Risse in der Fassade

André Hille schildert in seinem Debütroman „Das Rauschen der Nacht“, wie ein ichbezogener Journalist nicht nur als Firmengründer scheitert

Von Rainer RönschRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rainer Rönsch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Jonas, knapp vierzig, stammt aus Rathenow in Ostdeutschland und hat in Hamburg als Journalist gearbeitet. Als die Werbeeinnahmen, Auflagen und Zeilenhonorare der Zeitungen zurückgingen, gründete er ein Startup-Unternehmen. Über ein Online-Abonnementssystem können freiwillige Spender kleinste Beträge an unabhängige Journalisten und Blogger überweisen. Rechnen soll sich das Unternehmen durch eine Provision von jedem Spendenbetrag.

Der Icherzähler in André Hilles Debütroman Das Rauschen der Nacht ist ängstlich und unentschlossen. Er kann gut formulieren und beeindruckende Metaphern ersinnen – wie die über Berlin: „die alte, schmutzige Bekannte, in einem speckigen Mantel und mit Läusen, mit einem faltigen Gesicht, mit dreckigen Fingernägeln und zerlatschten Lederschuhen, aber mit einem verschmitzten Lächeln und einer Energie im Blick, der man umgehend verfiel“. Warum bleibt jemand mit dieser Begabung nicht Journalist, um eines Tages zu einer „Edelfeder“ zu werden?

Aber nein, es musste ein Start-up sein. Jonas war mal linker Student und hat größte Schwierigkeiten, sich die Denk- und Sprechweise von Unternehmern anzueignen. Außer der Idee für die Bezahlplattform bringt er nichts in die Firma ein, weder Geld noch kommerzielle Erfahrungen oder unternehmerische Härte. Die Abmachung mit seinem Partner lautet: Jonas macht die Arbeit, Toni gibt das Geld, darunter das Gehalt für den Geschäftsführer Jonas. Nach drei Jahren ohne Gewinn will Toni die Firma verlassen.

Jonas sucht nach neuen Geldgebern. Einer würde in die Firma investieren, falls Jonas mindestens 30.000 € einbringt. Die Schwiegereltern haben das Grundstück fürs neue Haus bezahlt und Geld für ein Auto geliehen, nun ist Schluss. Jonas‘ Frau Birte verdient nicht schlecht mit dem Verfassen hohler pseudopsychologischer Ratschläge. Doch diese Arbeit widert sie an, und sie ist zum dritten Mal schwanger. In seiner Hilflosigkeit zieht Jonas eine betrügerische Bürgschaft seines mittellosen Vaters in Betracht und würde sich vielleicht sogar einem Kredithai ausliefern, der mehr als 13 % Zinsen pro Jahr nimmt.

Hinzu kommt die bedrückende Sorge ums neue Haus. Das haben sich Birte und Jonas für die vierköpfige Familie bauen lassen, als sie von Hamburg aufs Land gezogen sind. Schon nach kurzer Zeit zeigen sich Risse in der Fassade, und ein Baugewerk schiebt die Schuld aufs andere. Es sind langwierige Rechtsstreitigkeiten zu erwarten und kostspielige Gutachten und Gegengutachten zu bezahlen. Wenn nicht bald etwas geschieht, kann das Haus einstürzen.

Die Risse in der Fassade stehen symbolisch für die Bedrohungen, die sich vor Jonas beruflich und privat auftürmen. Er ist ihnen nicht gewachsen und verliert sich in angstvolle Träume, Erinnerungen und Gedanken. Das Gefühl, permanent im Zustand des Unfertigen zu leben, kann er zwar gut beschreiben, aber nicht überwinden. Bei einem Vortrag vor potentiellen Geldgebern in Berlin packt ihn panikartiges Lampenfieber. In der ersten Reihe sitzt überraschend Frieda, die Grafikerin seiner Firma, und macht ihm Mut. Sie wohnt in Berlin, Jonas verbringt die Nacht mit ihr und fühlt sich nur noch bei ihr zu Hause – eine Affäre als billiger „Ausweg“ aus allen Schwierigkeiten. Überraschen kann das nicht, denn der sonst so ausufernd formulierende Jonas beschreibt seine Frau knapp und kühl. An Frieda fasziniert ihn, wie hemmungslos sie isst und liebt und sich über Konventionen hinwegsetzt.

Das Ende kommt rasch und hässlich. Birte muss wegen einer Problemschwangerschaft ins Krankenhaus und hat vorher Anzeichen für Jonas‘ Affäre in Berlin gefunden. Jonas macht Schluss mit Frieda. Schon lange hat er die außereheliche Beziehung als zerstörerisch empfunden, sich jedoch, lasch wie er ist, einen Aufschub gewährt. Frieda weiß, dass sie nach zwei Wochen über die Trennung hinweg sein wird. Als Jonas nach Hause kommt, ist Birte nach einer Eileiterschwangerschaft mit den nur zwei Kindern zu ihren Eltern geflüchtet. Jonas sei ihr fremd geworden, hat sie ihm aufgeschrieben, und die Heizung sei kaputt. Jonas steigt aus der Firma aus, jemand kauft ihm seine Firmenanteile ab. Nun hat er ein paartausend Euro – und sonst nichts mehr.

Schwache Menschen können als Protagonisten den Leser fesseln, wenn sie kämpfen. Scheitern ist keine Schande. Der wortreiche und tatenarme Jonas aber, bei dem sich fast alles um die eigene Befindlichkeit dreht, bleibt einem fremd.

Titelbild

André Hille: Das Rauschen der Nacht. Roman.
Blessing Verlag, München 2020.
256 Seiten , 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783896676542

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