Ein editionsphilologisches Glanzstück

Dominik Fugger und Jenny Lagaude geben sämtliche erhaltenen Predigten Johann Gottfried Herders aus dessen Rigaer Jahren heraus

Von Günter HelmesRSS-Newsfeed neuer Artikel von Günter Helmes

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Martin Keßler hat vor einigen Jahren darauf hingewiesen, dass die Predigten Johann Gottfried Herders – „die Kanzelrede begriff er, gemäß seinem Bildungsideal, als eine seiner bedeutsamsten Aufgaben“ –

,wie kaum eine andere literarische Quellengattung des Gesamtwerkes jahrzehnteübergreifende Vergleichsmöglichkeiten für thematische Kontinuitäten, situative Aktualisierungen, persönliche Momentaufnahmen und konkrete Adressatenbezüge‘

bereit halten.

Umso erstaunlicher ist es, dass den Predigten bislang nur wenig interpretatorisches und „editionsphilologisches Interesse entgegengebracht wurde“.

Letzteres sieht die Herausgeberin Jenny Lagaude, aus deren „Vorwort“ als erstem Teil der „Einleitung“ (beziehungsweise dem Kapitel I) gerade zitiert wurde, vor allem „in der ungeheuren Fülle und formalen Heterogenität des überlieferten Handschriftenmaterials“ begründet, „das neben vollständig ausgeführten Reden auch aus schwer publizierbaren Dispositionen, nur zu Teilen ausformulierten Notaten, Bruchstücken und groben Aufrißskizzen besteht.“ Dieses Material nicht nur zu edieren, sondern überdies zu datieren und den verschiedenen Kanzeln in Riga zuzuordnen, lasse sich in der Regel „nur unter Zuhilfenahme externer Zeugnisse und Kriterien in einem zumeist komplexen Abwägungsprozess vornehmen“.

Bei der den Auftakt zur Herausgabe aller erhaltenen Predigten Herders markierenden Edition handelt es sich dem Kernbestand nach zugleich um eine 2021 vorgelegte Dissertation am Max-Weber-Kolleg der Universität Erfurt.

Die Edition wird durch ein „Zu dieser Edition“ betiteltes Geleitwort des Gesamtherausgebers Dominik Fugger eröffnet, das unter anderem die „philologische Akkuratesse und unnachgiebige Strenge bei der Herstellung des besten Textes“ herausstreicht, mit der die Herausgeberin der beiden Teilbände Jenny Lagaude gearbeitet hat. Sie untergliedert sich dann in eine knapp 160 Seiten lange „Einleitung“ (= Kap. I), die aus den Teilen „Vorwort“, „Editorischer Bericht“ und „Herders frühe Predigerjahre“ von Lagaude sowie Ausführungen zur „Editions- und Interpretationsgeschichte“ der Rigaer Predigten von Kaspar Renner besteht, die zwischen dem 15. März 1765 und 17. Mai 1769 gehaltenen Predigten selbst (= Kap. II), einen „Apparat“ (= Kap. III), der diverse Informationen, Erläuterungen und Thesen zu den wiedergegebenen und den nicht überlieferten Predigten vorhält, einen „Anhang“ (= Kap. IV), der eine ganze Anzahl weiterer Quellen (eine „Grabrede“, ein „Nachruf“, ein „Entwurf zu einer Leichenrede“ und „Dispositionen“), dazu weiterführende Informationen und Materialien liefert, sowie das Kapitel „Register und Verzeichnisse“ (= Kap. V), das aus den Teilen „Personen“, „Bibelstellen und Perikopen“, „Quellen- und Literaturverzeichnis“ („Siglen“, „Archivalien“, „Weitere Literatur“) sowie „Editorische Zeichen und Abkürzungen“ besteht.

„Was Religiosität im Sinne Herders bedeutet, dürfte sich“, so Dominik Fugger in seinem Geleitwort, „kaum anderswo so facettenreich entfaltet finden“ wie in den Predigten Herders:

Wir sehen den jungen Herder, der […] um einen Platz in der kirchlichen Hierarchie und um einen geistlichen Wirkungskreis kämpft. Zugleich […] ist die Spannung zwischen Herders selbstempfundener Sendung als Prediger und seinen teils widerstrebenden geistigen Interessen bereits angelegt.

