Schuld und Sühne

In ihrem Buch „Krebs fühlen“ blickt Bettina Hitzer auf die Emotionsgeschichte einer oft tödlichen Krankheit

Von Erkan OsmanovićRSS-Newsfeed neuer Artikel von Erkan Osmanović

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Für viele Menschen ist es mehr Urteil als Krankheit – Krebs. Mehr als das Ergebnis einer abnormen Zellteilung. Mehr als Schmerzen. Krebs, das bedeutet: Verzweiflung, Angst, Scham, Schuldgefühle, aber auch Hoffnung. „Den Krebs besiegen“, „Den Kampf nicht verlieren“ oder „Um sein Leben kämpfen“. Wer kennt diese Aussagen nicht. Egal, ob im Freundeskreis oder in den Medien. Krebs fühlt sich zwar an wie ein Urteil, aber wir erwarten nicht mehr zwangsläufig den Tod – und Scham- und Schuldgefühle sind nicht mehr direkt mit der Diagnose verbunden. Doch es war nicht immer so. Unsere emotionale Bewertung von Krebs ist nur die Momentaufnahme eines Diskussionsprozesses.

Die Historikerin Bettina Hitzer interessiert sich genau dafür. In ihrem Buch Krebs fühlen blickt sie auf die Diagnose und Therapie von Krebs. Aber es geht nicht allein um den medizinischen Aspekt, vielmehr stellt sie die Frage, wie eine Gesellschaft mit der Erkrankung umgeht. Welche Rolle und Verantwortung kommt dem Einzelnen zu? In ihrer „Emotionsgeschichte des 20. Jahrhunderts“ zeigt Hitzer, wie es dazu kam, dass heute auch die Gefühle von KrebspatientInnen und ihren Angehörigen – zumindest in der Theorie – ernst genommen werden. Hinzu kommt noch eine Verschiebung des Therapieziels: In der Vergangenheit wollte die Medizin Krebskranken ein längeres Leben ermöglichen, nun steht die Qualität des Lebens im Fokus – die PatientInnen sollen trotz Chemotherapie, chirurgischen Eingriffen und Medikamenten ein gutes Leben führen.

Krebs fühlen konzentriert sich auf die Emotionsgeschichte von Krebs in Deutschland und ist chronologisch aufgebaut. Hitzer arbeitet nicht nur die diversen Krebsdiskurse vom Ende des 19. Jahrhunderts bis in die jüngste Vergangenheit heraus, sondern zeigt auch, wie sich Umgang mit und Wahrnehmung von Krebs verändert haben. Die zeitlich geordnete Struktur macht auf den ersten Blick klar, wie die Diagnose Krebs immer auch verknüpft war und ist mit Angst, Schuld, Scham, aber auch Hoffnung – wobei letzteres erst in der Nachkriegszeit Eingang in das Fühlen der Betroffenen fand. Am Anfang des 20. Jahrhunderts stand Krebs noch allein im Zeichen der Angst. Das sollte sich in der Weimarer Zeit nicht groß ändern, allerdings kam nun der Gedanke der selbstverantwortlichen Prophylaxe auf: Wer seinen Körper nicht beobachtete oder Symptome übersah, war schuld, wenn die Krankheit zu spät erkannt wurde, und ohne Früherkennung galt eine Heilung als kaum möglich.

Auch im Nationalsozialismus wurden KrebspatientInnen durch Emotionen wie Schuld und Angst gelenkt und zur Selbstbeobachtung ihrer Körper gedrängt. Dabei nahm die Last für den Einzelnen neue Dimensionen an. Denn im „Dritten Reich“‘ war ein bösartiger Tumor ein Zeichen der Schande und Niederlage: Einerseits hatten Krebspatientinnen zu wenig auf ihre Gesundheit geachtet, andererseits vergingen sie sich durch ihre Krankheit am „Volkskörper“. Daher war es auch keine Überraschung, dass die NationalsozialistInnen KrebspatientInnen medizinisch schlecht versorgten und als „Schuldige“ in der Gesellschaft ausgrenzten.

Trotz der stellenweise akademischen Sprache gelingt es Hitzer, neben dem Wandel der Emotionen auch die zwiespältige Rolle der Vorsorgeuntersuchung leicht verständlich aufzuzeigen. Denn mit dem Aufkommen der Krebs-Prophylaxe kam auch ein Diskurs über Scham- und Schuldgefühle auf. Wer nicht zur Vorsorge ging, der trug auch die Schuld am Krebs:

In der Bundesrepublik gewann die Früherkennung von Krebs erst im Laufe der 1960er Jahre Gewicht. Die bundesdeutsche „Vorsorge“ wurde im Unterschied zur sozialistischen „Prophylaxe“ als Teil der individuellen Verantwortung des Bürgers definiert und in die Hände der niedergelassenen Ärzte und Krankenkassen gelegt. Aus dieser Richtungsentscheidung folgten Strategien, die an die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gebrauchten Formen der Moralisierung anknüpften. Allerdings nahm die Moralisierung deutlicher paternalistische Züge an, der mahnend erhobene Zeigefinger des Arztes wurde zum beliebten Symbol. Ähnlich wie in der DDR verschwanden Bilder der Krankheit zunehmend aus den Früherkennungskampagnen. Sie wurden ersetzt durch Bilder des familiären Glückes – nicht des solidarischen Optimismus. Auch hier blieb Angst der visuell und sprachlich vermiedene Subtext. Dennoch ging es nicht nur um eine Auswechslung der emotionalen Oberfläche: Früherkennung sollte von einer Technik zur Abwendung von Krankheitsgefahr umdefiniert werden in eine Technik zur Herstellung von Gesundheit und Wohlbefinden. Plausibel erschien diese Verschiebung auch deshalb, weil der symptomlose Körper immer stärker ins Visier genommen wurde.

Das Gefährliche des Vorsorgedankens zeigte sich besonders in der Nachkriegszeit: Kann jeder Krebs bekommen? Was für eine Rolle spielt die Psyche eines Menschen? Gibt es so etwas wie  „Krebspersönlichkeiten“? „Krebspersönlichkeiten“ sind ein Phänomen, das Hitzer genau ausleuchtet und dessen Wurzeln sie bei Heidelberger und Berliner Psychosomatikern der 1930er findet. Das Konzept sieht, inzwischen medizinisch nicht mehr haltbar, Emotionen als Hauptursache von Tumorerkrankungen: Zu viel Emotionen und Stress, aber auch der falsche Umgang mit ihnen führe zu bösartigen Tumoren. Das Konzept macht zwar auf das Zusammenspiel von Emotionen und Krebs aufmerksam, allerdings macht es die Betroffenen und ihren Umgang mit Gefühlen zu den Hauptverantwortlichen der Krankheit und blendet Auslöser wie Genetik oder Umweltbelastungen aus. Erst in den 1990er Jahren kommt es zu einem Wandel. Das Potential von positiven Gefühlen auf Krebserkrankungen hält Einzug in den Universitäten und auch die Psychosomatik entfernt sich immer mehr von ihrem Schuld- und Schamdiskurs. Bettina Hitzers Ansatz einer Emotionsgeschichte bietet somit erhellende Einsichten in den tieferen gesellschaftlichen Diskurs über eine Krankheit, die noch immer viele beschäftigt.

Titelbild

Bettina Hitzer: Krebs fühlen. Eine Emotionsgeschichte des 20. Jahrhunderts.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2020.
540 Seiten , 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783608964592

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