Ein jüdischer Emigrant entdeckt als Flaneur in Paris seine Vergangenheit
Der Wallstein Verlag setzt seine Georg Hermann-Edition mit dem Roman „B.M. – der unbekannte Fussgänger“ fort
Von Manfred Orlick
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseZum 150. Geburtstag des deutsch-jüdischen Schriftstellers Georg Hermann (eigentl. Georg Hermann Borchardt, 1871-1943) startete der Wallstein Verlag Ende 2021 eine Edition seiner Werke in Einzelbänden. Hermann war einer der meistgelesenen und produktivsten Autoren des frühen 20. Jahrhunderts, der als „jüdischer Fontane“ gefeiert wurde. Zuletzt erschien Hermanns letzter Roman Die daheim blieben, der als vierteiliges Fragment bisher unveröffentlicht war.
Nun wird die Edition mit dem Roman B.M. – der unbekannte Fussgänger fortgesetzt, der als Erstausgabe 1935 in Amsterdam bei dem Buchhändler und Verleger Menno Hertzberger auf Deutsch erschien. Zuvor war er bereits auf Niederländisch in der Tagespresse veröffentlicht worden, was Hermanns finanzielle Lage im Exil etwas verbessert hatte. Der Roman, der autobiografische Züge trägt, ist der erste Roman, in dem Hermann das Schicksal eines Emigranten in den Mittelpunkt stellte. Vor fünfzehn Jahren war B.M., der sich als werdender Dichter sah, voller Hoffnungen und Ambitionen nach Berlin gegangen, doch er hatte es in der Reichshauptstadt nur zu einem Zeitungsmenschen gebracht. Sein Dasein spielte sich um das Romanische Café und dessen Nebenstraßen ab, wo er versuchte, Neuigkeiten aufzuschnappen, die längst keine mehr waren. Dazu wohnte er in einer Fremdenpension und seine bescheidenen finanziellen Mittel schränkten auch seine Frauenbekanntschaften ein. Er war ein Niemand, der eigentlich Benno Meyer hieß und seine belanglosen Texte für die Zeitungen mit B.M. unterschrieb.
Als nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten seine berufliche Tätigkeit als jüdischer Journalist immer schwieriger wird, reift in ihm der Entschluss, nach Paris überzusiedeln, wo man vielleicht noch den Wert von Literatur schätzt. Auf der Reise knüpft er im Zug verschiedene Kontakte und macht in Straßburg einen Zwischenstopp. Bei der Anfahrt erblickt er einen silbernen Sportwagen, in dem eine Dame sitzt, die ihm irgendwie vertraut erscheint. Später wird er ihr immer wieder begegnen. Schließlich ist Paris erreicht, wo B.M. das „Comité des Délégations Juives“ aufsuchen will, eine politische Organisation zur Vertretung jüdischer Interessen in Europa.
Zunächst will er jedoch das Pariser Pflaster unter seinen Füßen spüren – wie damals, als er als „junger Dachs“ schon ein paar Monate in Paris gewesen war. Er schlendert durch die Seine-Metropole, er beobachtet die Angler, die schon am frühen Vormittag ihr Glück versuchen, einige ältere Herren, die in einem Pavillon Schach spielen, oder die Kinder, die auf der großen Fontaine in den Tuilerien ihre Schiffchen schwimmen lassen, die gepflegten Blumenbeete, die Kastanien in ihrem Grün und überall die Bric-à-brac-Geschäfte, die Place de la Concorde, die Place de l’Étoile mit dem Arc de Triomphe. Unwillkürlich kommen da Gedanken an Victor Hugo, Marcel Proust oder die französischen Impressionisten auf: „Dass die Leute hier Romane schreiben können, versteht man; dass sie hier malen können, begreift man …“.
B.M. lässt sich treiben. Das ist sein Paris von einst. Aber dann ist er müde. Auf einer Bank fängt er an zu träumen. Plötzlich taucht der silberblitzende Rennwagen auf und rast ihm entgegen. Der letzte Teil des Romans spielt dann auf einem Polizeirevier, wo über einen in B.M.s phantastischer Wahrnehmung stattgefundenen Unfall ermittelt wird. In den Ermittlungen des „Generalkommissars“ wird Madame Estelle, die vermeintliche Dame aus dem Sportwagen, zur Hauptprotagonistin, die Rechenschaft über ihre Vergangenheit ablegt.
Der Roman lässt sich nicht in ein bestimmtes Genre einordnen; er vereint die Realität der 1930er Jahre mit phantastischen Elementen und den profunden Kunstkenntnissen des oft ironisierenden Erzählers. In seinem umfangreichen Nachwort beleuchtet der Edition-Herausgeber Christian Klein zunächst Hermanns Exil in Holland, ehe er einige Informationen zur Entstehung und Erzählstruktur (mit einigen Auszügen) des Romans sowie zur Resonanz nach seinem Erscheinen vermittelt. Besonderes Gewicht hatte dabei eine positive Rezension von Alfred Döblin im Pariser Tageblatt vom 1. März 1936. Trotz dieser Wertschätzung blieb der große Erfolg jedoch aus. Die Wallstein-Neuerscheinung basiert auf der Textgrundlage der Erstausgabe des Romans, die gleichzeitig die einzige war, die bis heute veröffentlicht wurde. Durchgängig orthographische und grammatikalische Eigenheiten des Autors wurden übernommen, daher im Titel auch „Fussgänger“.
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