Der „Editorische Bericht“ der Herausgeberin gibt zunächst detailliert über den Textbestand – 143 Predigtentwürfe „in der Staatsbibliothek Berlin und in der Stadtbibliothek Schaffhausen“, davon 56 (oder vielmehr 60?) „durchformulierte[e]“ Predigten – Auskunft. Herausgestellt wird, dass die im „Anhang“ verzeichneten Dispositionen „sowohl im Hinblick auf Herders theologische und rhetorische Entwicklung […] als auch für die Erforschung der Entstehungsgeschichte seiner Rigaer Predigtentwürfe“ von „Bedeutung“ beziehungsweise „von Interesse“ sind. Darüber hinaus wird begründet, warum die im „Anhang“ abgedruckten Quellen nicht als Predigten zu werten sind.

Zur Datierung der Predigtentwürfe heißt es, dass neben brieflichen „Vermerke[n] und Aussagen“ Herders und der „Perikopenordnung des Kirchenjahres“ vor allem lokale Quellen wie die Ratsakten Rigas und des Rigaer Oberpastors Immanuel Justus von Essens Annales Ecclesiastici Rigensis sowie eine „Aufstellung der Einnahmen Herders“ die „wohl fruchtbarste Quelle für die Datierung der Rigaer Kanzelreden“ bieten.

Der informationsgesättigte Abschnitt „Gestaltung der Edition“ nimmt zum „Textteil“ (bestehend aus den Unterkapiteln „Darbietung der Texte“, „Predigtkopf“ und „Anmerkungen“), zum „Apparat“, zum „Anhang“ und zu „Register und Verzeichnisse“ Stellung. Die getroffenen, hier im Einzelnen nicht zu referierenden, vielmehr auszugsweise nur für den Abschnitt „Textteil“ angesprochenen Entscheidungen überzeugen unter editionsphilologischen Gesichtspunkten. „Textgrundlage des Abdrucks einer Predigt“, so eine der zentralen Aussagen, „bildet die von Herder letztgültig gestaltete Fassung des ausgeführten Predigtentwurfs, bzw. seiner Teile“. Es sei darum gegangen, „eine gut lesbare Textgestalt“ zu wählen, die auch „eine Annäherung an die gehaltene Predigt ermöglichen will“, zum Beispiel, wenn es um „Lautstand und Zeichensetzung“ geht.

Im äußerst ergiebigen, hier nur ansatzsweise zusammengefassten Kapitel „Herders frühe Predigerjahre“ unternimmt Lagaude

den Versuch, Herders Werden und Wirken als Prediger im Kontext der Rigaer Kirchengeschichte konkreter zu umreißen und so zum Verständnis der Entstehungszusammenhänge des […] vorliegenden Predigtmaterials […] beizutragen.

In diesem Zusammenhang geht sie auch den Fragen nach,

inwiefern bereits durch frühe Eindrücke während der Kindheit und Jugend in Ostpreußen das Interesse für das Predigtamt und die rhetorische Praxis des Predigens geweckt wurde und ob Herder möglicherweise schon während seiner Studienzeit in Königsberg Erfahrungen als geistlicher Redner sammelte.

Von daher thematisiert sie im eröffnenden Teil „Erste Prägungen“ die Kindheit und Jugend Herders in Mohrungen und die Studienjahre in Königsberg.

Im Einzelnen werden für Mohrungen die dortige Ausprägung des Luthertums, die Frömmigkeit des Elternhauses, die Bibel, das Gesangbuch und der Kirchengesang sowie die „Predigerpersönlichkeiten“ Christian Reinhold Willamovius und Sebastian Friedrich Trescho als maßgebliche Einflussfaktoren ausgemacht.

Für Königsberg beleuchtet Lagaude die dortige unbefriedigende Studiensituation, nimmt die Theologieprofessoren (unter anderem Theodor Christoph Lilienthal) in den Blick, die Herder im Sinne „kritischer Auseinandersetzung“ oder auch Ablehnung beeinflussten, weist auf Professoren anderer Disziplinen hin (unter anderem Kant), die auf ihre Weise prägend für Herder waren, und stellt mit Blick auf seine „homiletische Entwicklung […] seine Tätigkeit als Inspizient und Lehrer am Collegium Fridericianum“ heraus. Diese Tätigkeit sei „möglicherweise […] von größerer Bedeutung“ [gewesen] als sein Theologiestudium“, habe Herder doch „möglicherweise andere im Hinblick auf die Predigttätigkeit rhetorisch angeleitet, wenn nicht gar selbst bereits im Kreise von Schülern und Kollegen Andachtsreden respektive Katechisationen gehalten.“

