu führt, dass Arbeitskraft in die entwickelteren Regionen und Länder gezogen wird. Sie dient aus Sicht des Kapitals der Stabilisierung der Profite, der Erwirtschaftung von Extraprofiten sowie der wirtschaftlichen Expansion. Gleichzeitig wird die so geschaffene landwirtschaftliche, industrielle und auch zunehmend dienstleistende ‚Reservearmee‘ genutzt, um den Konkurrenzdruck auf den Arbeitsmärkten zu erhöhen sowie die Arbeiterklasse ethnisch und kulturell zu segmentieren und so in ihrer politischen Handlungsfähigkeit zu hemmen.

Schließlich kann Migration je nach Interessenslage, bedingt durch ökonomische Konkurrenz, Produktionsverhältnisse, technologische Entwicklungen und Kapitalverwertungserfordernisse von Unternehmen, gesteuert und gar herbeigeführt werden – durch Zerstörung von Subsistenz, Zoll- und Handelspolitik sowie nicht zuletzt militärische Interventionen. Heins verkennt vielmehr diese grundlegenden Zusammenhänge, wenn er „den europäischen Eliten“ ein grundsätzliches Interesse daran unterstellt, Migration nach Europa zu unterbinden. So wurde etwa die von Heins als „wirtschaftliche Notwendigkeit“ bezeichnete Anwerbung der Gastarbeiter seit Mitte der 1950er Jahre von der Adenauer-Regierung explizit als Mittel gesehen, den Lohnforderungen der Gewerkschaften entgegenzutreten, und die von ihm positiv konnotierte EU-Osterweiterung beförderte neben Migrationsbewegungen zudem Bevölkerungsrückgang, eine Hemmung der ökonomischen Entwicklung sowie die Abwertung der Währung in den Herkunftsländern.

Überhaupt befinden sich die westlichen Industriestaaten seit den 1980er Jahren in einer Transformationsphase, in deren Zuge neben der nationalstaatlichen Politik auch die Staatsgrenzen immer stärker an Bedeutung verlieren und zugunsten von Organisationslogiken globaler Güterketten und einer Global Governance zurücktreten. Die Prinzipien von freiem Kapital-, Waren-, Dienstleistungs- und Arbeitskräfteverkehr werden dabei vom ideologischen Beiwerk einer Diversity-Programmatik, die den Blick auf Deregulierung und Privatisierung verdeckt, sowie einem menschenrechtlich argumentierenden Flankenschutz für globale Ausbeutungsstrukturen begleitet. Eine Welt der offenen Grenzen bedeutete in letzter Konsequenz, dass Menschen endgültig wie Waren von den Produktionsstandorten angezogen und abgestoßen würden.

An jener Affirmation von Migration und der Verklärung ihrer Ursachen arbeitet schließlich auch Heins mit. Soziale Verwerfungen in den Gesellschaften sowohl der Herkunfts- als auch der Aufnahmeländer blendet er weitestgehend aus. Dem Stichwort ‚Braindrain‘ werden die individualistische Maxime der Selbstverwirklichung sowie die persönlichen Motive des Migrationswilligen entgegengehalten, „über die Staaten nicht zu richten haben“. Wer das anders sehe, falle „hinter die Tradition der Aufklärung zurück“. Den wirtschaftlich nutzbringenden Charakter von Migration hebt Heins nicht nur hervor, sondern führt ihn nicht zuletzt auf „Risikobereitschaft, Findigkeit und Mut“ der Migranten zurück. Und wo Heins eine grundsätzliche Korrelation von Migration und Demokratisierung behauptet, nimmt er nicht zur Kenntnis, dass es im oben beschriebenen Rückbau des nationalstaatlichen Bezugsrahmens für Politik und Ökonomie demokratische Institutionen sind, die zugunsten einer globalen Ordnung im Interesse des Kapitals kontinuierlich an Bedeutung verlieren. Oft wird gerade auf den Zusammenhang von demokratischer Verfasstheit sowie auch Wohlfahrtsstaatlichkeit auf der einen und dem Modell des Nationalstaates auf der anderen Seite verwiesen. Für Heins stellt dieser allerdings ein „Monstrum“ dar, dessen struktureller „Geburtsfehler“ in „der unberechtigten Bevorzugung der eigenen Bürger bei gleichzeitiger Abwertung aller anderen“ begründet sei. Und so liegt beim Demokratiekonzept des Autors schließlich auch dessen Forderung nahe, „dass bei der Entwicklung neuer Mobilitätsprogramme […] nicht allein die Aufnahmestaaten bestimmen, sondern Außenstehende ebenfalls mitwirken“.

Heins schreibt aus der Perspektive eines „weltbürgerliche[n] Humanitarismus“ und gegen „Populisten und Wutbürger“. Die von ihm hier gezogene Grenze ist bekannt und verläuft zwischen den Gruppierungen, die der britische Journalist David Goodhart als anywheres und somewheres bezeichnet hat, zwischen dem Bekenntnis zum Kosmopolitismus und einer Welt des global village auf der einen sowie der Welt des tatsächlichen Dorfes oder der Kleinstadt und dem Bekenntnis zu Heimat und überschaubaren Verhältnissen auf der anderen Seite. Dass Grenzen für letztere Gruppe keineswegs nur „Identitätsprothesen“ darstellen, sondern Halt und Orientierung gewähren, vermag der Autor nicht recht einzusehen, obgleich er sich mit dem französischen Philosophen Jean-Jacques Rousseau dem aufgeklärten Anspruch verschreibt, „die Menschen so zu akzeptieren, wie sie sind“. Bei Heins wird diese Grenze hingegen weiter aufgerüstet, indem ein moralinsaurer und oftmals nicht konstruktiver Diskurs fortgeschrieben wird. Inwiefern beispielsweise der auch von Heins angesprochene Völkermord des Deutschen Reiches an den Herero und Nama kurz nach der Jahrhundertwende oder der Überfall auf Polen gute 30 Jahre später für die Praxis offener Grenzen spricht, mag sich nicht erschließen, deuten diese Ereignisse doch vielmehr auf die Notwendigkeit hin, allen territorialen Gruppen die Möglichkeit zu gewähren, eine Politik der Grenze souverän im eigenen Sinne zu betreiben.

Eine im wahrsten Sinne des Wortes radikale Behandlung des Problems hätte stattdessen den Migrationsströmen entlang den Pfaden der weltweiten Ungleichheit zu folgen und die hauptsächlichen Ursachen für menschliche Mobilität zu untersuchen. Die Forderungen lauteten dann: Konzepte für ökonomische Subsidiarität, eine Wirtschaftspolitik der fairen Besteuerung, ein Zurückdrängen des Waffenhandels und ein Ende des Raubzuges an nichterneuerbaren Energiequellen, schließlich eine Abkehr vom Theorem des wirtschaftlichen Wachstums als einzig möglichem Entwicklungsweg. Nur so ließen sich Ungleichheit, Ungerechtigkeit und Leid an der Wurzel bekämpfen. Denn schließlich behält der Autor hierin Recht: „Das sollte uns das Leben der anderen wert sein.“

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Volker M. Heins: Offene Grenzen für alle. Eine notwendige Utopie.
Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2021.
224 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783455010671

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