Schauplatz einer Dreieinigkeit aus Erotik, Theologie und Ökonomie

Jochen Hörisch erschließt Richard Wagners musisches Theorie-Theater

Von Axel SchmittRSS-Newsfeed neuer Artikel von Axel Schmitt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Richard Wagner war zweifelsohne einer der schillerndsten deutschen Komponisten, Dramatiker, Schriftsteller, Theaterregisseure und Dirigenten. Sein Musiktheater gilt bis heute als eine der wichtigsten kulturellen Neuerungen im Europa des 19. Jahrhunderts, auch wenn es wie kein zweites polarisiert und Zeitgenossen wie Nachfahren zu den unterschiedlichsten Reaktionen provoziert hat. Man könnte geneigt sein zu glauben, dass mittlerweile jeder Winkel des Wagnerʼschen Schaffens hinreichend ausgeleuchtet, jede Note und jede Äußerung zum „großen Gesamtkunstwerk“, in dem die Spartentrennung im Theater zugunsten eines Zusammenwirkens verschiedener Künste wie Musik, Schauspielerei und Dichtung aufgehoben werden soll, erschöpfend analysiert ist.

Doch weit gefehlt. Übersehen wurde bisher ein anderer Wagner: der von der Theorie- und Musik-Lust Getriebene, dessen Musikdramen immer auch wundersame Erkenntnisdramen sind und der die Ansicht vertrat, dass sich die Oper auf einem Irrweg befinde, wenn sie die Musik absolut setze und ihr alle anderen Elemente, vor allem das Drama selbst, unterordne. Diesen Richard Wagner konnte man bisher lediglich in den Texten seines frühen Bewunderers, kongenialen Mitstreiters und späteren Widersachers Friedrich Nietzsche erkennen. Dieser sah 1876 in seiner Schrift Richard Wagner in Bayreuth dessen Ring des Nibelungen als avancierte tragische Kunst, als ein Musikdrama mit einer revolutionären Bühnenästhetik. Wagner war für ihn ein Zukunftsmusik schaffender Meister eines tragischen „Noch ein Mal“, und damit ein Lehrer für die „Menschen der Zukunft“, der in seiner Zeit schaffend eine neue Perspektive aufzeigt, die von ihren Niedergangstendenzen wegführt, dazu ermutigt, das eigene Schicksal willentlich in die Hand zu nehmen, und in diesem Tun einer tragischen Einsicht in das Leben zuarbeitet. Wagner war für Nietzsche der allzu lange vermisste Künstler, der die tragisch dionysische Lebensgestaltung instrumentieren und visualisieren kann und so den abgerissenen Faden zu den antiken Vorbildern wieder knüpft. Weil es Wagners Dichtung und Tonsprache gelinge, das Stumme zum Sprechen, Erzählen und Tönen zu bringen, sieht Nietzsche in ihm den „Meister“, der in der Musik eine Bildlichkeit erzeuge, die so erscheint, als sei sie ein Reflex ihres inneren Dranges – quasi eine der Musik inhärente Willensmanifestation, die wie selbstverständlich ihre eigene Poesie, Lyrik, Rhetorik und ihre Narration aus sich heraus schafft.

Hier setzt Jochen Hörisch, selbst Theoretiker der Literatur und der modernen Medien, in Zusammenarbeit mit dem Komponisten und Dirigenten Klaus Arp an, wenn er Loges dichte Alliteration „Weibes Wonne und Wert“ (aus Rheingold) zum Anlass nimmt, in Wagner den Theoretiker musikdramatischer Kunst zu entdecken, die sich gängigen Theorieformen entziehe. Überfällig sei der Versuch, den von Theoriesucht Getriebenen, den „Poeta doctus, den ambitionierten Theoretiker, den passionierten Debattierer Richard Wagner ernst zu nehmen, der auf Augenhöhe mit Philosophen wie Kant, Hegel, Feuerbach, Schopenhauer, Marx und Nietzsche Musikdramen komponierte und dem es dabei gelang, noch das auszudrücken, worüber andere Ausdrucksformen nur schweigen können.“ Mit Wagner gelingt es Hörisch zu zeigen, dass die gängige Suggestion, Musik sei ausschließlich Gefühlsangelegenheit und Emotionsäußerung, die dem Denken antithetisch gegenüberstehe, zu verabschieden ist. Geradezu obsessiv kreisen Wagners romantische Opern, Musikdramen, Essays und theoretische Abhandlungen ab 1850 nicht nur um Stimmungen, Emotionen und Affekte, sondern um „melodische Gedanken“ und Denkbilder, die sein Werk leitmotivisch durchziehen.