Der zweite Teil des Kapitels „Herders frühe Predigerjahre“ gilt der Zeit Herders als Kandidat des Predigtamts in Riga. Thematisiert werden die „lutherische Kirche in Riga“, Herders „Eintritt in die Kandidatur“, die „Struktur und Funktion der Predigtamtskandidatur“, die „Kandidatenpredigten“ und „Herders Selbstzeugnisse als Predigtamtskandidat“. Unter anderem werden im Kontext genereller verfahrenstechnischer Abläufe die besonderen persönlichen und institutionellen Umstände bei Herders Eintritt in die Kandidatur, die Qualitätssicherungsmaßnahmen des Rigaer Magistrats, die Arbeitsbedingungen eines und die Anforderungen an einen Kandidaten sowie der Charakter von Kandidatenpredigten im allgemeinen und Herders im besonderen beispielsweise nach Vorgaben, Eigenart, Aufwand, Vortrag und Vortragsdispositiv herausgearbeitet. Was die „homiletische[] Praxis“ anbelange, „erfahren wir von Herder selbst nur indirekt aus seinen Predigtentwürfen, in den Rigaer Briefen erwähnt er hiervon nichts, wie er auch das Predigen selbst in seiner Korrespondenz kaum thematisiert.“

Im dritten Teil des Kapitels geht es um Herder als „Pastor Adjunctus der Vorstadtkirchen“. Im Einzelnen geht es um „Erwählung, Examen und Ordination“, „Herders Tätigkeit an den Vorstadtkirchen“ Gertruden- und Jesuskirche, „Herders Hörerschaft“, sein „Verhältnis zur Rigaer Geistlichkeit“, die „,Predigerfalte‘“ sowie den „Abschied aus Riga.“

Herders Bewerbung um die Stelle und seine Erwählung zum Pastor Adjunctus, den „niedrigste[n] Posten im Gefüge der Rigaer Geistlichkeit“, sei im Zusammenhang mit Herders zuvor erhaltenen Angebot des „St. Petersburger Kirchenkonvent[s] der deutschen lutherischen Gemeinde“ zu sehen, die Leitung ihrer Schule zu übernehmen und damit einen „sprunghaften beruflichen Aufstieg[]“ zu erfahren. Aus diesem lukrativen auswärtigen Angebot hätten sich für Riga bestimmte „Anstellungsforderungen“ Herders und veränderte „Amtspflichten“, beziehungsweise eine veränderte „Amtsstruktur“ ergeben. Die Hörerschaft Herders habe sich aus den kleinbürgerlichen deutschsprachigen Bewohnern der Vorstadtgemeinde – „vornehmlich“ Handwerker und deren Familie bzw. Haushalt –, jungem „bürgerliche[n] Publikum Rigas“, einigen Gebildeten und „zumindest gelegentlich“ aus „Mitglieder[n] des livländischen Adels“ zusammengesetzt und sei ihm sehr wohlgesonnen gewesen. Ein „hohe[s] Ansehen in der Gouvernementsregierung“ und ein „gute[r] Stand in den Reihen der Stadtoberen“ und beim Oberpastor von Essen hätten Herder neben anderem – beispielsweise Streitereien um „Zirkularpredigten“; konkurrierende Predigtzeiten; unterschiedliche Ansprüche an eine Predigt oder Einkommensverhältnisse  – „einige Mißgunst“, eine „kritische Haltung“ und „Neid“ bei der städtischen Geistlichkeit eingetragen, insbesondere bei Georg Bärnhoff, Pastor an der Jesuskirche, und Martin Andreas Reusner, Pastor am Dom. Herder seinerseits habe mit einer „gewissen Abfälligkeit“ auf die Rigaer Pastorenschaft – Ausnahme „vielleicht“: Johann Christoph Gericke, Pastor an St. Gertrud – und auch auf den Oberpastor geschaut. Schon im Sommer 1767 habe Herder mit seiner Pastorenrolle „zu hadern“ begonnen, „die ihm mehr und mehr ein Widerspruch zu seinen Ambitionen als Autor“ vorgekommen sei. Die „Angst“ vor geistiger Erstarrung durch seine „Amtspflichten und -beschäftigungen“ manifestiere sich „im Bild von der ‚Predigerfalte‘“. Schließlich habe Herder zu aller Überraschung „den Magistrat um die Entlassung aus allen seinen Ämtern“ ersucht.

