Plädoyer für die Hoffnung

Ein Dialog zwischen Vergangenheit und Zukunft von Jost Hermands „Oasen der Utopie“

Von Benedetta BronziniRSS-Newsfeed neuer Artikel von Benedetta Bronzini

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der von dem griechischen Wort „U-topos” abstammende Begriff der „Utopie” meint buchstäblich einen Ort, der sich nirgendwo befindet: ein Ort der Fantasie, der Illusion, des Idealen; ein Ort, der nie Realität erlangen kann, jedoch gleichzeitig einen Raum für Hoffnung und reale Möglichkeiten bildet. Die Gesellschaft des 21. Jahrhunderts erfährt einen komplizierten Umgang mit philosophischen Begriffen wie Hoffnung und Ideal, die im Sprachgebrauch immer seltener vorkommen und im politischen Vokabular schon lange nur noch wenig Verwendung finden. Darüber hinaus lässt der Begriff „Utopie” viele Fragen aufkommen: Kann man in unserer Gesellschaft von Utopien sprechen? Gehören Utopien überhaupt zu unserem konsumorientierten und digitalisierten Gesellschaftssystem dazu? In seinem 1990 veröffentlichten Buch Leben ohne Utopie? argumentiert Johano Strasser, dass durch den Wegfall der bisherigen ideologischen Konfrontationen plötzlich ein bedauerliches „Vakuum der Utopie“ eingetreten sei. Schon 1985 konstatierte Jürgen Habermas in seiner Broschüre Die neue Unübersichtlichkeit: „Wenn in einer Gesellschaft die utopischen Oasen austrocknen, breitet sich eine Wüste von Banalität und Ratlosigkeit aus” (S. 22). Eben jener progressionslosen Einstellung gegenüber der Zukunft ist der Band von Jost Hermand gewidmet.

Im Wintersemester 2009 belegte ich verschiedene Vorlesungen an der Humboldt Universität zu Berlin. Noch gut erinnere ich mich an die (stets zu vielen) Zigaretten, die ich vor dem Eingangstor der Universität geraucht habe, an den vielen Schnee und an die Hegel-Büste, die in einem kleinen Raum des Hauptgebäudes stand. Das Jahr 2009: 20 Jahre nach dem Mauerfall, Barack Obamas erstes Jahr als Präsident der USA und das Jahr der Verbreitung der Schweinegrippe in Europa und Asien. Eine Vorlesung habe ich dabei besonders im Herzen behalten: Es ging um Utopien, Science-Fiction-Romane während des Zweiten Weltkriegs, Heiner Müller, Karl Marx und Robert Havemann. Obwohl es um Deutschland ging, klang in jedem Wort des in Kassel geborenen amerikanischen Gastprofessors ein weitergefasster, diachronischer, breiter und transnationaler Kontext an. Fassbar gemacht wurde die intime, Mysterien nahe und weltverändernde Bedeutung des Studiums zur Zeit der Aufklärung und der Goethezeit, die Profundität des Wissens und das Privileg, studieren zu dürfen. 

Eines Tages, am Ende seiner Vorlesung, zeigte sich der Germanist und Kulturhistoriker Jost Hermand (1930–2021) verzweifelt: Seine Frau müsse operiert werden und unter diesen Umständen könne er sich nicht konzentrieren. Mit derselben Empathie und Begeisterung lehrte er Deutsche Literatur und Geschichte. Sein Unterricht war jedes Mal aufs Neue eine Reise durch die Epochen; voller Denkanstöße, Erinnerungen und Erfahrungen. Wie selbstverständlich verließ man seine Vorlesung mit der Vorstellung, eine gewisse Verantwortung der Gesellschaft gegenüber zu haben. Demensprechend politisch geprägt waren seine Seminare: Inhalte, Geschichten, greifbare Beispiele, glänzende Augen. Kurz nach seinem Tod am 9. Oktober 2021 gewann die emotionale Dimension in mir vorrübergehend Oberhand und bewog mich zum Verfassen dieser Präambel – denn Jost Hermand war für mich eine wichtige Leitfigur. In erster Linie war er jedoch ein weltbekannter, engagierter Germanist, Autor von Ecksteinen der germanistischen Sekundärliteratur des 20. Jahrhunderts (u. a. Deutsche Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts, Nach der Postmoderne, Grüne Klassik. Goethes Naturverständnis in Kunst und Wissenschaft, Unerfüllte Hoffnungen. Rückblicke auf die Literatur der DDR sowie seine diversen Heinrich Heine gewidmeten Publikationen). 

Elf Jahre nach den oben erwähnten Vorlesungen ist – inmitten des Utopien-Vakuums, der Umweltkrise und der post-pandemischen Zeit – das letzte Werk Hermands, der Band Oasen der Utopie, erschienen. Hierin beschreibt er in zwanzig Kapiteln neunzehn, auf den Zeitraum zwischen 1727 und 2018 fokussierte Einzelbeispiele.