1850 veröffentlichte Wagner die Reformschrift Das Kunstwerk der Zukunft und provozierte mit seiner Utopie einer Vereinigung aller Künste im Musikdrama seine Zeitgenossen im etablierten Kunstbetrieb. Das Strukturmodell dieser Schrift basiert auf einem triadischen Geschichtsmodell, das die Zivilisation in die antike Kultur, die Moderne sowie in jene utopische Zukunftsgesellschaft einteilt, die im Kunstwerk der Zukunft antizipiert ist; programmatisch entwickelt er dabei seinen Begriff des Gesamtkunstwerks, das zum Kunstideal schlechthin wird. Die Synthese von Tanz, Ton- und Dichtkunst im Gesamtkunstwerk soll an das antike Ideal anknüpfen und die politische Utopie eines „Volkskunstwerks“, das er der Atomisierung der Einzelkünste entgegensetzt, propagieren. So, wie das griechische Individuum nahtlos in die Gemeinschaft integriert war, so soll das Volkskunstwerk für eine Lebensweise stehen, in der jegliche Zersplitterung überwunden ist. Wagner parallelisiert in seinem Rückgriff auf die antike Polisgemeinschaft die Ausdifferenzierung der Einzelkünste, nach dem Untergang der antiken Tragödie, mit der Atomisierung der Individuen in der modernen Gesellschaft. Hierbei werden wir an Nietzsches späte Semantik von Rausch, Tanz und Fest erinnert als Erregungszustände, in denen der Einzelne die Grenzen seiner Einzelheit ekstatisch transzendiert. Der höchste Auftrag von Wagners frühem Kunstideal ist die Rückführung des Einzelnen aus seiner gattungsmäßigen und gesellschaftlichen Isolation; das ist möglich, denn seiner Diagnose zufolge besitzt der menschliche Geist aus sich heraus den Drang, in die Totalität der Natur zurückzukehren, er will in sie eintauchen, um so die moderne, zerstörte Einheit, die ihn dissoziiert zurücklässt, wiederherzustellen.

Diese bereits hier hörbar werdenden Interdependenzen zwischen Musik, Literatur, Philosophie, Kunst und Religion greift Hörisch auf und verfolgt sie durch das weitere Werk Wagners. Wagners zündende Idee, die Hörisch in erhellenden Interpretationen der Musikdramen Wagners entwickelt, könnte kaum origineller klingen: Richard Wagner macht die Oper, die verlachteste, verrückteste und exzentrischste aller Künste, zum Schauplatz einer in der Moderne dreieinigen Konstellation aus Erotik, Theologie und Ökonomie, die „ausdifferenzierten wissenschaftlichen Diskursen wie der Psychologie, der Theologie und der Ökonomie intransparent bleiben muss“ und sich nur musikdramatisch erschließen lässt, da es eine musisch-instrumentale Sphäre der Bedeutsamkeit gibt, die aller sprachlichen Sinnsphäre, in der sich Wagners Libretti und ihre vokalen Elemente bewegen, vorausgeht. Richard Wagners Gesamtkunstwerk wird zum Ort von weit ausholenden und leitmotivisch vernetzten Theorien über Liebe und Tod, Werte und letzte Gründe, Geheimnisse und Rätsel, Unsagbares und Offenbares. In einzelnen Kapiteln zum Fliegenden Holländer, Parsifal, Tannhäuser, zur Walküre, zum Lohengrin, zu den Meistersingern sowie zu Tristan und Isolde geht es unter anderem um die Erlösungsbedürftigkeit von Menschen und Göttern, um den Zusammenhang von ökonomischen Erlösen und religiösen Erlösungsversprechen, um die Frage, ob Endlichkeit und Sterblichkeit eine Zumutung oder ein Geschenk sind, wann Führerfiguren Heils- und wann sie Unheilsbringer sind, wie Heterosexualität zu Männerbünden passt und warum Inzest ein ästhetisch unwiderstehliches Motiv ist.

Jochen Hörisch bietet in seinen luziden Analysen der Musikdramen und der in ihnen enthaltenen Denkbilder folgenreiche Einsichten für die weitere Beschäftigung mit Wagner. Dass Wagners Werk ein musikhistorisches Ereignis allererster Güte ist, konzedieren mittlerweile selbst diejenigen, deren musikalisches Interesse eher Mozart, Schubert oder Brahms gilt. Dass Wagner ein eigenwilliger, aber gewaltiger Sprachvirtuose war, haben nicht nur Nietzsche und Thomas Mann erkannt. Dass Wagner auch ein bedeutender Musiktheoretiker war, lässt sich kaum leugnen, zumal sein Verlangen, theoretisch Rechenschaft von seinem kompositorischen und dichterischen Tun abzulegen, deutlich stärker ausgeprägt ist als das Mozarts, Beethovens, Schuberts oder Verdis. Dass Wagner aber nicht „nur“ Komponist und Sprachkünstler, Musiktheoretiker und Festspielorganisator, Volksredner und Essayist war, der sich mitunter heftig vergriff, wie sein ebenso dummer wie entsetzlicher Antisemitismus belegt, sondern auch ambitionierter Denker, Intellektueller, Theoretiker und Philosoph war, ist eine wichtige Neuentdeckung, die Jochen Hörisch zu verdanken ist. Zurecht weist er darauf hin, dass Wagners Werk kein „geschlossenes Weltbild“ liefert, sondern „Denkbilder und Motivkonstellationen von rätselhafter, aber durchaus analytisch belastbarer Schönheit im Angebot“ hat. Klaus Arps meist kürzere musikanalytische Kommentare und die im Anhang beigefügten, insgesamt 90 teils längeren Notenbeispiele runden dieses einzigartige Lesevergnügen ab und geben auf eindrucksvolle Weise Zeugnis davon, dass Wagners Kunst in der Tat die Wahrheit des Satzes bezeugt, ohne Musik sei das Leben ein Irrtum, weil Musik höher und vernünftiger ist als alle Vernunft.

Titelbild

Jochen Hörisch: Weibes Wonne und Wert. Richard Wagners Theorie-Theater.
AB - Die andere Bibliothek, Berlin 2015.
503 Seiten, 42,00 EUR.
ISBN-13: 9783847703662

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