Der abschließende Teil „Epilog“ handelt zum einen von den diversen Versuchen nach der Abreise Herders, diesen für Riga zurückzugewinnen. Doch als man ihm im Frühjahr 1771 die „einst zugesagte Stelle als Diakon der Jakobskirche, Lyzeumsrektor und Assessor des livländischen Oberkonsistorium antragen“ konnte, „hatte Herder bereits in Bückeburg eine hochrangige Stellung und in Darmstadt eine ihn bindende Liebe gefunden.“ Zum anderen wird ein weiteres Mal auf die Abschiedspredigt Herders aus Riga eingegangen.

Kaspar Renners gehaltvolle, den Bogen bis in die Gegenwart spannende Ausführungen zur „Editions- und Interpretationsgeschichte“ der Predigten beschließen das 1. Kapitel „Einleitung“. Renner geht zunächst – (Stichworte unter anderem: Selbstverständnis als Prediger, Predigtweise, erstrebte und erzielte Wirkung, Auswahlkriterien, redaktionelle Eingriffe („antirhetorische[s] Stilideal[]“) – auf Karoline Herders Erinnerungen aus dem Leben Joh. Gottfrieds von Herder, auf die von Johann Georg Müller, Johannes von Müller und anderen besorgte erste Werkausgabe Johann Gottfried von Herder’s sämmtliche Werke und auf das Lebensbild Herders von dessen Sohn Emil Gottfried Herder ein. Dabei kommen auch Predigten Herders wie die Abschiedspredigt und sein Redner Gottes zur Sprache.

Dann wird jener „antiquarisch-gelehrte[] Gedenkdiskurs“ in den Blick gerückt, der sich kurz nach Herders Tod in Riga entwickelt, im Rigaer Herder-Denkmal 1864 kulminiert und der „sich mit besonderer Aufmerksamkeit dem biographischen und lokalgeschichtlichen Gesichtspunkt des Herderschen Wirkens widmet.“

Es folgt eine Darstellung jener „professionelle[n] Werkphilologie und Biographik“, die sich seit dem ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts in Berlin und Weimar herausbildet. Diskutiert werden der erste Band von Rudolf Hayms zweibändiger Biographie und die von August Jacobsen beziehungsweise Otto Hoffmann herausgegebenen, Predigten aus Herders Zeit als Adjunctus und als Kandidat enthaltenden Bände 31 und 32 der kritischen Werkausgabe von Bernhard Suphan.

Der „Quellenforschung und Gedächtnispolitik“ des 1921 gegründeten Herder-Instituts in Riga gilt der nächste Abschnitt von Renners Ausführungen, die auch kurz auf den Supplementband 33 der Suphanschen Ausgabe eingehen. Zur Rede stehen Kurt Stavenhagens Herder in Riga, Johannes Kirschfelds Herders Konsistorialexamen in Riga im Jahre 1767, Erich von Schrencks Baltische Kirchengeschichte der Neuzeit und Heinrich Schaudinns Deutsche Bildungsarbeit am lettischen Volkstum des 18. Jahrhunderts.

Wie Herder als Prediger in der DDR und in der BRD „unter dem Vorzeichen unterschiedlicher gedächtnis- und kulturpolitischer Interessen“ wiederentdeckt wurde, wird im Anschluss nachgezeichnet. In der DDR werde Herder „in den Rang des Weimarer Klassikers“ aufgewertet. Ausdruck dafür sei unter anderem die von Eva Schmidt herausgegebene Quellensammlung Herder im geistlichen Amt und die von Wilhelm Dobbek und Günter Arnold bearbeitete und von der Klassik-Stiftung Weimar herausgegebene Gesamtausgabe der Briefe.