Wie Hermand bereits im Vorwort betont, ist der Utopien-Diskurs ein weites Feld, dessen Wurzeln traditionell in den Werken der „berühmten Utopiker” liegen (wie etwa Thomas Morus, Francis Bacon, Étienne-Gabriel Morelly, Jonathan Swift, Denis Diderot, François de Fénelon, Louis-Sébastien Mercier, Charles Fourier, Robert Owen, Edward Bellamy, Edward Bulwer-Lytton, William Morris, Herbert George Wells, Aldous Huxley und Ernest Callenbach) und der sowohl in philosophischer, politischer, literarischer, historischer, vor allem aber auch in künstlerischer und soziologischer Hinsicht seit Jahrhunderten analysiert wird, wovon die umfangreiche und vielfältige Sekundärliteratur zeugt. Seit 1985 widmete Hermand selbst diesem Thema mehrere Untersuchungen, in denen die Utopie als politischer und philosophischer Begriff aufgefasst wird (Der alte Traum vom neuen Reich. Völkische Utopien und Nationalsozialismus. 1988, Grüne Utopien in Deutschland. Zur Geschichte des ökologischen Bewußtseins. 1991, Verlorene Illusionen. Eine Geschichte des deutschen Nationalismus. 2012). Im Mittelpunkt stand dabei stets Deutschland. Oasen der Utopie ist allerdings nicht den großen „Staatsromanen”, sondern kleineren Schriften gewidmet, die auf politische sowie ökologische und soziale Gesellschaftsveränderung drängen.

Im Vorwort ist ein historischer Exkurs zu finden, der die Anwesenheit und Ausblendung utopischer Oasen im deutschen Kontext vom 18. Jahrhundert bis in die heutige Zeit porträtiert und die Werte der Französischen Revolution als Fundament des utopischen Begriffs der Gegenwart festlegt. Der Unterschied zwischen utopischen Idealen und Ideologien ist ein subkutanes Thema, welches sich durch den gesamten Text hindurchzieht.

Begriffe wie »Revolution« oder »Utopie« wurden […] im Nazijargon stets vermieden. Stattdessen sprach man lieber von einer Rückbesinnung auf die Werte »unserer ruhmreichen Vergangenheit«, wobei meist der heroische Aspekt dominierte. Als daher Joseph Goebbels, der maßgebliche Minister für ideologische Propaganda, im April 1940, also kurz nach dem Beginn des Zweiten Weltkriegs, gefragt wurde, worin denn die Utopie des Nationalsozialismus eigentlich bestehe, antwortete er bewusst ausweichend, dass es jetzt erst einmal zu siegen gelte, dann werde man weitersehen. (S.17)

So äußert sich Hermand in seiner Publikation beispielsweise in Bezug auf die Zeit des Nationalsozialismus und verdeutlicht damit die Nähe des Utopie-Begriffs zu Ernst Blochs „Prinzip Hoffnung”. Die darauffolgenden 18 Beispiele kontextualisieren das Prinzip des Utopischen in unterschiedlichen Momenten der modernen Geschichte und behandeln Fichte und den „geschlossenen Handelsstaat” (1800), die Schriften von Karl Marx (1860), Sexualethik (1920), Petra Kelly und die grüne Zukunft (1983). 

Von besonderem Interesse sind das erste sowie das als letztes behandelte Beispiel: Die erste Figur, der der Leser begegnet, ist ein gewisser Irenaeus Hygiophilus (Pseudonym von Johann Daniel Kutte), ein protestantischer Theologe, der zum Katholizismus konvertierte und sich 1727 in seiner Abhandlung Daß denen Männern keine Herrschafft über ihre Weiber gebühre, die eine außergewöhnlich moderne Einstellung gegenüber der Emanzipation der Frau vertritt, mit der Bedeutung und Missdeutung von männlicher „Herrschaft” in der Heiligen Schrift auseinandersetzt.

Als letztes Beispiel und hoffnungsvolles Vorzeichen auf die Zukunft wird neben den Aktionen von Greenpeace und Fridays for Future sowie der Sammlungsbewegung Aufstehen auch die Politikerin und Publizistin Sara Wagenknecht, Autorin von Reichtum ohne Gier. Wie wir uns vor dem Kapitalismus retten (2016), vorgestellt. Anhand dieser Beispiele präsentiert Jost Hermand eine letzte Bedeutung von Utopie – und zwar seine persönliche Hoffnung für das 21. Jahrhundert: eine grüne, bunte und neue Art von Demokratie.

Titelbild

Jost Hermand: Oasen der Utopie. Schriften deutscher Vordenker und Vordenkerinnen.
Böhlau Verlag, Köln 2021.
212 Seiten, 35,00 EUR.
ISBN-13: 9783412521417

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