Hommage an eine lebenslange Freundschaft

Monika Helfer erzählt in ihrem Roman „Die Jungfrau“ von einer Beziehung zweier grundverschiedener Freundinnen

Von Michael FasselRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Fassel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eine bodenständige Ehrlichkeit stellt die Ich-Erzählerin in Monika Helfers neuem Roman Die Jungfrau unter Beweis. Nicht nur besticht die österreichische Schriftstellerin mit einer unprätentiösen Sprache, sondern auch mit der Art und Weise, wie sie im Rückblick die lange Freundschaft mit Gloria schildert.

Ausgangspunkt ist ein Brief, den die Ich-Erzählerin Monika zu ihrem 70. Geburtstag erhält. Nachdem sich die beiden Freundinnen länger nicht gesehen haben, möchte Gloria Monika noch einmal sehen, bevor sie sterbe. Die Ich-Erzählerin macht sich direkt auf den Weg, nimmt den Zug nach Bregenz und geht zu Fuß zum Haus ihrer Freundin. Rasch kommen ihr die ersten Erinnerungen in den Sinn; Erinnerungen an ihre gemeinsame Jugend, Erinnerungen an bestimmte Details: „Im Stiegenhaus und in den Korridoren roch es muffig. Nichts hatte sich verändert. Der Geruch war nicht älter geworden. Die Tapeten schon.“

Bei ihrem Besuch trifft Monika Gloria auf einem Kanapee liegend an, bekleidet mit dem Kimono ihrer längst verstorbenen Mutter. Sofort setzt ein Dialog zwischen zwei lange Vertrauten ein. Das erste Thema ihrer Wiederbegegnung ist das Schreiben. Gloria möchte wissen, wie viel Monika heute schon geschrieben habe. Sie zeigt sich sehr interessiert an der Rolle der Schriftstellerin und wünscht sich, dass Monika etwas über sie schreibe.

Reflektiert, aber ohne zu werten, durchläuft Monika noch einmal erzählenswerte Episoden ihrer jahrzehntelangen Freundschaft. Gloria wird dabei keineswegs idealisiert, sondern mal als eine enge Freundin, mal als mögliche Rivalin oder auch als ausgesprochen eigensinnige junge Frau dargestellt. Dennoch ist es eine Hommage an eine Freundschaft, an eine außergewöhnliche Freundin. Gleichzeitig wirft Helfer Schlaglichter auf ein Gesellschafts- und Sittenbild der österreichischen Nachkriegsjahre. Im Mittelpunkt stehen die beiden jungen und unternehmungslustigen Freundinnen Monika und Gloria, beide sehr verschieden und von jeweils völlig anderen Lebensumständen geprägt. Die junge Monika wächst in der Südtiroler-Siedlung in Bregenz unter ärmlichen Verhältnissen auf und muss sich den Platz in der Wohnung mit einigen Verwandten teilen. Eine Stunde im Badezimmer verbringen zu dürfen, war bereits Luxus: „Nur, um die Lippenstifte auszuprobieren.“ Gloria, die alleine bei ihrer Mutter im Haus lebte, pflegte hingegen ein Leben im Wohlstand. So konnte Gloria es sich zum Beispiel leisten, Monika auf einer Zugfahrt von Bregenz nach Zürich einzuladen. Glorias Mutter sah in Monika stets ein moralisches Vorbild: „Und wenn diese Menschen schon überhaupt nichts hatten, dann wenigstens Moral, das gebot die Gerechtigkeit.“

Höchst interessant und zuweilen amüsant sind die reflektierten Gespräche zwischen Monika und ihrem Ehemann Michael. Da beide schriftstellerisch tätig sind, tauschen sie sich gerne über ihre Arbeit, über das Schreiben aus. Monika etwa sucht nach einem Wort, das Glorias Jungfräulichkeit auf den Punkt bringt. Genau diesen Begriff sollte sie doch verwenden, rät Michael, während Monika seinen Vorschlag ablehnt und stattdessen den Begriff „Jungfernschaft“ ins Spiel bringt. Hintergrund ist Glorias nachgerade obsessive Suche nach einem Mann, der sie in jungen Jahren entjungfern sollte – am besten in New York. Mit dieser Stadt verband Gloria keinen imaginären Verehrer, sondern vielmehr ihre fehlende Vaterfigur. „Ich will zu meinem Daddy in die 147 Ludlow Street in New York City.“ Viel weiß sie aus den Erzählungen nicht von ihm und so ist Raum für viel Fantasie. Monika zeigt zwar Verständnis für Glorias Hirngespinste, behält aber stets die Stimme der Vernunft. Obwohl oder gerade weil die beiden Freundinnen – auch in ihren späteren Lebensentwürfen – so grundverschieden sind, ergänzen sie sich auf wunderbare Weise.

Um all dies und weitere Episoden zu schildern, benötigt die Schriftstellerin nicht einmal 152 Seiten. So überrascht es nicht, wenn Monika Helfer mit der Literaturnobelpreisträgerin Annie Ernaux in einem Atemzug genannt wird. Sie beherrscht die Kunst der Verdichtung. Schon in ihrem Debüt Die Bagage (2020; besprochen von Helmut Sturm in literaturkritik.de 08/2020) konnte Helfer dies unter Beweis stellen.

Nun mag man sich einmal mehr fragen, wer hier erzählt. Ist es eher eine Autobiographie, Autofiktion oder – so wie auf dem Cover ausgewiesen – ein Roman? Ist es ein kokettes Spiel mit der Persönlichkeit der Autorin, deren Ich-Erzählerin und Protagonistin die gleichen Vornamen haben? Ist mit Michael tatsächlich ihr Ehemann Michael Köhlmeier gemeint? Ist alles reiner Zufall? Oder hat sich die Schriftstellerin selbst fiktionalisiert? Kokettieren gehört womöglich zu all den lesenswerten und sehr persönlichen Romanen Helfers. Bevor man sich aber auf die Suche nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden zur tatsächlichen Biographie macht, ist es vielmehr angeraten sich auf die Darstellung einer außergewöhnlichen Freundschaft zweier sehr verschiedener und einzigartig gezeichneter Frauen einzulassen.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Monika Helfer: Die Jungfrau.
Roman.
Carl Hanser Verlag, München 2023.
152 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783446277892

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