Für die BRD wird unter anderem auf die Erschließung von Herders „handschriftlichen Nachlaß“ („Skizzen und Entwürfe[]“, „Predigtkorpus“, „Studienhefte und -bücher“) durch Hans Dietrich Irmscher und Emil Adler in den 1970er Jahren verwiesen. Diese Katalogisierung habe aber „jahrzehntelang“ – sehe man von Anregungen Wilhelm-Ludwig Federlins insbesondere in Pilotstudie für eine neue Herderpredigtedition ab – nicht zur Konsequenz gehabt, sich tatsächlich um die Edition der Predigten zu bemühen.

Renner schließt mit einer kommentierenden Darstellung der „Frankfurter Ausgabe und neuere[r] Ansätze“ sowie jener „Perspektiven“, die die „lettisch-deutsche[] Forschungskooperation“ bietet. Zum einen werden die Verdienste und Grenzen der von Christoph Bultmann und Thomas Zippert besorgten Edition von Herders theologischen Schriften (Redner Gottes, Über die Göttlichkeit und Gebrauch der Bibel, Abschiedspredigt) und jener „hochgradig ausdifferenzierter[] Forschungsdiskurs“ thematisiert, der sich mit Björn Hambschs „rhetorikgeschichtlichen Perspektiven auf Herders Predigttätigkeit“ und Martin Keßlers „grundlegende[r] Dissertation Johann Gottfried Herder – der Theologe unter den Klassikern verbindet. Zum anderen wird auf Beiträge (Martin Bollacher, Günter Arnold, Mare Rand) aus dem von Claus Altmeier und Armands Gütmanis herausgegebenen Sammelband Johann Gottfried Herder und die deutschsprachige Literatur seiner Zeit in der Baltischen Region, auf Klaus Garbers „Standardwerk“ Schatzhäuser des Geistes, auf den Sammelband Herders Rīgā /Herders Riga (hrsg. von Ilze Ščegoļihina) sowie auf Beiträge (Johan Vivian, Aija Taimina, Kaspar Renner) aus dem „von Raivis Bičesvskis in lettischer Sprache mit englischen Abstracts“ herausgegebenen Band Vienotība un atšķirība: Johana Gotfrīda Herdera filosofia / Unity and Difference: Johann Gottfried Herder’ Philosophy verwiesen. 

Der aus Forschungsperspektive zentrale Dokumentarteil „Predigten“ – auf diese Predigten selbst kann an dieser Stelle selbstverständlich nicht eingegangen werden – gibt auf gut 1000 Seiten und in „chronologisch numerierter Abfolge“ erstmals jene zu 98 „Predigtanlässe[n]“ gehaltenen, überlieferten „83“ (sind es nicht 82?) Predigten wieder, die Johann Gottfried Herder nach Abschluss seines Studiums in Königsberg als „Kandidat des geistlichen Ministeriums der Stadt Riga“ hielt. 69 „Predigtanlässe“ sind dabei durch Quellen „sicher beleg[t]“. Aus diesen Zahlen lässt sich schließen, „daß manche Predigten von Herder mehrfach verwendet wurden.“ Im Einzelfall gibt es dafür auch textliche Belege. Zudem werden im „Apparat“ (siehe unten) vertiefte Hinweise auf 16 nicht überlieferte, jedoch in die chronologische Abfolge aufgenommene Predigten gegeben. Für die überlieferten Predigten ist festzuhalten, dass 12 nur als Disposition, Entwurf oder Inhaltsangabe und weitere 10 nur als „[u]nvollständig erhaltene bzw. nur teilweise ausgeführte Predigten“ vorliegen.

Der keine Wünsche offenlassende, ca. 150 Seiten lange „Apparat“ zu den Predigten benennt für diese zunächst die Bibelstellen, auf die sie sich beziehen, sowie das Datum, den Ort und den Zeitpunkt der Predigt. Erwartungsgemäß hat Herder vor allem in der Gertrudenkirche gepredigt, dann in der Jesuskirche, gelegentlich auch in der Domkirche und in der Petruskirche. Vorwiegend handelte es sich um Nachmittags-, ansonsten um Morgenpredigten. Die wurden relativ häufig an kirchlichen Feiertagen gehalten.

