Schmutzige Spiele

Nach sechs Jahren legt Elisabeth Herrmann mit „Stimme der Toten“ eine Fortsetzung zu ihrem Erfolgsroman „Zeugin der Toten“ vor

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Judith Kepler ist Cleanerin. Sie reinigt Tatorte, wenn die Polizei alle verwertbaren Spuren gesichert hat. Dazu braucht es nicht nur ruhige Nerven, sondern hin und wieder auch eine Fingerspitze Mentholpaste unter der Nase. Mit Zeugin der Toten hat die Berliner Autorin Elisabeth Herrmann 2011 den ersten Roman über diese Frau mit der ebenso geheimnisvollen wie tragischen DDR-Vergangenheit geschrieben. Sechs Jahre später legt sie nun die Fortsetzung der als Trilogie geplanten Reihe vor: Stimme der Toten. Und wieder fängt alles an einem Tatort an, zu dem Herrmanns Heldin gerufen wird, um zu beseitigen, was nach dem Abtransport einer männlichen Leiche das Empfinden noch stört.

Es sieht alles nach einem Selbstmord aus, als Judith ihre Werkzeuge in der Berliner Dependance einer Liechtensteiner Bank auspackt. Nur die Blutspuren an der Unterseite eines Waschbeckens in der Toilette, die sie entdeckt, sprechen dagegen. Dass sie der aus dem obersten Stock hinunter ins Atrium der Bank gestürzte Angestellte selbst dort hinterlassen hat, ist ausgeschlossen. Aber niemand sonst war nach dem Auffinden der Leiche an den bewachten Tatort herangekommen. Also doch nicht die Verzweiflungstat eines in Beruf und Ehe gescheiterten Depressiven, sondern ein kaltblütiger Mord?

Judith Kepler macht Eindruck auf den schnell eingeflogenen Chefbanker Adolf Harras –„einer von den Ackermännern und Winterkörnern“. Und so kann sich ihr Arbeitgeber Klaus-Rüder Dombrowski von „Dombrowski Facility Management“ bald über einen neuen, gut dotierten Reinigungsauftrag freuen. Unter Judiths Leitung – so hat sich das Bankoberhaupt das ausbedungen– soll in den späten Abendstunden jedes Tages die Berliner CHL-Filiale nun von Dombrowskis Leuten auf Vordermann gebracht werden. Dass Judith damit in eine Position kommt, die sie für Leute interessant werden lässt, für die bereits der tote Banker tätig war, ahnt sie zu diesem Zeitpunkt nicht.

Wer Zeugin der Toten gelesen hat – für alle, denen Judith Kepler in Stimme der Toten zum ersten Mal begegnet, hat die Autorin ein paar informierende Rückblicke arrangiert –, weiß um Keplers Vorgeschichte. Nach dem gewaltsamen Tod ihrer für die Stasi tätigen Eltern in einem Kinderheim auf Rügen groß geworden, später, dem Heim und seinen sadistischen Erzieherinnen entkommen, sozial abgestürzt und obdachlos, bis sie bei dem Geschäftsmann Dombrowski landete, bei ihm Arbeit und Halt und in ihm eine Art neuen Vater fand, spielte ihr ein Zufall 20 Jahre nach der Wende Dokumente in die Hand, die sie noch einmal mit der Vergangenheit ihrer Familie konfrontierten. Die lässt sie auch im neuen Roman nicht los, denn mit dem russischen Agenten Bastide Larcan tritt plötzlich ein Mann an sie heran, der mehr über sie zu wissen scheint, als ein an den vergangenen Geschehnissen Unbeteiligter wissen kann.  

Und schon steckt Kepler wieder bis zum Hals in einer Affäre, die sie nicht nur Kopf und Kragen kosten kann, sondern die junge Frau auch erneut mit den Traumata ihrer Vergangenheit konfrontiert. Denn Judith hat begonnen, sich für ein Mädchen aus der Nachbarschaft zu engagieren, die neunjährige Tabea. Ihre Sorge um das Wohl dieses Kindes, das sie natürlich an ihre eigene Verlorenheit in diesem Alter erinnert, führt sie in das Dörfchen Schenken in Mecklenburg-Vorpommern, das Neonazis zu einer so genannten „national befreiten Zone“ gemacht haben. Aus dieser Parallelgesellschaft mit offen gelebter faschistischer Ideologie, in der sich auch Tabeas Vater niedergelassen hat, dem das Kind nach dem Tod seiner Mutter vom Jugendamt vorerst anvertraut wurde, will Judith die Kleine so schnell wie möglich wieder herausholen. Doch dazu benötigt sie Geld, was dazu führt, dass sie sich auf den gefährlichen Deal des russischen Geheimdienstes, mithilfe von gehackten Bankkonten der CHL deutsche Politiker zu diskreditieren und damit die europäische Zusammenarbeit zu destabilisieren, einlassen muss.  

Seit ihrem Erstling Das Kindermädchen (2005) hat die in Berlin lebende Elisabeth Herrmann eine beachtliche Reihe von Kriminal-, Jugend- und historischen Romanen vorgelegt. Hinzu kommen Hörspiele und Drehbücher, da ihre Kriminalromane um den Berliner Anwalt Joachim Vernau, die Polizistin Sanela Beara und die Tatortreinigerin Judith Kepler inzwischen auch fast alle unter ihrer Mitarbeit für das Fernsehen verfilmt wurden. Bereits mit ihrem Krimidebüt landete die Autorin 2005 auf einem der vorderen Plätze der renommierten Krimiwelt-Bestenliste. 2006 erhielt sie den Bremer Krimipreis, Zeugin der Toten schließlich kam auf den dritten Platz/national beim Deutschen Krimipreis 2012. Herrmanns Bücher landen mit schöner Regelmäßigkeit auf den Bestsellerlisten. Ihre Lesergemeinde wächst von Jahr zu Jahr.

Auch Stimme der Toten steht seinen Vorgängern in nichts nach. Elisabeth Herrmann erzählt ihre Geschichte routiniert und durchgängig fesselnd. Eine ganz neue Qualität haben ihre treffenden Personenbeschreibungen erreicht. Der Roman bezieht höchst aktuelle – und außerordentlich bedenkliche – Entwicklungen mit ein. „National befreite Zonen“ wie die im fiktiven Schenken gibt es im Osten Deutschlands tatsächlich und auch die Manipulation von Bankdaten durch Hacker, an der sich Judith beteiligen soll, hat ein Vorbild, nämlich die so genannte Clearstream-Affäre aus den Jahren 2004 bis 2006. Viel Raum lässt die Berliner Autorin für eine weitere Fortsetzung der Abenteuer ihrer Heldin. Sowohl die Episode um Tabea und ihren Vater als auch Judiths Annäherung an ihre eigene Geschichte besitzen noch offene Enden. Allein die Recherche zu den Lebensbedingungen und -umständen in der DDR verdiente noch ein bisschen mehr Genauigkeit. Mit den beiden Hauptdarstellern der nach ihren Romanen gedrehten Fernsehfilme – Jan Josef Liefers und Anna Loos – besitzt Herrmann freilich kompetente Ansprechpartner, was diese Probleme in Zukunft betrifft.

Titelbild

Elisabeth Herrmann: Stimme der Toten. Kriminalroman.
Goldmann Verlag, München 2017.
540 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783442313914

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