Der blinde Fleck in den kleinen Himmeln

Brygida Helbig erzählt über deutsch-polnische Identitäten

Von Monika WoltingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Monika Wolting

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Spiel „Kleine Himmel“ gehört nicht standardmäßig in jede Kindheit. Aber Menschen, die aus Ostpolen stammen, berichten über ein Kinderspiel, das darin bestand, aus Glasscherben kleine Mosaiken zu legen  und sie an geheimen Stellen in die Erde zu vergraben. Die Suche nach den „kleinen Himmeln“ der Vergangenheit, die tief, nicht unbedingt in der Erde, sondern eher in der Psyche, in der Mentalität, hinter Tabuvorhängen, Angst und vielleicht Scham vergraben und versteckt liegen, stellen das Leitmotiv von Brygida Helbigs Roman Kleine Himmel dar. Die Protagonistin – die fast 50-jährige Zuzanna, Tochter von Willi Keller alias Waldek Keler – begibt sich auf die schmerzhafte Suche nach der eigenen Identität und nach ihrer Familiengeschichte. Zuzanna lebt in London, ist geschieden, hat eine Tochter namens Milena und steckt vermutlich in einer schwierigen Lebensphase, „sie litt an Kraftlosigkeit und Traurigkeit“. Die Suche nach den eigenen „Wurzeln“ stellt für sie eine Form von Therapie gegen die depressive Verfassung dar.

Helbig hat einen Familienroman geschrieben, in dem mehrere Figuren zu Wort kommen. Zuzanna, die Tochter, Enkelin und Urenkelin, sammelt die kleinen familiären Anekdoten, Erinnerungen und Gespräche und „füttert“ damit ihren Computer, „diesen Zauberkasten, ihren Zauberkessel“. Alles, was einem „auf der Seele liegt in einen Topf werfen, umrühren, sich bekreuzigen, drei Mal spucken und dann mal schauen, was für ein Trank dabei herauskommt und ob er die Kraft hat, jemanden zu heilen“. Zuzanna bringt einzelne, in Zeit und Raum verstreute Erzählungen über das Schicksal zweier aus dem Osten stammenden Familien zusammen, die, durch die Schrecken des Zweiten Weltkrieges gezeichnet, in ein ehemaliges deutsches Gebiet, nach Stettin, umgesiedelt wurden und ihren Platz in der Realität der Volksrepublik Polen finden. Die Familie ihres Vaters, die 1945 den Familiennamen von Keller in Keler änderte, stammt aus einer Region, die von galizischen Deutschen bevölkert wurde. Aufgrund familiärer Umstände blieb ihre Mutter Christina, die sich nun Krystyna nennt, nach dem Krieg in Polen, Willi, umbenannt in Waldek, wurde sogar polnischer Offizier. Die andere Seite der Familie wurde zeitweise nach Kasachstan und nach dem Krieg ebenfalls nach Pommern umgesiedelt. Zuzanna weiß lange nicht, wie sich das familiäre Mosaik zusammensetzt. Bei ihrer Recherche wird sie stets von der Angst begleitet, auf nationalsozialistische Verbrechen in der Familie des Vaters zu stoßen und damit von der Opferrolle, wie es im schulischen Geschichtsunterricht der Protagonistin hieß, unwillentlich in die Täterrolle abzurutschen.

Um welche Identitäten geht es in Kleine Himmel? Ist es ein Roman über Polen mit deutschen Wurzeln oder über Deutsche, die in Polen blieben und eine polnische Identität unter politischem und gesellschaftlichem Zwang annahmen? Willi fragt sich, was es bedeutet, ein Deutscher zu sein. Reicht es beim Fußballländerspiel Deutschland-Polen für die deutschen Mannschaft mitzufiebern und Gefallen an Lindt-Osterhasen zu finden? Oder genügt es, zur Bestätigung der Zugehörigkeit zu Polen Soldat der polnischen Armee zu werden? Die Erzählerin beschäftigt sich mit solchen Fragen, sucht nach den Mosaiksteinchen, die schillernde Beweise dafür sind, dass das große Narrativ von eindeutigen Identitäten nicht zu halten ist. Die „kleinen Himmel“ setzen sich aus Steinchen zusammen, die Splitter vieler Kulturen, politischer Systeme, einsamer oder individueller Entscheidungen sind. Aus der scheinbar homogenen Ganzheit einer Menschengruppe entsteht ein unerwartetes polychromes Stimmengewirr.