Weiterhin werden einlässliche Angaben zur „Überlieferung“ („Entwürfe“, „Textvorlage“, „Druck“ bzw. „Drucke“, „Abschrift“) und zur „Datierung“ gemacht (und gelegentlich wie im Falle von Nr. 38 und 39 in „Überlieferung“ integriert). Insbesondere für die nicht oder nur in Teilen überlieferten Predigten finden sich zu Untertiteln wie „Weiterer Inhalt“, „Perikope“ oder „Inhaltsangabe“ („der Disposition“ oder „des Vorentwurfs“) weitere Ausführungen. Diese Angaben und Ausführungen zusammengenommen können im Einzelfall (wie zum Beispiel bei Nr. 43 und 56) bis zu 10 Seiten lang sein. Das zeugt einmal mehr von der außerordentlichen Sorgfalt und dem stupenden Wissen, die der Edition zugrunde liegen.

Der gut 70 Seiten lange „Anhang“ untergliedert sich in eine „Grabrede“, einen „Nachruf“, den „Entwurf zu einer Leichenrede“, „Dispositionen“, ein „Chronologisches Gesamtverzeichnis der überlieferten Predigtentwürfe“ des Zeitraums „ca. 1758 – Mai 1769“, den „Rigaer Predigtkalender 1765-1769“ sowie „Materialien zur lutherischen Kirche in Riga (1764-1769)“, im Einzelnen „Lutherische Kirchengemeinden“, „Rigaer Konsistorium“, „Rigaer Stadtministerium“ und „Predigerordnung an den Stadtkirchen“. Für die ersten drei Texte gibt es auch hier Angaben zu Ort und Zeit und zur „Überlieferung“. Der Inhalt wird wiedergegeben. Für die insgesamt 34 Dispositionen aus dem Zeitraum „ca. 1758-1764“ gibt es Hinweise zum Bibeltext, zum Kirchenjahr, zur Entstehung und zur Signatur. Es folgen wie im Falle der Predigten Hinweise zur Datierung und eine Inhaltsangabe. Das 149 Positionen oder Texte umfassende, der Abfolge der Orte (Mohrungen, Königsberg, Riga) folgende „Chronologische Gesamtverzeichnis“ untergliedert sich in „Provenienz“ (Bibliothek), „Status“ (Disposition und/oder Predigt), „Perikope“, „Datierung“, „Thema“ und zugehöriger Nummer der 34 Dispositionen und 98 Predigten. Für Riga wird zwischen „Predigten als Kandidat“ und – Herder wurde am 10. Juli 1767 ordiniert – „Predigten als Pastor Adjunctus“ unterschieden.

Schließlich „Register und Verzeichnisse“: Dieser Teil besteht aus einem ca. 300 Personen umfassenden Personenverzeichnis, einem durch gelegentlichen Fett- oder Kursivdruck weitere Informationen vorhaltenden Verzeichnis der „Bibelstellen und Perikopen“, einem in „Siglen“, „Archivalien“ und „Weitere Literatur“ (ca. 140 Titel) untergliederten „Quellen- und Literaturverzeichnis“ sowie einem Verzeichnis der „Editorische[n] Zeichen und Abkürzungen“. Wünschenswert wäre noch ein Verzeichnis gewesen, das ausweist, an welchen Stellen der einleitenden Texte der Herausgeber und Kaspar Renners über welche Texte Herders, insbesondere Predigten, gehandelt wird.

Fazit: Die vorliegende Edition der Predigten Herders aus seinen Rigaer Jahre 1765 bis 1769 darf als in jeder Hinsicht beeindruckender, vielversprechender Auftakt eines weiteren Meilensteins der Herder-Philologie gelten: der Herausgabe sämtlicher erhaltenen Predigten. Diese Predigten liefern ein ausgesprochen vielschichtiges Bild der theologischen bzw. intellektuellen Signatur und der rhetorischen Entwicklung des jungen Herder. Der begegnet dem Leser in den Begleittexten als zuweilen geradezu forsch selbstbewusster, ebenso fleißiger wie strebsamer und hoch talentierter junger Prediger und Autor. Bei seiner Hörerschaft und städtischen Repräsentanten hoch beliebt und fachlich gewertschätzt, bei seinen Kollegen hingegen mit Argwohn betrachtet, arbeitet Herder umsichtig und zielstrebig an seiner Karriere.

Titelbild

Johann Gottfried Herder: Predigten. Riga 1765-1769.
Herausgegeben und bearbeitet von Jenny Lagaude unter Mitwirkung von Christian Scherer.
De Gruyter, Berlin 2023.
2 Bände , 249,00 EUR.
ISBN-13: 9783110764024

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