Die Erzählerin überlegt: Wo ist ihre Heimat, wenn sich schon die Heimat ihrer Eltern und Vorfahren zwischen dem europäischen und asiatischen Kontinent aufspannt.

Sollte sie einmal in Polen leben, würde sie sich für Szczecin entscheiden, ihre Geburtsstadt, die Stadt der Menschen mit verworrenen Lebensläufen, gebrochenen Rückgraten oder ungeahnten Kräften, der Menschen, die von Gott weit wie Speere durch die Weltgeschichte geworfen worden waren – verletzt, verwundet, traurig, entwurzelt und tapfer, wirklich tapfer, Aber ist das ihre Heimat? Keine Ahnung

Günter Grass behauptet in seiner Schrift Rede vom Verlust (1992), dass der Heimatverlust die Voraussetzung für Literatur sei und zunehmend dazu führe, dass die Heimat zum Großteil in Erinnerungsbildern weiter existiere. Literatur schlägt eine Brücke zwischen Vergangenem und Gegenwärtigem, die die Entwurzelung zumindest teilweise zu relativieren vermag. Zuzanna geht im Prozess des Niederschreibens der Familiengeschichte dem Verschwiegenen und Verdrängten und trotzdem immer Anwesenden nach. Sie stellt Ereignisse zusammen, die sie nicht aus eigener Erfahrung kennt, die aber entweder im kommunikativen Gedächtnis ihrer Familie weiterleben oder verschwiegen und tabuisiert werden. Aus diesem Grund werden die Geschehnisse des Vergangenen unvollständig, oft anekdotenhaft und unchronologisch festgehalten. Zuzanna sucht nach Erklärungen in Geschichtsbänden und auf Landkarten. Kleine Himmel ist vielmehr eine Geschichte des Verschwiegenen als des tatsächlich in der Familie Erzählten. Helbig passt die Erzählstruktur des Romans den erzählten Geschichten an. Zuzanna wird als Medium eingesetzt, durch das die Historie der Familie strömt, sie sitzt vor dem Computer und mischt die einzelnen Elemente, aus denen später eine Familiengeschichte gebaut werden soll, sie experimentiert mit den Bedingungen der Möglichkeit. Die Erzählung entsteht unmittelbar vor den Augen des Lesers, setzt sich aus verschiedenen Zeitebenen, Zitaten, Erinnerungen und Fakten zusammen. Der Text überschreitet Sprachgrenzen: „Gut, also los geht’s, dawaj, dawaj, come on, lasst uns beginnen“. Die Sprache strotzt vor Leben, sie steht im Kontrast zur Starrheit der etablierten Geschichtsschreibung.

Auch wenn die Erzählung in den Themen und in der Form eine klare Subjektivität markiert, betrifft sie einen wichtigen Aspekt der historischen Geschichte: Die private Geschichte eines Menschen wird durch die große Geschichte, politische Umwälzungen und gesellschaftliche Ereignisse maßgeblich bedingt. Der Roman geht den Spuren des Verdrängten in der privaten, familiären aber auch der deutsch-polnischen Geschichte nach. Der gesellschaftliche „blinde Fleck“ ist in dem Roman damit vergleichbar, was man als die Verantwortlichkeit für sich selbst und für die anderen bezeichnen würde. Es handelt sich um eine Wahrnehmungslücke, um etwas, was verdrängt werden soll. Zuzanna stößt auf Aspekte, die von einer Gesellschaft, die Verantwortung für den Einzelnen trägt, nicht gesehen werden und – ähnlich der „kleinen Himmel“ – unter der Erde versteckt liegen und aufgedeckt werden müssen. Denn ihnen wohnt eine gefährliche Tendenz inne, sie tragen ein vernichtendes Potenzial in sich. Auch Zuzanna fühlt die leeren Stellen in ihrer Persönlichkeit, sie empfindet eine gewisse Unvollständigkeit ihrer Identität und ist bereit, die Lücken der eigenen Familien-Geschichtsschreibung mit Inhalten zu füllen. Helbig geht mit ihrem Roman einem der „blinden Flecke“ der deutsch-polnischen Geschichtsschreibung nach und macht deutlich, wie verworren die einzelnen Schicksale und wie komplex die Identitäten der heutiger Bewohner Polens sind.

Titelbild

Brygida Helbig: Kleine Himmel. Roman.
Übersetzt aus dem Polnischen von Natalie Buschhorn.
KLAK Verlag, Berlin 2019.
352 Seiten, 16,90 EUR.
ISBN-13: 9783948156077

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